Kalifen

[187] Um aber in unsern eigensten Kreis zurückzukehren, wiederholen wir, daß die Sassaniden bei vierhundert Jahre regierten, vielleicht zuletzt nicht mit früherer Kraft und Glanz; doch hätten sie sich wohl noch eine Weile erhalten, wäre die Macht der Araber nicht dergestalt gewachsen, daß ihr zu widerstehen kein älteres Reich imstande war. Schon unter Omar, bald nach Mahomet, ging jene Dynastie zugrunde, welche die altpersische Religion gehegt und einen seltenen Grad der Kultur verbreitet hatte.

Die Araber stürmten sogleich auf alle Bücher los, nach ihrer Ansicht nur überflüssige oder schädliche Schreibereien; sie zerstörten alle Denkmale der Literatur, so daß kaum die geringsten Bruchstücke zu uns gelangen konnten. Die sogleich eingeführte arabische Sprache verhinderte jede Wiederherstellung dessen, was nationell heißen konnte. Doch auch hier überwog die Bildung des Überwundenen nach und nach die Roheit des Überwinders, und die mahometanischen Sieger gefielen sich in der Prachtliebe, den angenehmen Sitten und den dichterischen Resten der Besiegten. Daher bleibt noch immer als die glänzendste Epoche berühmt die Zeit, wo die Barmekiden Einfluß hatten zu Bagdad. Diese, von Balch abstammend, nicht sowohl selbst Mönche als Patrone und Beschützer großer Klöster und Bildungsanstalten, bewahrten unter sich das heilige Feuer der Dicht- und Redekunst und behaupteten durch ihre Weltklugheit und Charaktergröße einen hohen Rang auch in der politischen Sphäre. Die Zeit der Barmekiden heißt daher sprichwörtlich: eine Zeit lokalen, lebendigen Wesens und Wirkens, von der man, wenn sie[187] vorüber ist, nur hoffen kann, daß sie erst nach geraumen Jahren an fremden Orten unter ähnlichen Umständen vielleicht wieder aufquellen werde.

Aber auch das Kalifat war von kurzer Dauer; das ungeheure Reich erhielt sich kaum vierhundert Jahre; die entfernteren Statthalter machten sich nach und nach mehr und mehr unabhängig, indem sie den Kalifen als eine geistliche, Titel und Pfründen spendende Macht allenfalls gelten ließen.

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Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 187-188.
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