[219] Doch so verfänglich-allgemeiner Betrachtung wollen wir uns nicht hingeben, vielmehr in den Orient zurückwandern und schauen, wie die menschliche Natur, die immer unbezwinglich bleibt, sich dem äußersten Druck entgegensetzt; und da finden wir denn überall, daß der Frei- und Eigensinn der Einzelnen sich gegen die Allgewalt des Einen ins Gleichgewicht stellt; sie sind Sklaven, aber nicht unterworfen, sie erlauben sich Kühnheiten ohnegleichen. Bringen wir ein Beispiel aus den ältern Zeiten, begeben wir uns zu einem Abendgelag in das Zelt Alexanders, dort treffen wir ihn mit den Seinigen in lebhaften, heftigen, ja wilden Wechselreden.[219]
Clitus, Alexanders Milchbruder, Spiel- und Kriegsgefährte, verliert zwei Brüder im Felde, rettet dem König das Leben, zeigt sich als bedeutender General, treuer Statthalter wichtiger Provinzen. Die angemaßte Gottheit des Monarchen kann er nicht billigen; er hat ihn herankommen sehen, dienst- und hülfsbedürftig gekannt; einen innern hypochondrischen Widerwillen mag er nähren, seine Verdienste vielleicht zu hoch anschlagen.
Die Tischgespräche an Alexanders Tafel mögen immer von großer Bedeutung gewesen sein: alle Gäste waren tüchtige, gebildete Männer, alle zur Zeit des höchsten Rednerglanzes in Griechenland geboren. Gewöhnlich mochte man sich nüchternerweise bedeutende Probleme aufgeben, wählen oder zufällig ergreifen und solche sophistisch-rednerisch mit ziemlichem Bewußtsein gegeneinander behaupten. Wenn denn aber doch ein jeder die Partei verteidigte, der er zugetan war, Trunk und Leidenschaft sich wechselsweise steigerten, so mußte es zuletzt zu gewaltsamen Szenen hinauslaufen. Auf diesem Wege begegnen wir der Vermutung, daß der Brand von Persepolis nicht bloß aus einer rohen, absurden Völlerei entglommen sei, vielmehr aus einem solchen Tischgespräch aufgeflammt, wo die eine Partei behauptete, man müsse die Perser, da man sie einmal überwunden, auch nunmehr schonen, die andere aber, das schonungslose Verfahren der Asiaten in Zerstörung griechischer Tempel wieder vor die Seele der Gesellschaft führend, durch Steigerung des Wahnsinnes zu trunkener Wut, die alten königlichen Denkmale in Asche verwandelte. Daß Frauen mitgewirkt, welche immer die heftigsten, unversöhnlichsten Feinde der Feinde sind, macht unsere Vermutung noch wahrscheinlicher.
Sollte man jedoch hierüber noch einigermaßen zweifelhaft bleiben, so sind wir desto gewisser, was bei jenem Gelag, dessen wir zuerst erwähnten, tödlichen Zwiespalt veranlaßt habe; die Geschichte bewahrt es uns auf. Es war nämlich der immer sich wiederholende Streit zwischen dem Alter und der Jugend. Die Alten, auf deren Seite Clitus argumentierte,[220] konnten sich auf eine folgerechte Reihe von Taten berufen, die sie, dem König, dem Vaterland, dem einmal vorgesteckten Ziele getreu, unablässig mit Kraft und Weisheit ausgeführt. Die Jugend hingegen nahm zwar als bekannt an, daß das alles geschehen, daß viel getan worden und daß man wirklich an der Grenze von Indien sei; aber sie gab zu bedenken, wie viel zu tun noch übrigbliebe, erbot sich, das gleiche zu leisten, und eine glänzende Zukunft versprechend, wußte sie den Glanz geleisteter Taten zu verdunkeln. Daß der König sich auf diese Seite geschlagen, ist natürlich, denn bei ihm konnte vom Geschehenen nicht mehr die Rede sein. Clitus kehrte dagegen seinen heimlichen Unwillen heraus und wiederholte in des Königs Gegenwart Mißreden, die dem Fürsten, als hinter seinem Rücken gesprochen, schon früher zu Ohren gekommen. Alexander hielt sich bewundernswürdig zusammen, doch leider zu lange. Clitus verging sich grenzenlos in widerwärtigen Reden, bis der König aufsprang, den seine Nächsten zuerst festhielten und Clitus beiseite brachten. Dieser aber kehrt rasend mit neuen Schmähungen zurück, und Alexander stößt ihn, den Spieß von der Wache ergreifend, nieder.
Was darauf erfolgt, gehört nicht hierher, nur bemerken wir, daß die bitterste Klage des verzweifelnden Königs die Betrachtung enthält, er werde künftig, wie ein Tier im Walde, einsam leben, weil niemand in seiner Gegenwart ein freies Wort hervorzubringen wagen könne. Diese Rede, sie gehöre dem König oder dem Geschichtsschreiber, bestätigt dasjenige, was wir oben vermutet.
Noch im vorigen Jahrhunderte durfte man dem Kaiser von Persien bei Gastmahlen unverschämt widersprechen, zuletzt wurde denn freilich der überkühne Tischgenosse bei den Füßen weg und am Fürsten nah vorbei geschleppt, ob dieser ihn vielleicht begnadige. Geschah es nicht, hinaus mit ihm und zusammengehauen.
Wie grenzenlos hartnäckig und widersetzlich Günstlinge sich gegen den Kaiser betrugen, wird von glaubwürdigen[221] Geschichtsschreibern anekdotenweis überliefert. Der Monarch ist wie das Schicksal, unerbittlich, aber man trotzt ihm. Heftige Naturen verfallen darüber in eine Art Wahnsinn, wovon die wunderlichsten Beispiele vorgelegt werden könnten.
Der obersten Gewalt jedoch, von der alles herfließt, Wohltat und Pein, unterwerfen sich mäßige, feste, folgerechte Naturen, um nach ihrer Weise zu leben und zu wirken. Der Dichter aber hat am ersten Ursache, sich dem Höchsten, der sein Talent schätzt, zu widmen. Am Hof, im Umgange mit Großen, eröffnet sich ihm eine Weltübersicht, deren er bedarf, um zum Reichtum aller Stoffe zu gelangen. Hierin liegt nicht nur Entschuldigung, sondern Berechtigung zu schmeicheln, wie es dem Panegyristen zukommt, der sein Handwerk am besten ausübt, wenn er sich mit der Fülle des Stoffes bereichert, um Fürsten und Wesire, Mädchen und Knaben, Propheten und Heilige, ja zuletzt die Gottheit selbst, menschlicherweise überfüllt, auszuschmücken.
Auch unsern westlichen Dichter loben wir, daß er eine Welt von Putz und Pracht zusammengehäuft, um das Bild seiner Geliebten zu verherrlichen.
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