[296] Abgeschiedene, Mitlebende
Sich selbst genaue Rechenschaft zu geben, von wem wir auf unserem Lebens- und Studiengange dieses oder jenes gelernt, wie wir nicht allein durch Freunde und Genossen, sondern auch durch Widersacher und Feinde gefördert worden, ist eine schwierige, kaum zu lösende Aufgabe. Indessen fühl ich mich angetrieben, einige Männer zu nennen, denen ich besonderen Dank abzutragen schuldig bin.
Jones. Die Verdienste dieses Mannes sind so weltbekannt und an mehr als einem Orte umständlich gerühmt, daß mir nichts übrigbleibt, als nur im allgemeinen anzuerkennen, daß ich aus seinen Bemühungen von jeher möglichsten Vorteil zu ziehen gesucht habe; doch will ich eine Seite bezeichnen, von welcher er mir besonders merkwürdig geworden.[296]
Er, nach echter englischer Bildungsweise, in griechischer und lateinischer Literatur dergestalt gegründet, daß er nicht allein die Produkte derselben zu würdern, sondern auch selbst in diesen Sprachen zu arbeiten weiß, mit den europäischen Literaturen gleichfalls bekannt, in den orientalischen bewandert, erfreut er sich der doppelt schönen Gabe, einmal eine jede Nation in ihren eigensten Verdiensten zu schätzen, sodann aber das Schöne und Gute, worin sie sämtlich einander notwendig gleichen, überall aufzufinden.
Bei der Mitteilung seiner Einsichten jedoch findet er manche Schwierigkeit, vorzüglich stellt sich ihm die Vorliebe seiner Nation für alte klassische Literatur entgegen, und wenn man ihn genau beobachtet, so wird man leicht gewahr, daß er als ein kluger Mann das Unbekannte ans Bekannte, das Schätzenswerte an das Geschätzte anzuschließen sucht; er verschleiert seine Vorliebe für asiatische Dichtkunst und gibt mit gewandter Bescheidenheit meistens solche Beispiele, die er lateinischen und griechischen hochbelobten Gedichten gar wohl an die Seite stellen darf; er benutzt die rhythmischen antiken Formen, um die anmutigen Zartheiten des Orients auch Klassizisten eingänglich zu machen. Aber nicht allein von altertümlicher, sondern auch von patriotischer Seite mochte er viel Verdruß erlebt haben, ihn schmerzte Herabsetzung orientalischer Dichtkunst, welches deutlich hervorleuchtet aus dem hart-ironischen, nur zweiblättrigen Aufsatz: »Arabs, sive de Poësi Anglorum Dialogus«, am Schlusse seines Werkes »Über asiatische Dichtkunst«. Hier stellt er uns mit offenbarer Bitterkeit vor Augen, wie absurd sich Milton und Pope im orientalischen Gewand ausnähmen; woraus denn folgt, was auch wir so oft wiederholen, daß man jeden Dichter in seiner Sprache und im eigentümlichen Bezirk seiner Zeit und Sitten aufsuchen, kennen und schätzen müsse.
Eichhorn. Mit vergnüglicher Anerkennung bemerke ich, daß ich bei meinen gegenwärtigen Arbeiten noch dasselbe[297] Exemplar benutze, welches mir der hochverdiente Mann von seiner Ausgabe des Jonesschen Werks vor zweiundvierzig Jahren verehrte, als wir ihn noch unter die Unseren zählten und aus seinem Munde gar manches Heilsam-Belehrende vernahmen. Auch die ganze Zeit über bin ich seinem Lehrgange im stillen gefolgt, und in diesen letzten Tagen freute ich mich höchlich, abermals von seiner Hand das höchst wichtige Werk, das uns die Propheten und ihre Zustände aufklärt, vollendet zu erhalten. Denn was ist erfreulicher für den ruhig-verständigen Mann wie für den aufgeregten Dichter, als zu sehen, wie jene gottbegabten Männer mit hohem Geiste ihre bewegte Zeitumgebung betrachteten und auf das Wundersam-Bedenkliche, was vorging, strafend, warnend, tröstend und herzerhebend hindeuteten.
Mit diesem wenigen sei mein dankbarer Lebensbezug zu diesem würdigen Manne treulich ausgesprochen.
Lorsbach. Schuldigkeit ist es, hier auch des wackern Lorsbach zu gedenken. Er kam betagt in unsern Kreis, wo er in keinem Sinne für sich eine behagliche Lage fand; doch gab er mir gern über alles, worüber ich ihn befragte, treuen Bescheid, sobald es innerhalb der Grenze seiner Kenntnisse lag, die er oft mochte zu scharf gezogen haben.
Wundersam schien es mir anfangs, ihn als keinen sonderlichen Freund orientalischer Poesie zu finden; und doch geht es einem jeden auf ähnliche Weise, der auf irgendein Geschäft mit Vorliebe und Enthusiasmus Zeit und Kräfte verwendet und doch zuletzt eine gehoffte Ausbeute nicht zu finden glaubt. Und dann ist ja das Alter die Zeit, die des Genusses entbehrt, da wo ihn der Mensch am meisten verdiente. Sein Verstand und seine Redlichkeit waren gleich heiter, und ich erinnere mich der Stunden, die ich mit ihm zubrachte, immer mit Vergnügen.[298]
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