Fontenelles Lobrede auf Newton

[591] ausgezogen und mit Bemerkungen begleitet


»Zu gleicher Zeit, als Newton an seinem großen Werk der Prinzipien arbeitete, hatte er noch ein anderes unter Händen, das ebenso original und neu, weniger allgemein durch seinen Titel, aber durch die Manier, in welcher der Verfasser einen einzelnen Gegenstand zu behandeln sich vornahm, ebenso ausgebreitet werden sollte. Es ist die Optik, oder das Werk über Licht und Farbe, welches zum erstenmal 1704 erschien. Er hatte in dem Lauf von dreißig Jahren die Experimente angestellt, deren er bedurfte.«

In der Optik steht kein bedeutendes Experiment, das sich nicht schon in den Optischen Lektionen fände, ja in diesen steht manches, was in jener ausgelassen ward, weil es nicht[591] in die künstliche Darstellung paßte, an welcher Newton dreißig Jahre gearbeitet hat.

»Die Kunst, Versuche zu machen, in einem gewissen Grade, ist keinesweges gemein. Das geringste Faktum, das sich unsern Augen darbietet, ist aus so viel andern Fakten verwickelt, die es zusammensetzen oder bedingen, daß man ohne eine außerordentliche Gewandtheit nicht alles, was darin begriffen ist, entwickeln noch ohne vorzüglichen Scharfsinn vermuten kann, was alles darin begriffen sein dürfte. Man muß das Faktum, wovon die Rede ist, in so viel andre trennen, die abermals zusammengesetzt sind, und manchmal, wenn man seinen Weg nicht gut gewählt hätte, würde man sich in Irrgänge einlassen, aus welchen man keinen Ausgang fände. Die ursprünglichen und elementaren Fakta scheinen von der Natur mit so viel Sorgfalt wie die Ursachen versteckt worden zu sein; und gelangt man endlich dahin, sie zu sehen, so ist es ein ganz neues und überraschendes Schauspiel.«

Dieser Periode, der dem Sinne nach allen Beifall verdient, wenngleich die Art des Ausdrucks vielleicht eine nähere Bestimmung erfoderte, paßt auf Newton nur dem Vorurteil, keinesweges aber dem Verdienst nach: denn eben hier liegt der von uns erwiesene, von ihm begangene Hauptfehler, daß er das Phänomen in seine einfachen Elemente nicht zerlegt hat; welches doch bis auf einen gewissen Grad leicht gewesen wäre, da ihm die Erscheinungen, aus denen sein Spektrum zusammengesetzt wird, selbst nicht unbekannt waren.

»Der Gegenstand dieser Optik ist durchaus die Anatomie des Lichts. Dieser Ausdruck ist nicht zu kühn, es ist die Sache selbst.«

So weit war man nach und nach im Glauben gekommen! An die Stelle des Phänomens setzte man eine Erklärung; nun nannte man die Erklärung ein Faktum, und das Faktum gar zuletzt eine Sache.

Bei dem Streite mit Newton, da er ihn noch selbst führte, findet man, daß die Gegner seine Erklärung als Hypothese[592] behandelten; er aber glaubte, daß man sie als eine Theorie ja wohl gar ein Faktum nennen könnte, und nun macht sein Lobredner die Erklärung gar zur Sache!

»Ein sehr kleiner Lichtstrahl,«

Hier ist also der hypothetische Lichtstrahl: denn bei dem Experiment bleibt es immer das ganze Sonnenbild.

»den man in eine vollkommen dunkle Kammer hereinläßt,«

In jedem hellen Zimmer ist der Effekt ebenderselbe.

»der aber niemals so klein sein kann, daß er nicht noch eine unendliche Menge von Strahlen enthielte, wird geteilt, zerschnitten, so daß man nun die Elementarstrahlen hat,«

Man hat sie! und wohl gar als Sache!

»aus welchen er vorher zusammengesetzt war, die nun aber voneinander getrennt sind, jeder von einer andern Farbe gefärbt, die nach dieser Trennung nicht mehr verändert werden können. Das Weiße also war der gesamte Strahl vor seiner Trennung und entstand aus dem Gemisch aller dieser besondern Farben der primitiven Lichtstrahlen.«

Wie es sich mit diesen Redensarten verhalte, ist anderwärts genugsam gezeigt.

