Chiffer

[238] Eine andere Art aber, sich zu verständigen, ist geistreich und herzlich! Wenn bei der vorigen Ohr und Witz im Spiele war, so ist es hier ein zartliebender, ästhetischer Sinn, der sich der höchsten Dichtung gleichstellt.

Im Orient lernte man den Koran auswendig, und so gaben die Suren und Verse durch die mindeste Anspielung ein[238] leichtes Verständnis unter den Geübten. Das gleiche haben wir in Deutschland erlebt, wo vor funfzig Jahren die Erziehung dahin gerichtet war, die sämtlichen Heranwachsenden bibelfest zu machen; man lernte nicht allein bedeutende Sprüche auswendig, sondern erlangte zugleich von dem übrigen genugsame Kenntnis. Nun gab es mehrere Menschen, die eine große Fertigkeit hatten, auf alles, was vorkam, biblische Sprüche anzuwenden und die Heilige Schrift in der Konversation zu verbrauchen. Nicht zu leugnen ist, daß hieraus die witzigsten, anmutigsten Erwiderungen entstanden, wie denn noch heutigestags gewisse ewig anwendbare Hauptstellen hie und da im Gespräch vorkommen.

Gleicherweise bedient man sich klassischer Worte, wodurch wir Gefühl und Ereignis als ewig wiederkehrend bezeichnen und aussprechen.

Auch wir vor funfzig Jahren, als Jünglinge, die einheimischen Dichter verehrend, belebten das Gedächtnis durch ihre Schriften und erzeigten ihnen den schönsten Beifall, indem wir unsere Gedanken durch ihre gewählten und gebildeten Worte ausdrückten und dadurch eingestanden, daß sie besser als wir unser Innerstes zu entfalten gewußt.

Um aber zu unserm eigentlichen Zweck zu gelangen, erinnern wir an eine zwar wohlbekannte, aber doch immer geheimnisvolle Weise, sich in Chiffern mitzuteilen; wenn nämlich zwei Personen, die ein Buch verabreden und, indem sie Seiten- und Zeilenzahl zu einem Briefe verbinden, gewiß sind, daß der Empfänger mit geringem Bemühen den Sinn zusammenfinden werde.

Das Lied, welches wir mit der Rubrik Chiffer bezeichnet, will auf eine solche Verabredung hindeuten. Liebende werden einig, Hafisens Gedichte zum Werkzeug ihres Gefühlwechsels zu legen; sie bezeichnen Seite und Zeile, die ihren gegenwärtigen Zustand ausdrückt, und so entstehen zusammengeschriebene Lieder vom schönsten Ausdruck; herrliche zerstreute Stellen des unschätzbaren Dichters werden durch Leidenschaft und Gefühl verbunden, Neigung und Wahl verleihen[239] dem Ganzen ein inneres Leben, und die Entfernten finden ein tröstliches Ergeben, indem sie ihre Trauer mit Perlen seiner Worte schmücken.

Dir zu eröffnen

Mein Herz, verlangt mich;

Hört ich von deinem,

Darnach verlangt mich;

Wie blickt so traurig

Die Welt mich an.


In meinem Sinne

Wohnet mein Freund nur

Und sonsten keiner

Und keine Feindspur.

Wie Sonnenaufgang

Ward mir ein Vorsatz!


Mein Leben will ich

Nur zum Geschäfte

Von seiner Liebe

Von heut an machen.

Ich denke seiner,

Mir blutet 's Herz.


Kraft hab ich keine,

Als ihn zu lieben,

So recht im stillen.

Was soll das werden!

Will ihn umarmen

Und kann es nicht.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 238-240.
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