Fünfter Auftritt

[53] IPHIGENIE allein.

Ich muß ihm folgen: denn die Meinigen

Seh' ich in dringender Gefahr. Doch ach!

Mein eigen Schicksal macht mir bang und bänger.

O soll ich nicht die stille Hoffnung retten,

Die in der Einsamkeit ich schön genährt?

Soll dieser Fluch denn ewig walten? Soll

Nie dies Geschlecht mit einem neuen Segen

Sich wieder heben? – Nimmt doch alles ab!

Das beste Glück, des Lebens schönste Kraft

Ermattet endlich! Warum nicht der Fluch?

So hofft' ich denn vergebens, hier verwahrt,

Von meines Hauses Schicksal abgeschieden,

Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen

Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen.

Kaum wird in meinen Armen mir ein Bruder

Vom grimm'gen Übel wundervoll und schnell

Geheilt, kaum naht ein lang' erflehtes Schiff,[53]

Mich in den Port der Vaterwelt zu leiten,

So legt die taube Not ein doppelt Laster

Mit ehrner Hand mir auf: das heilige,

Mir anvertraute, viel verehrte Bild

Zu rauben und den Mann zu hintergehn,

Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke.

O daß in meinem Busen nicht zuletzt

Ein Widerwillen keime! Der Titanen,

Der alten Götter tiefer Haß auf euch,

Olympier, nicht auch die zarte Brust

Mit Geierklauen fasse! Rettet mich

Und rettet euer Bild in meiner Seele!


Vor meinen Ohren tönt das alte Lied –

Vergessen hatt' ich's und vergaß es gern –,

Das Lied der Parzen, das sie grausend sangen,

Als Tantalus vom goldnen Stuhle fiel:

Sie litten mit dem edlen Freunde; grimmig

War ihre Brust, und furchtbar ihr Gesang.

In unsrer Jugend sang's die Amme mir

Und den Geschwistern vor, ich merkt' es wohl.


Es fürchte die Götter

Das Menschengeschlecht!

Sie halten die Herrschaft

In ewigen Händen,

Und können sie brauchen,

Wie's ihnen gefällt.


Der fürchte sie doppelt,

Den je sie erheben!

Auf Klippen und Wolken

Sind Stühle bereitet

Um goldene Tische.


Erhebet ein Zwist sich,

So stürzen die Gäste,

Geschmäht und geschändet,

In nächtliche Tiefen[54]

Und harren vergebens,

Im Finstern gebunden,

Gerechten Gerichtes.


Sie aber, sie bleiben

In ewigen Festen

An goldenen Tischen.

Sie schreiten vom Berge

Zu Bergen hinüber:

Aus Schlünden der Tiefe

Dampft ihnen der Atem

Erstickter Titanen,

Gleich Opfergerüchen,

Ein leichtes Gewölke.


Es wenden die Herrscher

Ihr segnendes Auge

Von ganzen Geschlechtern

Und meiden, im Enkel

Die ehmals geliebten,

Still redenden Züge

Des Ahnherrn zu sehn.


So sangen die Parzen;

Es horcht der Verbannte

In nächtlichen Höhlen,

Der Alte, die Lieder,

Denkt Kinder und Enkel

Und schüttelt das Haupt.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 53-55.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Iphigenie auf Tauris
Lektürehilfen Johann Wolfgang von Goethe
Iphigenie auf Tauris.
Iphigenie auf Tauris: Reclam XL - Text und Kontext
Klassische Schullektüre, Iphigenie auf Tauris
Iphigenie auf Tauris: Ein Schauspiel. Leipzig 1787 (Suhrkamp BasisBibliothek)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon