[302] Obgleich bei der neuen Bearbeitung Hamlets manche Personen weggefallen waren, so blieb die Anzahl derselben doch immer noch groß genug, und fast wollte die Gesellschaft nicht hinreichen.
»Wenn das so fortgeht«, sagte Serlo, »wird unser Souffleur auch noch aus dem Loche hervorsteigen müssen, unter uns wandeln und zur Person werden.«
»Schon oft habe ich ihn an seiner Stelle bewundert«, versetzte Wilhelm.
»Ich glaube nicht, daß es einen vollkommenern Einhelfer gibt«, sagte Serlo. »Kein Zuschauer wird ihn jemals hören; wir auf dem Theater verstehen jede Silbe. Er hat sich gleichsam ein eigen Organ dazu gemacht und ist wie ein Genius, der uns in der Not vernehmlich zulispelt. Er fühlt, welchen Teil seiner Rolle der Schauspieler vollkommen innehat, und ahnet von weitem, wenn ihn das Gedächtnis verlassen will. In einigen Fällen, da ich die Rolle kaum überlesen konnte, da er sie mir Wort vor Wort vorsagte, spielte ich sie mit Glück; nur hat er Sonderbarkeiten, die jeden andern unbrauchbar machen würden: er nimmt so herzlichen Anteil an den Stücken, daß er pathetische Stellen nicht eben deklamiert, aber doch affektvoll rezitiert. Mit dieser Unart hat er mich mehr als einmal irregemacht.«
»So wie er mich«, sagte Aurelie, »mit einer andern Sonderbarkeit einst an einer sehr gefährlichen Stelle steckenließ.«[302]
»Wie war das bei seiner Aufmerksamkeit möglich?« fragte Wilhelm.
»Er wird«, versetzte Aurelie, »bei gewissen Stellen so gerührt, daß er heiße Tränen weint und einige Augenblicke ganz aus der Fassung kommt; und es sind eigentlich nicht die sogenannten rührenden Stellen, die ihn in diesen Zustand versetzen; es sind, wenn ich mich so ausdrücke, die schönen Stellen, aus welchen der reine Geist des Dichters gleichsam aus hellen, offenen Augen hervorsieht, Stellen, bei denen wir andern uns nur höchstens freuen, und worüber viele Tausende wegsehen.«
»Und warum erscheint er mit dieser zarten Seele nicht auf dem Theater?«
»Ein heiseres Organ und ein steifes Betragen schließen ihn von der Bühne, und seine hypochondrische Natur von der Gesellschaft aus«, versetzte Serlo. »Wieviel Mühe habe ich mir gegeben, ihn an mich zu gewöhnen! aber vergebens. Er liest vortrefflich, wie ich nicht wieder habe lesen hören; niemand hält wie er die zarte Grenzlinie zwischen Deklamation und affektvoller Rezitation.«
»Gefunden!« rief Wilhelm, »gefunden! Welch eine glückliche Entdeckung! Nun haben wir den Schauspieler, der uns die Stelle vom rauhen Pyrrhus rezitieren soll.«
»Man muß so viel Leidenschaft haben wie Sie«, versetzte Serlo, »um alles zu seinem Endzwecke zu nutzen.«
»Gewiß, ich war in der größten Sorge«, rief Wilhelm, »daß vielleicht diese Stelle wegbleiben müßte, und das ganze Stück würde dadurch gelähmt werden.«
»Das kann ich doch nicht einsehen«, versetzte Aurelie.