»Die Trennung dieser Strahlen war so schwer,«

Hinter die Schwierigkeit der Versuche steckt sich die ganze Newtonische Schule. Das, was an den Erscheinungen wahr und natürlich ist, läßt sich sehr leicht darstellen, was aber Newton zusammengekünstelt hat, um seine falsche Theorie zu beschönigen, ist nicht sowohl schwer, als beschwerlich (troublesome) darzustellen. Einiges, und gerade das Hauptsächlichste, ist sogar unmöglich. Die Trennung der farbigen Strahlen in sieben runde, völlig voneinander abstehende Bilder ist ein Märchen, das bloß als imaginäre Figur auf dem Papier steht und in der Wirklichkeit gar nicht darzustellen ist.

»daß Herr Mariotte, als er auf das erste Gerücht von Herrn Newtons Erfahrungen diese Versuche unternahm,«[593]

Ehe Mariotte seinen Traktat über die Farben herausgab, konnte er den Aufsatz in den Transaktionen recht gut gelesen haben.

»sie verfehlte, er, der so viel Genie für die Erfahrung hatte und dem es bei andern Gegenständen so sehr geglückt ist.«

Und so mußte der treffliche Mariotte, weil er das Hokuspokus, vor dem sich die übrigen Schulgläubigen beugten, als ein ehrlicher Mann, der Augen hatte, nicht anerkennen wollte, seinen wohlhergebrachten Ruf als guter Beobachter vor seiner eigenen Nation verlieren, den wir ihm denn hiermit auf das vollkommenste wiederherzustellen wünschen.

»Noch ein anderer Nutzen dieses Werks der Optik, so groß vielleicht als der, den man aus der großen Anzahl neuer Kenntnisse nehmen kann, womit man es angefüllt findet, ist, daß es ein vortreffliches Muster liefert der Kunst, sich in der Experimentalphilosophie zu benehmen.«

Was man sich unter Experimentalphilosophie gedacht, ist oben schon ausgeführt, so wie wir auch gehörigen Orts dargetan haben, daß man nie verkehrter zu Werke gegangen ist, um eine Theorie auf Experimente aufzubauen, oder, wenn man will, Experimente an eine Theorie anzuschließen.

»Will man die Natur durch Erfahrungen und Beobachtungen fragen, so muß man sie fragen wie Herr Newton, auf eine so gewandte und dringende Weise.«

Die Ausdrücke gewandt und dringend sind recht wohl angebracht, um die Newtonische künstliche Behandlungsweise auszudrücken. Die englischen Lobredner sprechen gar von nice experiments, welches Beiwort alles, was genau und streng, scharf, ja spitzfindig, behutsam, vorsichtig, bedenklich, gewissenhaft und pünktlich bis zur Übertreibung und Kleinlichkeit einschließt. Wir können aber ganz kühnlich sagen: die Experimente sind einseitig, man läßt den Zuschauer nicht alles sehen, am wenigsten das, worauf es eigentlich ankommt; sie sind unnötig umständlich, wodurch die Aufmerksamkeit zerstreut wird; sie sind kompliziert, wodurch[594] sie sich der Beurteilung entziehen, und also durchaus taschenspielerisch.

»Sachen, die sich fast der Untersuchung entziehen, weil sie zu subtil (déliées) sind,«

Hier haben wir schon wieder Sachen, und zwar so ganz feine, flüchtige, der Untersuchung entwischende Sachen!

»versteht er dem Kalkül zu unterwerfen, der nicht allein das Wissen guter Geometer verlangt, sondern, was mehr ist, eine besondre Geschicklichkeit.«

Nun, so wäre denn endlich die Untersuchung in die Geheimnisse der Mathematik gehüllt, damit doch ja niemand so leicht wage, sich diesem Heiligtum zu nähern.

»Die Anwendung, die er von seiner Geometrie macht, ist so fein, als seine Geometrie erhaben ist.«

Auf diesen rednerischen Schwung und Schwank brauchen wir nur so viel zu erwidern, daß die Hauptformeln dieser sublim feinen Geometrie nach Entdeckung der achromatischen Fernröhre falsch befunden und dafür allgemein anerkannt sind. Jene famose Messung und Berechnung des Farbenbildes, wodurch ihnen eine Art von Tonleiter angedichtet wird, ist von uns auch anderweit vernichtet worden, und es wird von ihr zum Überfluß noch im nächsten Artikel die Rede sein.

Quelle:
Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Band 1–24 und Erg.-Bände 1–3, Band 16, Zürich 1948 ff, S. 591-595.
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