Von 1769 bis 1775

Fernere Einsicht ins Leben

[8] Ereignis, Leidenschaft, Genuß und Pein. Man fühlt die Notwendigkeit einer freiern Form und schlägt sich auf die englische Seite. So entstehen »Werther«, »Götz von Berlichingen«, »Egmont«. Bei einfacheren Gegenständen wendet man sich wieder zur beschränkteren Weise: »Clavigo«, »Stella«, »Erwin und Elmire«, »Claudine von Villa Bella«, beide letztere prosaischer Versuch, mit Gesängen durchwebt. Hieher gehören die Lieder an Belinden und Lili, deren manche so wie verschiedene Gelegenheitsstücke, Episteln und sonstige gesellige Scherze verlorengegangen.

Inzwischen geschehen kühnere Griffe in die tiefere Menschheit; es entsteht ein leidenschaftlicher Widerwille gegen mißleitende, beschränkte Theorien; man widersetzt sich dem Anpreisen falscher Muster. Alles dieses, und was daraus folgt, war tief und wahr empfunden, oft aber einseitig und ungerecht ausgesprochen. Nachstehende Produktionen:»Faust«, die Puppenspiele, »Prolog zu Bahrdt«, sind in diesem Sinne zu beurteilen; sie liegen jedermann vor Augen. Dagegen waren die Fragmente des »Ewigen Juden« und »Hanswursts Hochzeit« nicht mitzuteilen. Letzteres erschien darum heiter genug, weil die sämtlichen deutschen Schimpfnamen in ihren Charakteren persönlich auftraten. Mehreres dieser frechen Art ist verlorengegangen; »Götter, Helden und Wieland« erhalten.

Die Rezensionen in den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« von 1772 und 1773 geben einen vollständigen Begriff von dem damaligen Zustand unserer Gesellschaft und Persönlichkeit. Ein unbedingtes Bestreben, alle Begrenzungen zu durchbrechen, ist bemerkbar.

Die erste Schweizer Reise eröffnete mir mannigfaltigen Blick in die Welt; der Besuch in Weimar umschlang mich mit schönen Verhältnissen und drängte mich unversehens auf einen neuen, glücklichen Lebensgang.[8]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 16, Berlin 1960 ff, S. 8-9.
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