[414] Eine vollkommene Stille schloß sich an diese lebhafte Bewegung der vergangenen Tage. Die drei Freunde blieben allein gegen einander über stehen, und es ward gar bald merkbar, daß zwei von ihnen, Lenardo und Friedrich, von einer sonderbaren Unruhe bewegt wurden; sie verbargen nicht, daß sie beide ungeduldig seien, für ihren Teil in der Abreise von diesem Ort sich gehindert zu sehen. Sie erwarteten einen Boten, hieß es, und es kam indessen nichts Vernünftiges, nichts Entscheidendes zur Sprache.
Endlich kommt der Bote, ein bedeutendes Paket überbringend, worüber sich Friedrich sogleich herwirft, um es zu eröffnen. Lenardo hält ihn ab und spricht: »Laß es unberührt, leg' es vor uns nieder auf den Tisch; wir wollen es ansehen, denken und vermuten, was es enthalten möge. Denn unser Schicksal ist seiner Bestimmung näher, und wenn wir nicht selbst Herren darüber sind, wenn es von dem Verstande, von den Empfindungen anderer abhängt, ein Ja oder Nein, ein So oder So zu erwarten ist, dann ziemt es, ruhig zu stehen, sich zu fassen, sich zu fragen, ob man es erdulden würde als wenn es ein sogenanntes Gottesurteil wäre, wo uns auferlegt ist, die Vernunft gefangenzunehmen.«
»Du bist nicht so gefaßt, als du scheinen willst«, versetzte Friedrich, »bleibe deswegen allein mit deinen Geheimnissen und schalte darüber nach Belieben, mich berühren sie auf alle Fälle nicht; aber laß mich indes diesem alten, geprüften Freunde den Inhalt offenbaren und die zweifelhaften Zustände vorlegen, die wir ihm schon so lange verheimlicht haben.« Mit diesen Worten riß er unsern Freund mit sich weg, und schon unterwegs rief er aus: »Sie ist gefunden, längst gefunden! und es ist nur die Frage, wie es mit ihr werden soll.«
»Das wußt' ich schon«, sagte Wilhelm, »denn Freunde offenbaren einander gerade das am deutlichsten, was sie einander verschweigen; die letzte Stelle des Tagebuchs, wo sich Lenardo gerade mitten im Gebirg des Briefes erinnert, den ich ihm schreib, rief mir in der Einbildungskraft im[414] ganzen Umgange des Geistes und Gefühls jenes gute Wesen hervor; ich sah ihn schon mit dem nächsten Morgen sich ihr nähern, sie anerkennen und was daraus mochte gefolgt sein. Da will ich denn aber aufrichtig gestehen, daß nicht Neugierde, sondern ein redlicher Anteil, den ich ihr gewidmet habe, mich Über euer Schweigen und Zurückhalten beunruhigte.«
»Und in diesem Sinne«, rief Friedrich, »bist du gerade bei diesem angekommenen Paket hauptsächlich mit interessiert; der Verfolg des Tagebuchs war an Makarien gesandt, und man wollte dir durch Erzählung das ernst-anmutige Ereignis nicht verkümmern. Nun sollst du's auch gleich haben; Lenardo hat gewiß indessen ausgepackt, und das braucht er nicht zu seiner Aufklärung.«
Friedrich sprang hiermit nach alter Art hinweg, sprang wieder herbei und brachte das versprochene Heft. »Nun muß ich aber auch erfahren«, rief er, »was aus uns werden wird.« Hiemit war er wieder entsprungen, und Wilhelm las:
Freitag, den 19ten.
Da man heute nicht säumen durfte, um zeitig zu Frau Susanne zu gelangen, so frühstückte man eilig mit der ganzen Familie, dankte mit versteckten Glückwünschen und hinterließ dem Geschirrfasser, welcher zurückblieb, die den Jungfrauen zugedachten Geschenke, etwas reichlicher und bräutlicher als die vorgestrigen, sie ihm heimlich zuschiebend, worüber der gute Mann sich sehr erfreut zeigte.
Diesmal war der Weg frühe zurückgelegt; nach einigen Stunden erblickten wir in einem ruhigen, nicht allzu weiten, flachen Tale, dessen eine, felsige Seite von Wellen des klarsten Sees leicht bespült sich widerspiegelte, wohl und anständig gebaute Häuser, um welche ein besserer, sorgfältig gepflegter Boden, bei sonniger Lage, einiges Gartenwesen begünstigte. In das Haupthaus durch den Garnboten eingeführt und Frau Susannen vorgestellt, fühlte ich[415] etwas ganz Eigenes, als sie uns freundlich ansprach und versicherte: es sei ihr sehr angenehm, daß wir Freitags kämen, als dem ruhigsten Tage der Woche, da Donnerstags abends die gefertigte Ware zum See und in die Stadt geführt werde. Dem einfallenden Garnboten, welcher sagte: »Die bringt wohl Daniel jederzeit hinunter!«, versetzte sie: »Gewiß, er versieht das Geschäft so löblich und treu, als wenn es sein eigenes wäre.« – »Ist doch auch der Unterschied nicht groß«, versetzte jener; übernahm einige Aufträge von der freundlichen Wirtin und eilte, seine Geschäfte in den Seitentälern zu vollbringen, versprach in einigen Tagen wiederzukommen und mich abzuholen.
Mir war indessen ganz wunderlich zumute; mich hatte gleich beim Eintritt eine Ahnung befallen, daß es die Ersehnte sei; beim längeren Hinblick war sie es wieder nicht, konnte es nicht sein, und doch beim Wegblicken, oder wenn sie sich umkehrte, war sie es wieder; eben wie im Traum Erinnerung und Phantasie ihr Wesen gegeneinander treiben.
Einige Spinnerinnen, die mit ihrer Wochenarbeit gezögert hatten, brachten sie nach; die Herrin, mit freundlichster Ermahnung zum Fleiße, marktete mit ihnen, überließ aber, um sich mit dem Gast zu unterhalten, das Geschäft an zwei Mädchen, welche sie Gretchen und Lieschen nannte und welche ich um desto aufmerksamer betrachtete, als ich ausforschen wollte, wie sie mit der Schilderung des Geschirrfassers allenfalls zusammenträfen. Diese beiden Figuren machten mich ganz irre und zerstörten alle Ähnlichkeit zwischen der Gesuchten und der Hausfrau.
Aber ich beobachtete diese nur desto genauer, und sie schien mir allerdings das würdigste, liebenswürdigste Wesen von allen, die ich auf meiner Gebirgsreise erblickte. Schon war ich von dem Gewerbe unterrichtet genug, um mit ihr über das Geschäft, welches sie gut verstand, mit Kenntnis sprechen zu können; meine einsichtige Teilnahme erfreute sie sehr, und als ich fragte: woher sie ihre Baumwolle beziehe, deren großen Transport übers Gebirg ich vor einigen Tagen gesehen, so erwiderte sie, daß eben dieser Transport ihr einen ansehnlichen Vorrat mitgebracht. Die[416] Lage ihres Wohnorts sei auch deshalb so glücklich, weil die nach dem See hinunterführende Hauptstraße etwa nur eine Viertelstunde ihres Tals hinabwärts vorbeigehe, wo sie denn entweder in Person oder durch einen Faktor die ihr von Triest bestimmten und adressierten Ballen in Empfang nehme, wie denn das vorgestern auch geschehen.
Sie ließ nun den neuen Freund in einen großen, lüftigen Keller hineinsehen, wo der Vorrat aufgehoben wird, damit die Baumwolle nicht zu sehr austrockne, am Gewicht verliere und weniger geschmeidig werde. Dann fand ich auch, was ich schon im einzelnen kannte, meistenteils hier versammelt; sie deutete nach und nach auf dies und jenes, und ich nahm verständigen Anteil. Indessen wurde sie stiller, aus ihren Fragen konnt' ich erraten, sie vermute, daß ich vom Handwerk sei. Denn sie sagte, da die Baumwolle soeben angekommen, so erwarte sie nun bald einen Kommis oder Teilnehmer der Triester Handlung, der nach einer bescheidenen Ansicht ihres Zustandes die schuldige Geldpost abholen werde; diese liege bereit für einen jeden, welcher sich legitimieren könne.
Einigermaßen verlegen suchte ich auszuweichen und blickte ihr nach, als sie eben einiges anzuordnen durchs Zimmer ging; sie erschien mir wie Penelope unter den Mägden.
Sie kehrt zurück, und mich dünkt, es sei was Eigenes in ihr vorgegangen. – »Sie sind denn nicht vom Kaufmannsstande?« sagte sie, »ich weiß nicht, woher mir das Vertrauen kommt und wie ich mich unterfangen mag, das Ihrige zu verlangen; erdringen will ich's nicht, aber gönnen Sie mir's, wie es Ihnen ums Herz ist.« Dabei sah mich ein fremdes Gesicht mit so ganz bekannten erkennenden Augen an, daß ich mich ganz durchdrungen fühlte und mich kaum zu fassen wußte. Meine Kniee, mein Verstand wollten mir versagen, als man sie glücklicherweise sehr eilig abrief. Ich konnte mich erholen, meinen Vorsatz stärken, so lang als möglich an mich zu halten; denn es schwebte mir vor, als wenn abermals ein unseliges Verhältnis mich bedrohe.
Gretchen, ein gesetztes, freundliches Kind, führte mich ab, mir die künstlichen Gewebe vorzuzeigen; sie tat es verständig[417] und ruhig, ich schrieb, um ihr Aufmerksamkeit zu beweisen, was sie mir vorsagte, in meine Schreibtafel, wo es noch steht zum Zeugnis eines bloß mechanischen Verfahrens, denn ich hatte ganz anderes im Sinne; es lautet folgendermaßen:
»Der Eintrag von getretener sowohl als gezogener Weberei geschieht, je nachdem das Muster es erfordert, mit weißem, lose gedrehtem sogenannten Muggengarn, mitunter auch mit türkischrot gefärbten, desgleichen mit blauen Garnen, welche ebenfalls zu Streifen und Blumen verbraucht werden.
Beim Scheren ist das Gewebe auf Walzen gewunden, die einen tischförmigen Rahmen bilden, um welchen her mehrere arbeitende Personen sitzen.«
Lieschen, die unter den Scherenden gesessen, steht auf, gesellt sich zu uns, ist geschäftig, dreinzureden, und zwar auf eine Weise, um jene durch Widerspruch nur irrezumachen; und als ich Gretchen dessenungeachtet mehr Aufmerksamkeit bewies, so fuhr Lieschen umher, um etwas zu holen, zu bringen, und streifte dabei, ohne durch die Enge des Raums genötigt zu sein, mit ihrem zarten Ellebogen zweimal merklich bedeutend an meinem Arm hin, welches mir nicht sonderlich gefallen wollte.
Die Gute-Schöne (sie verdient überhaupt, besonders aber alsdann so zu heißen, wenn man sie mit den übrigen vergleicht) holte mich in den Garten ab, wo wir der Abendsonne genießen sollten, eh' sie sich hinter das hohe Gebirg versteckte. Ein Lächeln schwebte um ihre Lippen, wie es wohl erscheint, wenn man etwas Erfreuliches zu sagen zaudert; auch mir war es in dieser Verlegenheit gar lieblich zumute. Wir gingen nebeneinander her, ich getraute mir nicht, ihr die Hand zu reichen, so gern ich's getan hätte; wir schienen uns beide vor Worten und Zeichen zu fürchten, wodurch der glückliche Fund nur allzubald ins Gemeine offenbar werden könnte. Sie zeigte mir einige Blumentöpfe, worin ich aufgekeimte Baumwollenstauden erkannte. – »So nähren und pflegen wir die für unser Geschäfte unnützen, ja widerwärtigen Samenkörner, die mit der Baumwolle einen so weiten Weg zu uns machen. Es geschieht[418] aus Dankbarkeit, und es ist ein eigen Vergnügen, dasjenige lebendig zu sehen, dessen abgestorbene Reste unser Dasein beleben. Sie sehen hier den Anfang, die Mitte ist Ihnen bekannt, und heute abend, wenn 's Glück gut ist, einen erfreulichen Abschluß.
Wir als Fabrikanten selbst oder ein Faktor bringen unsre die Woche über eingegangene Ware Donnerstag abends in das Marktschiff und langen so, in Gesellschaft von andern, die gleiches Geschäft treiben, mit dem frühesten Morgen am Freitag in der Stadt an. Hier trägt nun ein jeder seine Ware zu den Kaufleuten, die im großen handeln, und sucht sie so gut als möglich abzusetzen, nimmt auch wohl den Bedarf von roher Baumwolle allenfalls an Zahlungs Statt.
Aber nicht allein den Bedarf an rohen Stoffen für die Fabrikation nebst dem baren Verdienst holen die Marktleute in der Stadt, sondern sie versehen sich auch daselbst mit allerlei andern Dingen zum Bedürfnis und Vergnügen. Wo einer aus der Familie in die Stadt zu Markte gefahren, da sind Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, ja sogar oft Angst und Furcht rege. Es entsteht Sturm und Gewitter, und man ist besorgt, das Schiff nehme Schaden! Die Gewinnsüchtigen harren und möchten erfahren, wie der Verkauf der Waren ausgefallen, und berechnen schon im voraus die Summe des reinen Erwerbs; die Neugierigen warten auf die Neuigkeiten aus der Stadt, die Putzliebenden auf die Kleidungsstücke oder Modesachen, die der Reisende etwa mitzubringen Auftrag hatte; die Leckern endlich und besonders die Kinder auf die Eßwaren, und wenn es auch nur Semmeln wären.
Die Abfahrt aus der Stadt verzieht sich gewöhnlich bis gegen Abend, dann belebt sich der See allmählich und die Schiffe gleiten segelnd, oder durch die Kraft der Ruder getrieben, über seine Fläche hin; jedes bemüht sich, dem andern vorzukommen; und die, denen es gelingt, verhöhnen wohl scherzend die, welche zurückzubleiben sich genötigt sehen.
Es ist ein erfreuliches, schönes Schauspiel um die Fahrt auf dem See, wenn der Spiegel desselben mit den anliegenden Gebirgen vom Abendrot erleuchtet sich warm und allmählich[419] tiefer und tiefer schattiert, die Sterne sichtbar werden, die Abendbetglocken sich hören lassen, in den Dörfern am Ufer sich Lichter entzünden, im Wasser widerscheinend, dann der Mond aufgeht und seinen Schimmer über die kaum bewegte Fläche streut. Das reiche Gelände flieht vorüber, Dorf um Dorf, Gehöft um Gehöft bleiben zurück, endlich in die Nähe der Heimat gekommen, wird in ein Horn gestoßen, und sogleich sieht man im Berg hier und dort Lichter erscheinen, die sich nach dem Ufer herab bewegen, ein jedes Haus, das einen Angehörigen im Schiffe hat, sendet jemanden, um das Gepäck tragen zu helfen.
Wir liegen höher hinauf, aber jedes von uns hat oft genug diese Fahrt mitbestanden, und was das Geschäft betrifft, so sind wir alle von gleichem Interesse.«
Ich hatte ihr mit Verwunderung zugehört, wie gut und schön sie das alles sprach, und konnte mich der offenen Bemerkung nicht enthalten: wie sie in dieser rauhen Gegend, bei einem so mechanischen Geschäft, zu solcher Bildung habe gelangen können? Sie versetzte, mit einem allerliebsten, beinahe schalkhaften Lächeln vor sich hinsehend: »Ich bin in einer schönern und freundlichern Gegend geboren, wo vorzügliche Menschen herrschen und hausen, und ob ich gleich als Kind mich wild und unbändig erwies, so war doch der Einfluß geistreicher Besitzer auf ihre Umgebung unverkennbar. Die größte Wirkung jedoch auf ein junges Wesen tat eine fromme Erziehung, die ein gewisses Gefühl des Rechtlichen und Schicklichen, als von Allgegenwart göttlicher Liebe getragen, in mir entwickelte. Wir wanderten aus«, fuhr sie fort – das feine Lächeln verließ ihren Mund, eine unterdrückte Träne füllte das Auge –, »wir wanderten weit, weit, von einer Gegend zur andern, durch fromme Fingerzeige und Empfehlungen geleitet; endlich gelangten wir hierher, in diese höchst tätige Gegend; das Haus, worin Sie mich finden, war von gleichgesinnten Menschen bewohnt, man nahm uns treulich auf, mein Vater sprach dieselbe Sprache, in demselben Sinn, wir schienen bald zur Familie zu gehören.
In allen Haus- und Handwerksgeschäften griff ich tüchtig ein, und alles, über welches Sie mich nun gebieten sehen,[420] habe ich stufenweise gelernt, geübt und vollbracht. Der Sohn des Hauses, wenig Jahre älter als ich, wohlgebaut und schön von Antlitz, gewann mich lieb und machte mich zu seiner Vertrauten. Er war von tüchtiger und zugleich feiner Natur; die Frömmigkeit, wie sie im Hause geübt wurde, fand bei ihm keinen Eingang, sie genügte ihm nicht, er las heimlich Bücher, die er sich in der Stadt zu verschaffen wußte, von der Art, die dem Geist eine allgemeinere, freiere Richtung geben, und da er bei mir gleichen Trieb, gleiches Naturell vermerkte, so war er bemüht, nach und nach mir dasjenige mitzuteilen, was ihn so innig beschäftigte. Endlich, da ich in alles einging, hielt er nicht länger zurück, mir sein ganzes Geheimnis zu eröffnen, und wir waren wirklich ein ganz wunderliches Paar, welches auf einsamen Spaziergängen sich nur von solchen Grundsätzen unterhielt, welche den Menschen selbstständig machen, und dessen wahrhaftes Neigungsverhältnis nur darin zu bestehen schien, einander wechselseitig in solchen Gesinnungen zu bestärken, wodurch die Menschen sonst voneinander völlig entfernt werden.«
Ob ich gleich sie nicht scharf ansah, sondern nur von Zeit zu Zeit wie zufällig aufblickte, bemerkt' ich doch mit Verwunderung und Anteil, daß ihre Gesichtszüge durchaus den Sinn ihrer Worte zugleich ausdrückten. Nach einem augenblicklichen Stillschweigen erheiterte sich ihr Gesicht: »Ich muß«, sagte sie, »auf Ihre Hauptfrage ein Bekenntnis tun, damit Sie meine Wohlredenheit, die manchmal nicht ganz natürlich scheinen möchte, sich besser erklären können.
Leider mußten wir beide uns vor den übrigen verstellen, und ob wir gleich uns sehr hüteten, nicht zu lügen und im groben Sinn falsch zu sein, so waren wir es doch im zartern indem wir den vielbesuchten Brüder- und Schwesterversammlungen nicht beizuwohnen nirgends Entschuldigung finden konnten. Weil wir aber dabei gar manches gegen unsere Überzeugung hören mußten, so ließ er mich sehr bald begreifen und einsehen, daß nicht alles vom freien Herzen gehe, sondern daß viel Wortkram, Bilder, Gleichnisse, herkömmliche Redensarten und wiederholt anklingende[421] Zeilen sich immerfort wie um eine gemeinsame Achse herumdrehten. Ich merkte nun besser auf und machte mir die Sprache so zu eigen, daß ich allenfalls eine Rede so gut als irgendein Vorsteher hätte halten wollen. Erst ergötzte der Gute sich daran, endlich beim Überdruß ward er ungeduldig, daß ich, ihn zu beschwichtigen, den entgegengesetzten Weg einschlug, ihm nur desto aufmerksamer zuhörte, ihm seinen herzlich treuen Vortrag wohl acht Tage später wenigstens mit annähernder Freiheit und nicht ganz unähnlichem geistigem Wesen zu wiederholen wußte.
So wuchs unser Verhältnis zum innigsten Bande, und eine Leidenschaft zu irgendeinem Wahren, Guten sowie zu möglicher Ausübung desselben war eigentlich, was uns vereinigte.
Indem ich nun bedenke, was Sie veranlaßt haben mag, zu einer solchen Erzählung mich zu bewegen, so war es meine lebhafte Beschreibung vom glücklich vollbrachten Markttage. Verwundern Sie sich darüber nicht; denn gerade war es eine frohe, herzliche Betrachtung holder und erhabener Naturszenen, was mich und meinen Bräutigam in ruhigen und geschäftlosen Stunden am schönsten unterhielt. Treffliche vaterländische Dichter hatten das Gefühl in uns erregt und genährt, Hallers ›Alpen‹, Geßners ›Idyllen‹, Kleists ›Frühling‹ wurden oft von uns wiederholt, und wir betrachteten die uns umgebende herrliche Welt bald von ihrer anmutigen, bald von ihrer erhabenen Seite.
Noch gern erinnere ich mich, wie wir beide, scharf- und weitsichtig, uns um die Wette und oft hastig auf die bedeutenden Erscheinungen der Erde und des Himmels aufmerksam zu machen suchten, einander vorzueilen und zu überbieten trachteten. Dies war die schönste Erholung, nicht nur vom täglichen Geschäft, sondern auch von jenen ernsten Gesprächen, die uns oft nur zu tief in unser eigenes Innere versenkten und uns dort zu beunruhigen drohten.
In diesen Tagen kehrte ein Reisender bei uns ein, wahrscheinlich unter geborgtem Namen; wir dringen nicht weiter in ihn, da er sogleich durch sein Wesen uns Vertrauen einflößt, da er sich im ganzen höchst sittlich benimmt, sowie anständig aufmerksam in unsern Versammlungen. Von[422] meinem Freund in den Gebirgen umhergeführt, zeigt er sich ernst, einsichtig und kenntnisreich. Auch ich geselle mich zu ihren sittlichen Unterhaltungen, wo alles nach und nach zur Sprache kommt, was einem innern Menschen bedeutend werden kann; da bemerkt er denn gar bald in unserer Denkweise in Absicht auf die göttlichen Dinge etwas Schwankendes. Die religiösen Ausdrücke waren uns trivial geworden, der Kern, den sie enthalten sollten, war uns entfallen. Da ließ er uns die Gefahr unsres Zustandes bemerken, wie bedenklich die Entfernung vom Überlieferten sein müsse, an welches von Jugend auf sich so viel angeschlossen; sie sei höchst gefährlich bei der Unvollständigkeit besonders des eignen Innern. Freilich eine täglich und stündlich durchgeführte Frömmigkeit werde zuletzt nur Zeitvertreib und wirke wie eine Art von Polizei auf den äußeren Anstand, aber nicht mehr auf den tiefen Sinn; das einzige Mittel dagegen sei, aus eigener Brust sittlich gleich geltende, gleich wirksame, gleich beruhigende Gesinnungen hervorzurufen.
Die Eltern hatten unsre Verbindung stillschweigend vorausgesetzt, und ich weiß nicht, wie es geschah, die Gegenwart des neuen Freundes beschleunigte die Verlobung, es schien sein Wunsch, diese Bestätigung unsres Glücks in dem stillen Kreise zu feiern, da er denn auch mit anhören mußte, wie der Vorsteher die Gelegenheit ergriff, uns an den Bischof von Laodicea und an die große Gefahr der Lauheit, die man uns wollte angemerkt haben, zu erinnern. Wir besprachen noch einigemal diese Gegenstände, und er ließ uns ein hierauf bezügliches Blatt zurück, welches ich oft in der Folge wieder anzusehen Ursache fand.
Er schied nunmehr, und es war, als wenn mit ihm alle guten Geister gewichen wären. Die Bemerkung ist nicht neu, wie die Erscheinung eines vorzüglichen Menschen in irgendeinem Zirkel Epoche macht und bei seinem Scheiden eine Lücke sich zeigt, in die sich öfters ein zufälliges Unheil hineindrängt. Und nun lassen Sie mich einen Schleier über das Nächstfolgende werfen; durch einen Zufall ward meines Verlobten kostbares Leben, seine herrliche Gestalt plötzlich zerstört; er wendete standhaft seine letzten Stunden[423] dazu an, sich mit mir Trostlosen verbunden zu sehen und mir die Rechte an seinem Erbteil zu sichern. Was aber diesen Fall den Eltern um so schmerzlicher machte, war, daß sie kurz vorher eine Tochter verloren hatten und sich nun, im eigentlichen Sinne, verwaist sahen, worüber ihr zartes Gemüt dergestalt angegriffen wurde, daß sie ihr Leben nicht lange fristeten. Sie gingen den lieben Ihrigen bald nach, und mich ereilte noch ein anderes Unheil, daß mein Vater, vom Schlag gerührt, zwar noch sinnliche Kenntnis von der Welt, aber weder geistige noch körperliche Tätigkeit gegen dieselbe behalten hat. Und so bedurfte ich denn freilich in der größten Not und Absonderung jener Selbstständigkeit, in der ich mich, glückliche Verbindung und frohes Mitleben hoffend, frühzeitig geübt und noch vor kurzem durch die rein belebenden Worte des geheimnisvollen Durchreisenden recht eigentlich gestärkt hatte.
Doch darf ich nicht undankbar sein, da mir in diesem Zustand noch ein tüchtiger Gehülfe geblieben ist, der als Faktor alles das besorgt, was in solchen Geschäften als Pflicht männlicher Tätigkeit erscheint. Kommt er heut abend aus der Stadt zurück und Sie haben ihn kennen gelernt, so erfahren Sie mein wunderbares Verhältnis zu ihm.«
Ich hatte manches dazwischengesprochen und durch beifälligen, vertraulichen Anteil ihr Herz immer mehr aufzuschließen und ihre Rede im Fluß zu erhalten getrachtet. Ich vermied nicht, dasjenige ganz nahe zu berühren, was noch nicht völlig ausgesprochen war; auch sie rückte immer näher zu, und wir waren so weit, daß bei der geringsten Veranlassung das offenbare Geheimnis ins Wort getreten wäre.
Sie stand auf und sagte: »Lassen Sie uns zum Vater gehen!« Sie eilte voraus, und ich folgte ihr langsam; ich schüttelte den Kopf über die wundersame Lage, in der ich mich befand. Sie ließ mich in eine hintere, sehr reinliche Stube treten, wo der gute Alte unbeweglich im Sessel saß. Er hatte sich wenig verändert. Ich ging auf ihn zu, er sah mich erst starr, dann mit lebhafteren Augen an; seine Züge erheiterten sich, er versuchte, die Lippen zu bewegen, und als ich die Hand hinreichte, seine ruhende zu fassen, ergriff er die meine von selbst, drückte sie und sprang auf,[424] die Arme gegen mich ausstreckend. »O Gott!« rief er, »der Junker Lenardo! er ist's, er ist es selbst!« Ich konnte mich nicht enthalten, ihn an mein Herz zu schließen; er sank in den Stuhl zurück, die Tochter eilte hinzu, ihm beizustehen; auch sie rief: »Er ist's! Sie sind es, Lenardo!«
Die jüngere Nichte war herbeigekommen, sie führten den Vater, der auf einmal wieder gehen konnte, der Kammer zu, und gegen mich gewendet, sprach er ganz deutlich:
»Wie glücklich, glücklich! bald sehen wir uns wieder!«
Ich stand, vor mich hinschauend und denkend, Mariechen kam zurück und reichte mir ein Blatt, mit dem Vermelden, es sei dasselbige, wovon gesprochen. Ich erkannte sogleich Wilhelms Handschrift, so wie vorhin seine Person aus der Beschreibung mir entgegengetreten war; mancherlei fremde Gesichter schwärmten um mich her, es war eine eigene Bewegung im Vorhause. Und dann ist es ein widerwärtiges Gefühl, aus dem Enthusiasmus einer reinen Wiedererkennung, aus der Überzeugung dankbaren Erinnerns, der Anerkennung einer wunderbaren Lebensfolge und was alles Warmes und Schönes dabei in uns entwickelt werden mag, auf einmal zu der schroffen Wirklichkeit einer zerstreuten Alltäglichkeit zurückgeführt zu werden.
Diesmal war der Freitagabend überhaupt nicht so heiter und lustig, wie er sonst wohl sein mochte; der Faktor war nicht mit dem Marktschiff aus der Stadt zurückgekehrt, er meldete nur in einem Briefe, daß ihn Geschäfte erst morgen oder übermorgen zurückgehen ließen; er werde mit anderer Gelegenheit kommen, auch alles Bestellte und Versprochene mitbringen. Die Nachbarn, welche, jung und alt, in Erwartung wie gewöhnlich zusammengekommen waren, machten verdrießliche Gesichter, Lieschen besonders, die ihm entgegengegangen war, schien sehr übler Laune.
Ich hatte mich in mein Zimmer geflüchtet, das Blatt in der Hand haltend, ohne hineinzusehen, denn es hatte mir schon heimlichen Verdruß gemacht, aus jener Erzählung zu vernehmen, daß Wilhelm die Verbindung beschleunigt habe. »Alle Freunde sind so, alle sind Diplomaten; statt unser Vertrauen redlich zu erwidern, folgen sie ihren Ansichten, durchkreuzen unsre Wünsche und mißleiten unser Schicksal!«[425] So rief ich aus, doch kam ich bald von meiner Ungerechtigkeit zurück, gab dem Freunde recht, besonders die jetzige Stellung bedenkend, und enthielt mich nicht weiter, das folgende zu lesen.
»Jeder Mensch findet sich von den frühsten Momenten seines Lebens an, erst unbewußt, dann halb, endlich ganz bewußt, immerfort bedingt, begrenzt in seiner Stellung, weil aber niemand Zweck und Ziel seines Daseins kennt, vielmehr das Geheimnis desselben von höchster Hand verborgen wird, so tastet er nur, greift zu, läßt fahren, steht stille, bewegt sich, zaudert und übereilt sich, und auf wie mancherlei Weise denn alle Irrtümer entstehen, die uns verwirren.«
»Sogar der Besonnenste ist im täglichen Weltleben genötigt, klug für den Augenblick zu sein, und gelangt deswegen im allgemeinen zu keiner Klarheit. Selten weiß er sicher, wohin er sich in der Folge zu wenden und was er eigentlich zu tun und zu lassen habe.«
»Glücklicherweise sind alle diese und noch hundert andere wundersame Fragen durch euren unaufhaltsam tätigen Lebensgang beantwortet. Fahrt fort in unmittelbarer Beachtung der Pflicht des Tages und prüft dabei die Reinheit eures Herzens und die Sicherheit eures Geistes. Wenn ihr sodann in freier Stunde aufatmet und euch zu erheben Raum findet, so gewinnt ihr auch gewiß eine richtige Stellung gegen das Erhabene, dem wir uns auf jede Weise verehrend hinzugeben, jedes Ereignis mit Ehrfurcht zu betrachten und eine höhere Leitung darin zu erkennen haben.«
Sonnabend, den 20.
Vertieft in Gedanken, auf deren wunderlichen Irrgängen mich eine fühlende Seele teilnehmend gern begleiten wird,[426] war ich mit Tagesanbruch am See auf und ab spaziert; die Hausfrau – ich fühlte mich sehr zufrieden, sie nicht als Witwe denken zu dürfen – zeigte sich erwünscht erst am Fenster, dann an der Türe; sie erzählte mir: der Vater habe gut geschlafen, sei heiter aufgewacht und habe mit deutlichen Worten eröffnet, daß er im Bette bleiben, mich heute nicht, morgen aber erst nach dem Gottesdienste zu sehen wünsche, wo er sich gewiß recht gestärkt fühlen werde. Sie sagte mir darauf, daß sie mich heute viel werde allein lassen; es sei für sie ein sehr beschäftigter Tag, kam herunter und gab mir Rechenschaft davon.
Ich hörte ihr zu, nur um sie zu hören, dabei überzeugt' ich mich, daß sie von der Sache durchdrungen, davon als einer herkömmlichen Pflicht angezogen und mit Willen beschäftigt schien. Sie fahr fort: »Es ist gewöhnlich und eingerichtet, daß das Gewebe gegen das Ende der Woche fertig sei und am Sonnabendnachmittag zu dem Verlagsherrn getragen werde, der solches durchsieht, mißt und wägt, um zu erforschen, ob die Arbeit ordentlich und fehlerfrei, auch ob ihm an Gewicht und Maß das Gehörige eingeliefert worden, und, wenn alles richtig befunden ist, sodann den verabredeten Weberlohn zahlt. Seinerseits ist nun er bemüht, das gewebte Stück von allen etwa anhängenden Fäden und Knoten zu reinigen, solches aufs zierlichste zu legen, die schönste, fehlerfreiste Seite oben vors Auge zu bringen und so die Ware höchst annehmlich zu machen.«
Indessen kamen aus dem Gebirg viele Weberinnen, ihre Ware ins Haus tragend, worunter ich auch die erblickte, welche unsern Geschirrfasser beschäftigte. Sie dankte mir gar lieblich für das zurückgelassene Geschenk und erzählte mit Anmut: der Herr Geschirrfasser sei bei ihnen, arbeite heute an ihrem leerstehenden Weberstuhl und habe ihr beim Abschied versichert: was er an ihm tue, solle Frau Susanne gleich der Arbeit ansehen. Darauf ging sie, wie die übrigen, ins Haus, und ich konnte mich nicht enthalten, die liebe Wirtin zu fragen: »Um 's Himmels willen! wie kommen Sie zu dem wunderlichen Namen?« – »Es ist«, versetzte sie, »der dritte, den man mir aufbürdet; ich ließ es gerne zu, weil meine Schwiegereltern es wünschten, denn[427] es war der Name ihrer verstorbenen Tochter, an deren Stelle sie mich eintreten ließen, und der Name bleibt doch immer der schönste, lebendigste Stellvertreter der Person.« Darauf versetzte ich: »Ein vierter ist schon gefunden, ich würde Sie Gute-Schöne nennen, insofern es von mir abhinge.« Sie machte eine gar lieblich demütige Verbeugung und wußte ihr Entzücken über die Genesung des Vaters mit der Freude, mich wiederzusehen, so zu verbinden und zu steigern, daß ich in meinem Leben nichts Schmeichelhafteres und Erfreulicheres glaubte gehört und gefühlt zu haben.
Die Schöne-Gute, doppelt und dreifach ins Haus zurückgerufen, übergab mich einem verständigen, unterrichteten Manne, der mir die Merkwürdigkeiten des Gebirgs zeigen sollte. Wir gingen zusammen, bei schönstem Wetter, durch reich abwechselnde Gegenden. Aber man überzeugt sich wohl, daß weder Fels noch Wald, noch Wassersturz, noch weniger Mühlen und Schmiedewerkstatt, sogar künstlich genug in Holz arbeitende Familien mir irgendeine Aufmerksamkeit abgewinnen konnten. Indessen war der Wandergang für den ganzen Tag angelegt, der Bote trug ein feines Frühstück im Ränzel, zu Mittag fanden wir ein gutes Essen im Zechenhause eines Bergwerks, wo niemand recht aus mir klug werden konnte, indem tüchtigen Menschen nichts leidiger vorkommt als ein leeres, Teilnahme heuchelndes Unteilnehmen.
Am wenigsten aber begriff mich der Bote, an welchen eigentlich der Garnträger mich gewiesen hatte, mit großem Lob meiner schönen technischen Kenntnisse und des besonderen Interesses an solchen Dingen. Auch von meinem vielen Aufschreiben und Bemerken hatte jener gute Mann erzählt, worauf sich denn der Berggenoß gleichfalls eingerichtet hatte. Lange wartete mein Begleiter, daß ich meine Schreibtafel hervorholen sollte, nach welcher er denn auch endlich, einigermaßen ungeduldig, fragte.
Sonntag, den 21.
Mittag kam beinahe herbei, eh' ich die Freundin wieder ansichtig werden konnte. Der Hausgottesdienst, bei dem[428] sie mich nicht gegenwärtig wünschte, war indessen gehalten; der Vater hatte demselben beigewohnt und, die erbaulichsten Worte deutlich und vernehmlich sprechend, alle Anwesenden und sie selbst bis zu den herzlichsten Tränen gerührt. »Es waren«, sagte sie, »bekannte Sprüche, Reime, Ausdrücke und Wendungen, die ich hundertmal gehört und als an hohlen Klängen mich geärgert hatte; diesmal flossen sie aber so herzlich zusammengeschmolzen, ruhig glühend, von Schlacken rein, wie wir das erweichte Metall in der Rinne hinfließen sehen. Es war mir angst und bange, er möchte sich in diesen Ergießungen aufzehren, jedoch ließ er sich ganz munter zu Bette führen; er wollte, sagte er, sich sammeln und den Gast, sobald er Kraft genug fühle, zu sich rufen lassen.«
Nach Tische ward unser Gespräch lebhafter und vertraulicher, aber ebendeshalb konnte ich mehr empfinden und bemerken, daß sie etwas zurückhielt, daß sie mit beunruhigenden Gedanken kämpfte, wie es ihr auch nicht ganz gelang, ihr Gesicht zu erheitern. Nachdem ich hin und her versucht, sie zur Sprache zu bringen, so gestand ich aufrichtig, daß ich ihr eine gewisse Schwermut, einen Ausdruck von Sorge anzusehen glaubte, seien es häusliche oder Handelsbedrängnisse, sie solle sich mir eröffnen; ich wäre reich genug, eine alte Schuld ihr auf jede Weise abzutragen.
Sie verneinte lächelnd, daß dies der Fall sei. »Ich habe«, fuhr sie fort, »wie Sie zuerst hereintraten, einen von denen Herren zu sehen geglaubt, die mir in Triest Kredit machen, und war mit mir selbst wohl zufrieden, als ich mein Geld vorrätig wußte, man mochte die ganze Summe oder einen Teil verlangen. Was mich aber drückt, ist doch eine Handelssorge, leider nicht für den Augenblick, nein! für alle Zukunft. Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen. Schon mein Gatte war von diesem traurigen Gefühl durchdrungen. Man denkt daran, man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann Hülfe bringen. Und wer möchte sich solche Schrecknisse gern vergegenwärtigen! Denken Sie, daß viele Täler sich[429] durchs Gebirg schlingen, wie das, wodurch Sie herabkamen; noch schwebt Ihnen das hübsche, frohe Leben vor, das Sie diese Tage her dort gesehen, wovon Ihnen die geputzte Menge allseits andringend gestern das erfreulichste Zeugnis gab; denken Sie, wie das nach und nach zusammensinken absterben, die Öde, durch Jahrhunderte belebt und bevölkert, wieder in ihre uralte Einsamkeit zurückfallen werde.
Hier bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen. Eins wie das andere hat sein Bedenken, aber wer hilft uns die Gründe abwägen, die uns bestimmen sollen? Ich weiß recht gut, daß man in der Nähe mit dem Gedanken umgeht, selbst Maschinen zu errichten und die Nahrung der Menge an sich zu reißen. Ich kann niemanden verdenken, daß er sich für seinen eigenen Nächsten hält; aber ich käme mir verächtlich vor, sollt' ich diese guten Menschen plündern und sie zuletzt arm und hülflos wandern sehen; und wandern müssen sie früh oder spat. Sie ahnen, sie wissen, sie sagen es, und niemand entschließt sich zu irgendeinem heilsamen Schritte. Und doch, woher soll der Entschluß kommen? wird er nicht jedermann ebensosehr erschwert als mir?
Mein Bräutigam war mit mir entschlossen zum Auswandern; er besprach sich oft über Mittel und Wege, sich hier loszuwinden. Er sah sich nach den Besseren um, die man um sich versammeln, mit denen man gemeine Sache machen, die man an sich heranziehen, mit sich fortziehen könnte; wir sehnten uns, mit vielleicht allzu jugendlicher Hoffnung, in solche Gegenden, wo dasjenige für Pflicht und Recht gelten könnte, was hier ein Verbrechen wäre. Nun bin ich im entgegengesetzten Falle: der redliche Gehülfe, der mir nach meines Gatten Tode geblieben, trefflich in jedem Sinne, mir freundschaftlich liebevoll anhänglich, er ist ganz der entgegengesetzten Meinung.
Ich muß Ihnen von ihm sprechen, eh' Sie ihn gesehen haben; lieber hätt' ich es nachher getan, weil die persönliche Gegenwart gar manches Rätsel aufschließt. Ungefähr[430] von gleichem Alter wie mein Gatte, schloß er sich als kleiner, armer Knabe an den wohlhabenden, wohlwollenden Gespielen, an die Familie, an das Haus, an das Gewerbe; sie wuchsen zusammen heran und hielten zusammen, und doch waren es zwei ganz verschiedene Naturen; der eine frei gesinnt und mitteilend, der andere in früherer Jugend gedrückt, verschlossen, den geringsten ergriffenen Besitz festhaltend, zwar frommer Gesinnung, aber mehr an sich als an andere denkend.
Ich weiß recht gut, daß er von den ersten Zeiten her ein Auge auf mich richtete, er durfte es wohl, denn ich war ärmer als er; doch hielt er sich zurück, sobald er die Neigung des Freundes zu mir bemerkte. Durch anhaltenden Fleiß, Tätigkeit und Treue machte er sich bald zum Mitgenossen des Gewerbes. Mein Gatte hatte heimlich den Gedanken, bei unserer Auswanderung diesen hier einzusetzen und ihm das Zurückgelassene anzuvertrauen. Bald nach dem Tode des Trefflichen näherte er sich mir, und vor einiger Zeit verhielt er nicht, daß er sich um meine Hand bewerbe. Nun tritt aber der doppelt wunderliche Umstand ein, daß er sich von jeher gegen das Auswandern erklärte und dagegen eifrig betreibt, wir sollen auch Maschinen anlegen. Seine Gründe freilich sind dringend, denn in unsern Gebirgen hauset ein Mann, der, wenn er, unsere einfacheren Werkzeuge vernachlässigend, zusammengesetztere sich erbauen wollte, uns zugrunde richten könnte. Dieser in seinem Fache sehr geschickte Mann – wir nennen ihn den Geschirrfasser – ist einer wohlhabenden Familie in der Nachbarschaft anhänglich, und man darf wohl glauben, daß er im Sinne hat, von jenen steigenden Erfindungen für sich und seine Begünstigten nützlichen Gebrauch zu machen. Gegen die Gründe meines Gehülfen ist nichts einzuwenden, denn schon ist gewissermaßen zu viel Zeit versäumt, und gewinnen jene den Vorrang, so müssen wir, und zwar mit Unstatten, doch das gleiche tun. Dieses ist, was mich ängstigt und quält, das ist's, was Sie mir, teuerster Mann, als einen Schutzengel erscheinen läßt.«
Ich hatte wenig Tröstliches hierauf zu erwidern, ich mußte den Fall so verwickelt finden, daß ich mir Bedenkzeit ausbat.[431] Sie aber fuhr fort: »Ich habe noch manches zu eröffnen, damit meine Lage Ihnen noch mehr wundersam erscheine. Der junge Mann, dem ich persönlich nicht abgeneigt bin, der mir aber keineswegs meinen Gatten ersetzen noch meine eigentliche Neigung erwerben würde« – sie seufzte, indem sie dies sprach –, »wird seit einiger Zeit entschieden dringender, seine Vorträge sind so liebevoll als verständig. Die Notwendigkeit, meine Hand ihm zu reichen, die Unklugheit, an eine Auswanderung zu denken und darüber das einzige wahre Mittel der Selbsterhaltung zu versäumen, sind nicht zu widerlegen, und es scheint ihm mein Widerstreben, meine Grille des Auswanderns so wenig mit meinem übrigen haushältischen Sinn übereinzustimmen, daß ich bei einem letzten, etwas heftigen Gespräch die Vermutung bemerken konnte, meine Neigung müsse wo anders gefesselt sein.« – Sie brachte das letzte nur mit einigem Stocken hervor und blickte vor sich nieder.
Was mir bei diesen Worten durch die Seele fuhr, denke jeder, und doch, bei blitzschnell nachfahrender Überlegung, mußt' ich fühlen, daß jedes Wort die Verwirrung nur vermehren würde. Doch ward ich zugleich, so vor ihr stehend, mir deutlich bewußt, daß ich sie im höchsten Grade liebgewonnen habe und nun alles, was in mir von vernünftiger, verständiger Kraft übrig war, aufzuwenden hatte, um ihr nicht sogleich meine Hand anzubieten. Mag sie doch, dachte ich, alles hinter sich lassen, wenn sie mir folgt! Doch die Leiden vergangener Jahre hielten mich zurück. Sollst du eine neue falsche Hoffnung hegen, um lebenslänglich daran zu büßen?
Wir hatten beide eine Zeitlang geschwiegen, als Lieschen, die ich nicht hatte herankommen sehen, überraschend vor uns trat und die Erlaubnis verlangte, auf dem nächsten Hammerwerke diesen Abend zuzubringen. Ohne Bedenken ward es gewährt. Ich hatte mich indessen zusammengenommen und fing an, im allgemeinen zu erzählen: wie ich auf meinen Reisen das alles längst herankommen gesehen, wie Trieb und Notwendigkeit des Auswanderns jeden Tag sich vermehre; doch bleibe ein solches Abenteuer immer das Gefährlichste. Unvorbereitetes Wegeilen bringe unglückliche[432] Wiederkehr; kein anderes Unternehmen bedürfe so viel Vorsicht und Leitung als ein solches. Diese Betrachtung war ihr nicht fremd, sie hatte viel über alle Verhältnisse gedacht, aber zuletzt sprach sie mit einem tiefen Seufzer: »Ich habe diese Tage Ihres Hierseins immer gehofft, durch vertrauliche Erzählung Trost zu gewinnen, aber ich fühle mich übler gestellt als vorher, ich fühle recht tief, wie unglücklich ich bin.« Sie hob den Blick nach mir, aber die aus den schönen, guten Augen ausquellenden Tränen zu verbergen, wendete sie sich um und entfernte sich einige Schritte.
Ich will mich nicht entschuldigen, aber der Wunsch, diese herrliche Seele, wo nicht zu trösten, doch zu zerstreuen gab mir den Gedanken ein, ihr von der wundersamen Vereinigung mehrerer Wandernden und Scheidenden zu sprechen, in die ich schon seit einiger Zeit getreten war. Unversehens hatte ich schon so weit mich herausgelassen, daß ich kaum hätte zurückhalten können, als ich gewahrte, wie unvorsichtig mein Vertrauen gewesen sein mochte. Sie beruhigte sich, staunte, erheiterte, entfaltete ihr ganzes Wesen und fragte mit solcher Neigung und Klugheit, daß ich ihr nicht mehr ausweichen, daß ich ihr alles bekennen mußte.
Gretchen trat vor uns und sagte: wir möchten zum Vater kommen! Das Mädchen schien sehr nachdenklich und verdrießlich. Zur Weggehenden sagte die Schöne-Gute: »Lieschen hat Urlaub für heut abend, besorge du die Geschäfte.« – »Ihr hättet ihn nicht geben sollen«, versetzte Gretchen, »sie stiftet nichts Gutes; Ihr seht dem Schalk mehr nach, als billig, vertraut ihr mehr, als recht ist. Eben jetzt erfahr' ich, sie hat ihm gestern einen Brief geschrieben; Euer Gespräch hat sie behorcht, jetzt geht sie ihm entgegen.«
Ein Kind, das indessen beim Vater geblieben war, bat mich, zu eilen, der gute Mann sei unruhig. Wir traten hinein; heiter, ja verklärt saß er aufrecht im Bette. »Kinder«, sagte er, »ich habe diese Stunden im anhaltenden Gebet vollbracht, keiner von allen Dank- und Lobgesängen Davids ist von mir unberührt geblieben, und ich füge hinzu, aus eignem Sinne mit gestärktem Glauben: Warum hofft der Mensch nur in die Nähe? da muß er handeln und sich helfen, in die Ferne soll er hoffen und Gott vertrauen.«[433] Er faßte Lenardos Hand und so die Hand der Tochter, und beide ineinander legend sprach er: »Das soll kein irdisches, es soll ein himmlisches Band sein; wie Bruder und Schwester liebt, vertraut, nützt und helft einander, so uneigennützig und rein, wie euch Gott helfe.« Als er dies gesagt, sank er zurück mit himmlischem Lächeln und war heimgegangen. Die Tochter stürzte vor dem Bett nieder, Lenardo neben sie, ihre Wangen berührten sich, ihre Tränen vereinigten sich auf seiner Hand.
Der Gehülfe rennt in diesem Augenblick herein, erstarrt über der Szene. Mit wildem Blick, die schwarzen Locken schüttelnd, ruft der wohlgestaltete Jüngling: »Er ist tot; in dem Augenblick, da ich seine wiederhergestellte Sprache dringend anrufen wollte, mein Schicksal, das Schicksal seiner Tochter zu entscheiden, des Wesens, das ich nächst Gott am meisten liebe, dem ich ein gesundes Herz wünschte, ein Herz, das den Wert meiner Neigung fühlen könnte. Für mich ist sie verloren, sie kniet neben einem andern! Hat er euch eingesegnet? gesteht's nur!«
Das herrliche Wesen war indessen aufgestanden, Lenardo hatte sich erhoben und erholt; sie sprach: »Ich erkenn' Euch nicht mehr, den sanften, frommen, auf einmal so verwilderten Mann; wißt Ihr doch, wie ich Euch danke, wie ich von Euch denke.«
»Von Danken und Denken ist hier die Rede nicht«, versetzte jener gefaßt, »hier handelt sich's vom Glück oder Unglück meines Lebens. Dieser fremde Mann macht mich besorgt; wie ich ihn ansehe, getrau' ich mich nicht, ihn aufzuwiegen; frühere Rechte zu verdrängen, frühere Verbindungen zu lösen vermag ich nicht.«
»Sobald du wieder in dich selbst zurücktreten kannst«, sagte die Gute, schöner als je, »wenn mit dir zu sprechen ist wie sonst und immer, so will ich dir sagen, dir beteuern bei den irdischen Resten meines verklärten Vaters, daß ich zu diesem Herrn und Freunde kein ander Verständnis habe, als das du kennen, billigen und teilen kannst und dessen du dich erfreuen mußt.«
Lenardo schauderte bis tief ins Innerste, alle drei standen still, stumm und nachdenkend eine Weile; der Jüngling[434] nahm zuerst das Wort und sagte: »Der Augenblick ist von zu großer Bedeutung, als daß er nicht entscheidend sein sollte. Es ist nicht aus dem Stegreif, was ich spreche, ich habe Zeit gehabt zu denken, also vernehmt: Die Ursache, deine Hand mir zu verweigern, war meine Weigerung, dir zu folgen, wenn du aus Not oder Grille wandern würdest. Hier also erklär' ich feierlich vor diesem gültigen Zeugen, daß ich deinem Auswandern kein Hindernis in den Weg legen, vielmehr es befördern und dir überallhin folgen will. Gegen diese mir nicht abgenötigte, sondern nur durch die seltsamsten Umstände beschleunigte Erklärung verlang' ich aber im Augenblick deine Hand.« Er reichte sie hin, stand fest und sicher da, die beiden andern wichen überrascht, unwillkürlich zurück.
»Es ist ausgesprochen«, sagte der Jüngling, ruhig mit einer gewissen frommen Hoheit: »das sollte geschehen, es ist zu unser aller Bestem, Gott hat es gewollt; aber damit du nicht denkst, es sei Übereilung und Grille, so wisse nur, ich hatte dir zulieb auf Berg und Felsen Verzicht getan und eben jetzt in der Stadt alles eingeleitet, um nach deinem Willen zu leben. Nun aber geh' ich allein, du wirst mir die Mittel dazu nicht versagen, du behältst noch immer genug übrig, um es hier zu verlieren, wie du fürchtest und wie du recht hast zu fürchten. Denn ich habe mich endlich auch überzeugt: der künstliche, werktätige Schelm hat sich ins obere Tal gewendet, dort legt er Maschinen an, du wirst ihn alle Nahrung an sich ziehen sehen, vielleicht rufst du, und nur allzubald, einen treuen Freund zurück, den du vertreibst.«
Peinlicher haben nicht leicht drei Menschen sich gegenübergestanden, alle zusammen in Furcht, sich einander zu verlieren, und im Augenblick nicht wissend, wie sie sich wechselseitig erhalten sollten.
Leidenschaftlich entschlossen stürzte der Jüngling zur Türe hinaus. Auf ihres Vaters erkaltete Brust hatte die Schöne-Gute ihre Hand gelegt: »In die Nähe soll man nicht hoffen«, rief sie aus, »aber in die Ferne, das war sein letzter Segen. Vertrauen wir Gott, jeder sich selbst und dem andern, so wird sich's wohl fügen.«[435]
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