»Ich hoffe, Sie werden bald meiner Meinung sein«, sagte Wilhelm. »Shakespeare führt die ankommenden Schauspieler zu einem doppelten Endzweck herein. Erst macht der Mann, der den Tod des Priamus mit so viel eigner Rührung deklamiert, tiefen Eindruck auf den Prinzen selbst; er schärft das Gewissen des jungen, schwankenden Mannes: und so wird diese Szene das Präludium zu jener, in welcher das kleine Schauspiel so große Wirkung auf den König tut. Hamlet fühlt sich durch den Schauspieler beschämt, der an fremden, an fingierten Leiden so großen Teil nimmt;[303] und der Gedanke, auf eben die Weise einen Versuch auf das Gewissen seines Stiefvaters zu machen, wird dadurch bei ihm sogleich erregt. Welch ein herrlicher Monolog ist's, der den zweiten Akt schließt! Wie freue ich mich darauf, ihn zu rezitieren:
›O! welch ein Schurke, welch ein niedriger Sklave bin ich! – Ist es nicht ungeheuer, daß dieser Schauspieler hier nur durch Erdichtung, durch einen Traum von Leidenschaft, seine Seele so nach seinem Willen zwingt, daß ihre Wirkung sein ganzes Gesicht entfärbt: – Tränen im Auge! Verwirrung im Betragen! Gebrochene Stimme! Sein ganzes Wesen von einem Gefühl durchdrungen! und das alles um nichts! – um Hekuba! – Was ist Hekuba für ihn oder er für Hekuba, daß er um sie weinen sollte?‹«
»Wenn wir nur unsern Mann auf das Theater bringen können!« sagte Aurelie.
»Wir müssen«, versetzte Serlo, »ihn nach und nach hineinführen. Bei den Proben mag er die Stelle lesen, und wir sagen, daß wir einen Schauspieler, der sie spielen soll, erwarten, und so sehen wir, wie wir ihm näherkommen.«
Nachdem sie darüber einig waren, wendete sich das Gespräch auf den Geist. Wilhelm konnte sich nicht entschließen, die Rolle des lebenden Königs dem Pedanten zu überlassen, damit der Polterer den Geist spielen könne, und meinte vielmehr, daß man noch einige Zeit warten sollte, indem sich doch noch einige Schauspieler gemeldet hätten, und sich unter ihnen der rechte Mann finden könnte.
Man kann sich daher denken, wie verwundert Wilhelm war, als er unter der Adresse seines Theaternamens abends folgendes Billett mit wunderbaren Zügen versiegelt auf seinem Tische fand:
»Du bist, o sonderbarer Jüngling, wir wissen es, in großer Verlegenheit. Du findest kaum Menschen zu deinem Hamlet, geschweige Geister. Dein Eifer verdient ein Wunder; Wunder können wir nicht tun, aber etwas Wunderbares soll geschehen. Hast du Vertrauen, so soll zur rechten Stunde der Geist erscheinen! Habe Mut und bleibe gefaßt! Es bedarf keiner Antwort; dein Entschluß wird uns bekannt werden.«[304]
Mit diesem seltsamen Blatte eilte er zu Serlo zurück, der es las und wieder las und endlich mit bedenklicher Miene versicherte, die Sache sei von Wichtigkeit; man müsse wohl überlegen, ob man es wagen dürfe und könne. Sie sprachen vieles hin und wider; Aurelie war still und lächelte von Zeit zu Zeit, und als nach einigen Tagen wieder davon die Rede war, gab sie nicht undeutlich zu verstehen, daß sie es für einen Scherz von Serlo halte. Sie bat Wilhelmen, völlig außer Sorge zu sein und den Geist geduldig zu erwarten.
Überhaupt war Serlo von dem besten Humor; denn die abgehenden Schauspieler gaben sich alle mögliche Mühe, gut zu spielen, damit man sie ja recht vermissen sollte, und von der Neugierde auf die neue Gesellschaft konnte er auch die beste Einnahme erwarten.
Sogar hatte der Umgang Wilhelms auf ihn einigen Einfluß gehabt. Er fing an, mehr über Kunst zu sprechen, denn er war am Ende doch ein Deutscher, und diese Nation gibt sich gern Rechenschaft von dem, was sie tut. Wilhelm schrieb sich manche solche Unterredung auf, und wir werden, da die Erzählung hier nicht so oft unterbrochen werden darf, denjenigen unsrer Leser, die sich dafür interessieren, solche dramaturgische Versuche bei einer andern Gelegenheit vorlegen.
