Dritter Auftritt

[48] IPHIGENIE allein.

Von dieses Mannes Rede fühl' ich mir

Zur ungelegnen Zeit das Herz im Busen

Auf einmal umgewendet. Ich erschrecke! –

Denn wie die Flut mit schnellen Strömen wachsend

Die Felsen überspült, die in dem Sand

Am Ufer liegen: so bedeckte ganz

Ein Freudenstrom mein Innerstes. Ich hielt

In meinen Armen das Unmögliche.

Es schien sich eine Wolke wieder sanft

Um mich zu legen, von der Erde mich

Emporzuheben und in jenen Schlummer

Mich einzuwiegen, den die gute Göttin

Um meine Schläfe legte, da ihr Arm

Mich rettend faßte. – Meinen Bruder

Ergriff das Herz mit einziger Gewalt:

Ich horchte nur auf seines Freundes Rat

Nur sie zu retten, drang die Seele vorwärts.

Und wie den Klippen einer wüsten Insel

Der Schiffer gern den Rücken wendet: so

Lag Tauris hinter mir. Nun hat die Stimme

Des treuen Manns mich wieder aufgeweckt,[48]

Daß ich auch Menschen hier verlasse, mich

Erinnert. Doppelt wird mir der Betrug

Verhaßt. O bleibe ruhig, meine Seele!

Beginnst du nun zu schwanken und zu zweifeln?

Den festen Boden deiner Einsamkeit

Mußt du verlassen! Wieder eingeschifft,

Ergreifen dich die Wellen schaukelnd, trüb

Und bang verkennest du die Welt und dich.


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 48-49.
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