[208] Der höchste Charakter orientalischer Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist nennen, das Vorwaltende des oberen Leitenden; hier sind alle übrigen Eigenschaften vereinigt, ohne daß irgendeine, das eigentümliche Recht behauptend, hervorträte. Der Geist gehört vorzüglich dem Alter oder einer alternden Weltepoche. Übersicht des Weltwesens, Ironie, freien Gebrauch der Talente finden wir in allen Dichtern des Orients. Resultat und Prämisse wird uns zugleich geboten, deshalb sehen wir auch, wie großer Wert auf ein Wort aus dem Stegreife gelegt wird. Jene Dichter haben alle Gegenstände gegenwärtig und beziehen die entferntesten Dinge leicht aufeinander, daher nähern sie sich auch dem, was wir Witz nennen; doch steht der Witz nicht so hoch, denn dieser ist selbstsüchtig, selbstgefällig, wovon der Geist ganz frei bleibt, deshalb er auch überall genialisch genannt werden kann und muß.
Aber nicht der Dichter allein erfreut sich solcher Verdienste; die ganze Nation ist geistreich, wie aus unzähligen Anekdoten hervortritt. Durch ein geistreiches Wort wird der Zorn eines Fürsten erregt, durch ein anderes wieder besänftigt. Neigung und Leidenschaft leben und weben in gleichem Elemente; so er finden Behramgur und Dilaram den Reim, Dschemil und Boteinah bleiben bis ins höchste Alter leidenschaftlich verbunden. Die ganze Geschichte der persischen Dichtkunst wimmelt von solchen Fällen.
Wenn man bedenkt, daß Nuschirwan, einer der letzten Sassaniden, um die Zeit Mahomets mit ungeheuern Kosten die Fabeln des Bidpai und das Schachspiel aus Indien kommen läßt, so ist der Zustand einer solchen Zeit vollkommen ausgesprochen. Jene, nach dem zu urteilen, was uns überliefert ist, überbieten einander an Lebensklugheit und freieren Ansichten irdischer Dinge. Deshalb konnte vier Jahrhunderte später, selbst in der ersten, besten Epoche persischer Dichtkunst, keine vollkommen reine Naivetät stattfinden. Die[208] große Breite der Umsicht, die vom Dichter gefordert ward, das gesteigerte Wissen, die Hof- und Kriegsverhältnisse, alles verlangte große Besonnenheit.
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