Besonders war Serlo eines Abends sehr lustig, als er von der Rolle des Polonius sprach, wie er sie zu fassen gedachte. »Ich verspreche«, sagte er, »diesmal einen recht würdigen Mann zum besten zu geben; ich werde die gehörige Ruhe und Sicherheit, Leerheit und Bedeutsamkeit, Annehmlichkeit und geschmackloses Wesen, Freiheit und Aufpassen, treuherzige Schalkheit und erlogene Wahrheit da, wo sie hingehören, recht zierlich aufstellen. Ich will einen solchen grauen, redlichen, ausdauernden, der Zeit dienenden Halbschelm aufs allerhöflichste vorstellen und vortragen, und dazu sollen mir die etwas rohen und groben Pinselstriche unsers Autors gute Dienste leisten. Ich will reden wie ein Buch, wenn ich mich vorbereitet habe, und wie ein Tor, wenn ich bei guter Laune bin. Ich werde abgeschmackt sein, um jedem nach dem Maule zu reden, und immer so fein, es nicht zu merken, wenn mich die Leute zum besten haben.[305] Nicht leicht habe ich eine Rolle mit solcher Lust und Schallheit übernommen.«
»Wenn ich nur auch von der meinigen so viel hoffen könnte«, sagte Aurelie. »Ich habe weder Jugend noch Weichheit genug, um mich in diesen Charakter zu finden. Nur eins weiß ich leider: das Gefühl, das Ophelien den Kopf verrückt, wird mich nicht verlassen.«
»Wir wollen es ja nicht so genau nehmen«, sagte Wilhelm; »denn eigentlich hat mein Wunsch, den Hamlet zu spielen, mich bei allem Studium des Stücks aufs äußerste irregeführt. Je mehr ich mich in die Rolle studiere, desto mehr sehe ich, daß in meiner ganzen Gestalt kein Zug der Physiognomie ist, wie Shakespeare seinen Hamlet aufstellt. Wenn ich es recht überlege, wie genau in der Rolle alles zusammenhängt, so getraue ich mir kaum, eine leidliche Wirkung hervorzubringen.«
»Sie treten mit großer Gewissenhaftigkeit in Ihre Laufbahn«, versetzte Serlo. »Der Schauspieler schickt sich in die Rolle, wie er kann, und die Rolle richtet sich nach ihm, wie sie muß. Wie hat aber Shakespeare seinen Hamlet vorgezeichnet? Ist er Ihnen denn so ganz unähnlich?«
»Zuvörderst ist Hamlet blond«, erwiderte Wilhelm.
»Das heiß' ich weit gesucht«, sagte Aurelie. »Woher schließen Sie das?«
»Als Däne, als Nordländer ist er blond von Hause aus und hat blaue Augen.«
»Sollte Shakespeare daran gedacht haben?«
»Bestimmt find' ich es nicht ausgedrückt, aber in Verbindung mit andern Stellen scheint es mir unwidersprechlich. Ihm wird das Fechten sauer, der Schweiß läuft ihm vom Gesichte, und die Königin spricht ›Er ist fett, laßt ihn zu Atem kommen.‹ Kann man sich ihn da anders als blond und wohlbehäglich vorstellen? denn braune Leute sind in ihrer Jugend selten in diesem Falle. Paßt nicht auch seine schwankende Melancholie, seine weiche Trauer, seine tätige Unentschlossenheit besser zu einer solchen Gestalt, als wenn Sie sich einen schlanken, braunlockigen Jüngling denken, von dem man mehr Entschlossenheit und Behendigkeit erwartet?«[306]
»Sie verderben mir die Imagination«, rief Aurelie, »weg mit Ihrem fetten Hamlet! stellen Sie uns ja nicht Ihren wohlbeleibten Prinzen vor! Geben Sie uns lieber irgendein Quiproquo, das uns reizt, das uns rührt. Die Intention des Autors liegt uns nicht so nahe als unser Vergnügen, und wir verlangen einen Reiz, der uns homogen ist.«
Ausgewählte Ausgaben von
Wilhelm Meisters Lehrjahre
|
Buchempfehlung
Der Erzähler findet das Tagebuch seines Urgroßvaters, der sich als Arzt im böhmischen Hinterland niedergelassen hatte und nach einem gescheiterten Selbstmordversuch begann, dieses Tagebuch zu schreiben. Stifter arbeitete gut zwei Jahrzehnte an dieser Erzählung, die er sein »Lieblingskind« nannte.
156 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro