[322] Vorstehender wunderliche Brief war freilich schon lange geschrieben und hin und wider getragen worden, bis er endlich, der Aufschrift gemäß, diesmal abgegeben werden konnte. Wilhelm nahm sich vor, mit dem ersten Boten, dessen Absendung bevorstand, freundlich, aber ablehnend zu antworten. Hersilie schien die Entfernung nicht zu berechnen, und er war gegenwärtig zu ernstlich beschäftigt, als daß ihn auch nur die mindeste Neugierde, was in jenem Kästchen befindlich sein möchte, hätte reizen dürfen.
Auch gaben ihm einige Unfälle, die den derbsten Gliedern dieser tüchtigen Gesellschaft begegneten, Gelegenheit, sich meisterhaft in der von ihm ergriffenen Kunst zu beweisen. Und wie ein Wort das andere gibt, so folgt noch glücklicher eine Tat aus der andern, und wenn dadurch zuletzt auch wieder Worte veranlaßt werden, so sind diese um so fruchtbarer und geisterhebender. Die Unterhaltungen waren daher so belehrend als ergötzlich, denn die Freunde gaben sich wechselseitig Rechenschaft vom Gange des bisherigen Lernens und Tuns, woraus eine Bildung entstanden war, die sie wechselseitig erstaunen machte, dergestalt, daß sie sich untereinander erst selbst wieder mußten kennen lernen.
Eines Abends also fing Wilhelm seine Erzählung an: »Meine Studien als Wundarzt suchte ich sogleich in einer großen Anstalt der größten Stadt, wo sie nur allein möglich wird, zu fördern; zur Anatomie als Grundstudium wendete ich mich sogleich mit Eifer.[322]
Auf eine sonderbare Weise, welche niemand erraten würde, war ich schon in Kenntnis der menschlichen Gestalt weit vorgeschritten, und zwar während meiner theatralischen Laufbahn; alles genau besehen, spielt denn doch der körperliche Mensch da die Hauptrolle, ein schöner Mann, eine schöne Frau! Ist der Direktor glücklich genug, ihrer habhaft zu werden, so sind Komödien- und Tragödiendichter geborgen. Der losere Zustand, in dem eine solche Gesellschaft lebt, macht ihre Genossen mehr mit der eigentlichen Schönheit der unverhüllten Glieder bekannt als irgendein anderes Verhältnis; selbst verschiedene Kostüms nötigen, zur Evidenz zu bringen, was sonst herkömmlich verhüllt wird. Hievon hätt' ich viel zu sagen, so auch von körperlichen Mängeln, welche der kluge Schauspieler an sich und andern kennen muß, um sie, wo nicht zu verbessern, wenigstens zu verbergen, und auf diese Weise war ich vorbereitet genug, dem anatomischen Vortrag, der die äußern Teile näher kennen lehrte, eine folgerechte Aufmerksamkeit zu schenken; so wie mir denn auch die innern Teile nicht fremd waren, indem ein gewisses Vorgefühl davon mir immer gegenwärtig geblieben war. Unangenehm hindernd war bei dem Studium die immer wiederholte Klage vom Mangel der Gegenstände, über die nicht hinreichende Anzahl der verblichenen Körper, die man zu so hohen Zwecken unter das Messer wünschte. Solche, wo nicht hinreichend, doch in möglichster Zahl zu verschaffen, hatte man harte Gesetze ergehen lassen, nicht allein Verbrecher, die ihr Individuum in jedem Sinne verwirkt, sondern auch andere körperlich, geistig verwahrloste Umgekommene wurden in Anspruch genommen.
Mit dem Bedürfnis wuchs die Strenge und mit dieser der Widerwille des Volks, das in sittlicher und religioser Ansicht seine Persönlichkeit und die Persönlichkeit geliebter Personen nicht aufgeben kann.
Immer weiter aber stieg das Übel, indem die verwirrende Sorge hervortrat, daß man auch sogar für die friedlichen Gräber geliebter Abgeschiedener zu fürchten habe. Kein Alter, keine Würde, weder Hohes noch Niedriges war in seiner Ruhestätte mehr sicher; der Hügel, den man mit[323] Blumen geschmückt, die Inschriften, mit denen man das Andenken zu erhalten getrachtet, nichts konnte gegen die einträgliche Raubsucht schützen; der schmerzlichste Abschied schien aufs grausamste gestört, und indem man sich vom Grabe wegwendete, mußte schon die Furcht empfunden werden, die geschmückten, beruhigten Glieder geliebter Personen getrennt, verschleppt und entwürdigt zu wissen.
Alles dieses kam wiederholt und immer durchgedroschener zur Sprache, ohne daß irgend jemand an ein Hülfsmittel gedacht hätte oder daran hätte denken können, und immer allgemeiner wurden die Beschwerden, als junge Männer, die mit Aufmerksamkeit den Lehrvortrag gehört, sich auch mit Hand und Auge von dem bisher Gesehenen und Vernommenen überzeugen und sich die so notwendige Kenntnis immer tiefer und lebendiger der Einbildungskraft überliefern wollten.
In solchen Augenblicken entsteht eine Art von unnatürlichem wissenschaftlichem Hunger, welcher nach der widerwärtigsten Befriedigung wie nach dem Anmutigsten und Notwendigsten zu begehren aufregt.
Schon einige Zeit hatte ein solcher Aufschub und Aufenthalt die Wissens- und Tatlustigen beschäftigt und unterhalten, als endlich ein Fall, über den die Stadt in Bewegung geriet, eines Morgens das Für und Wider für einige Stunden heftig hervorrief. Ein sehr schönes Mädchen, verwirrt durch unglückliche Liebe, hatte den Tod im Wasser gesucht und gefunden; die Anatomie bemächtigte sich derselbigen; vergebens war die Bemühung der Eltern, Verwandten, ja des Liebhabers selbst, der nur durch falschen Argwohn verdächtig geworden. Die obern Behörden, die soeben das Gesetz geschärft hatten, durften keine Ausnahme bewilligen; auch eilte man, so schnell als möglich die Beute zu benutzen und zur Benutzung zu verteilen.«
Wilhelm, der als nächster Aspirant gleichfalls berufen wurde, fand vor dem Sitze, den man ihm anwies, auf einem saubern Brette, reinlich zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die Hülle wegnahm, lag der schönste[324] weibliche Arm zu erblicken, der sich wohl jemals um den Hals eines Jünglings geschlungen hatte. Er hielt sein Besteck in der Hand und getraute sich nicht, es zu eröffnen; er stand und getraute nicht niederzusitzen. Der Widerwille, dieses herrliche Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen, stritt mit der Anforderung, welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat und welcher sämtliche Umhersitzende Genüge leisteten.
In diesen Augenblicken trat ein ansehnlicher Mann zu ihm, den er zwar als einen seltenen, aber immer als einen sehr aufmerksamen Zuhörer und Zuschauer bemerkt und demselben schon nachgefragt hatte; niemand aber konnte nähere Auskunft geben; daß es ein Bildhauer sei, darin war man einig; man hielt ihn aber auch für einen Goldmacher, der in einem großen, alten Hause wohne, dessen erste Flur allein den Besuchenden oder bei ihm Beschäftigten zugänglich, die übrigen sämtlichen Räume jedoch verschlossen seien. Dieser Mann hatte sich Wilhelmen verschiedentlich genähert, war mit ihm aus der Stunde gegangen, wobei er jedoch alle weitere Verbindung und Erklärung zu vermeiden schien.
Diesmal jedoch sprach er mit einer gewissen Offenheit: »Ich sehe, Sie zaudern, Sie staunen das schöne Gebild an, ohne es zerstören zu können; setzen Sie sich über das Gildegefühl hinaus und folgen Sie mir.« Hiemit deckte er den Arm wieder zu, gab dem Saaldiener einen Wink, und beide verließen den Ort. Schweigend gingen sie nebeneinander her, als der Halbbekannte vor einem großen Tore stillestand, dessen Pförtchen er aufschloß und unsern Freund hineinnötigte, der sich sodann auf einer Tenne befand, groß, geräumig, wie wir sie in alten Kaufhäusern sehen, wo die ankommenden Kisten und Ballen sogleich untergefahren werden. Hier standen Gipsabgüsse von Statuen und Büsten, auch Bohlenverschläge gepackt und leer. »Es sieht hier kaufmännisch aus«, sagte der Mann; »der von hier aus mögliche Wassertransport ist für mich unschätzbar.« Dieses alles paßte nun ganz gut zu dem Gewerb eines Bildhauers; ebenso konnte Wilhelm nichts anders finden, als der freundliche Wirt ihn wenige Stufen hinauf in ein geräumiges[325] Zimmer führte, das ringsumher mit Hoch- und Flachgebilden, mit größeren und kleineren Figuren, Büsten und wohl auch einzelnen Gliedern der schönsten Gestalten geziert war. Mit Vergnügen betrachtete unser Freund dies alles und horchte gern den belehrenden Worten seines Wirtes, ob er gleich noch eine große Kluft zwischen diesen künstlerischen Arbeiten und den wissenschaftlichen Bestrebungen, von denen sie herkamen, gewahren mußte. Endlich sagte der Hausbesitzer mit einigem Ernst: »Warum ich Sie hierher führe, werden Sie leicht einsehen; diese Türe«, fuhr er fort, indem er sich nach der Seite wandte, »liegt näher an der Saaltüre, woher wir kommen, als Sie denken mögen.« Wilhelm trat hinein und hatte freilich zu erstaunen, als er, statt wie in den vorigen Nachbildung lebender Gestalten zu sehen, hier die Wände durchaus mit anatomischen Zergliederungen ausgestattet fand; sie mochten in Wachs oder sonstiger Masse verfertigt sein, genug, sie hatten durchaus das frische, farbige Ansehen erst fertig gewordener Präparate. »Hier, mein Freund«, sagte der Künstler, »hier sehen Sie schätzenswerte Surrogate für jene Bemühungen, die wir, mit dem Widerwillen der Welt, zu unzeitigen Augenblicken mit Ekel oft und großer Sorgfalt dem Verderben oder einem widerwärtigen Aufbewahren vorbereiten. Ich muß dieses Geschäft im tiefsten Geheimnis betreiben, denn Sie haben gewiß oft schon Männer vom Fach mit Geringschätzung davon reden hören. Ich lasse mich nicht irremachen und bereite etwas vor, welches in der Folge gewiß von großer Einwirkung sein wird. Der Chirurg besonders, wenn er sich zum plastischen Begriff erhebt, wird der ewig fortbildenden Natur bei jeder Verletzung gewiß am besten zu Hülfe kommen; den Arzt selbst würde ein solcher Begriff bei seinen Funktionen erheben. Doch lassen Sie uns nicht viel Worte machen! Sie sollen in kurzem erfahren, daß Aufbauen mehr belehrt als Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das Getötete noch weiter töten; kurz also, wollen Sie mein Schüler sein?« Und auf Bejahung legte der Wissende dem Gaste das Knochenskelett eines weiblichen Armes vor, in der Stellung, wie sie jenen vor kurzem vor sich gesehen[326] hatten. »Ich habe«, fuhr der Meister fort, »zu bemerken gehabt, wie Sie der Bänderlehre durchaus Aufmerksamkeit schenkten und mit Recht, denn mit ihnen beginnt sich für uns das tote Knochengerassel erst wieder zu beleben; Hesekiel mußte sein Gebeinfeld sich erst auf diese Weise wieder sammeln und fügen sehen, ehe die Glieder sich regen, die Arme tasten und die Füße sich aufrichten konnten. Hier ist biegsame Masse, Stäbchen und was sonst nötig sein möchte; nun versuchen Sie Ihr Glück.«
Der neue Schüler nahm seine Gedanken zusammen, und als er die Knochenteile näher zu betrachten anfing, sah er, daß diese künstlich von Holz geschnitzt seien. »Ich habe«, versetzte der Lehrer, »einen geschickten Mann, dessen Kunst nach Brote ging, indem die Heiligen und Märtyrer, die er zu schnitzen gewohnt war, keinen Abgang mehr fanden, ihn hab' ich darauf geleitet, sich der Skelettbildung zu bemächtigen und solche im großen wie im kleinen naturgemäß zu befördern.«
Nun tat unser Freund sein Bestes und erwarb sich den Beifall des Anleitenden. Dabei war es ihm angenehm, sich zu erproben, wie stark oder schwach die Erinnerung sei, und er fand zu vergnüglicher Überraschung, daß sie durch die Tat wieder hervorgerufen werde; er gewann Leidenschaft für diese Arbeit und ersuchte den Meister, in seine Wohnung aufgenommen zu werden. Hier nun arbeitete er unablässig; auch waren die Knochen und Knöchelchen des Armes in kurzer Zeit gar schicklich verbunden. Von hier aber sollten die Sehnen und Muskeln ausgehen, und es schien eine völlige Unmöglichkeit, den ganzen Körper auf diese Weise nach allen seinen Teilen gleichmäßig herzustellen. Hiebei tröstete ihn der Lehrer, indem er die Vervielfältigung durch Abformung sehen ließ, da denn das Nacharbeiten, das Reinbilden der Exemplare eben wieder neue Anstrengung, neue Aufmerksamkeit verlangte.
Alles, worein der Mensch sich ernstlich einläßt, ist ein Unendliches; nur durch wetteifernde Tätigkeit weiß er sich dagegen zu helfen; auch kam Wilhelm bald über den Zustand vom Gefühl seines Unvermögens, welches immer eine Art von Verzweiflung ist, hinaus und fand sich behaglich[327] bei der Arbeit. »Es freut mich«, sagte der Meister, »daß Sie sich in diese Verfahrungsart zu schicken wissen und daß Sie mir ein Zeugnis geben, wie fruchtbar eine solche Methode sei, wenn sie auch von den Meistern des Fachs nicht anerkannt wird. Es muß eine Schule geben, und diese wird sich vorzüglich mit Überlieferung beschäftigen; was bisher geschehen ist, soll auch künftig geschehen, das ist gut und mag und soll so sein. Wo aber die Schule stockt, das muß man bemerken und wissen; das Lebendige muß man ergreifen und üben, aber im stillen, sonst wird man gehindert und hindert andere. Sie haben lebendig gefühlt und zeigen es durch Tat, Verbinden heißt mehr als Trennen, Nachbilden mehr als Ansehen.«
Wilhelm erfuhr nun, daß solche Modelle im stillen schon weit verbreitet seien, aber zu größter Verwunderung vernahm er, daß das Vorrätige eingepackt und über See gehen solle. Dieser wackere Künstler hatte sich schon mit Lothario und jenen Befreundeten in Verhältnis gesetzt; man fand die Gründung einer solchen Schule in jenen sich heranbildenden Provinzen ganz besonders am Platze, ja höchst notwendig, besonders unter natürlich gesitteten, wohldenkenden Menschen, für welche die wirkliche Zergliederung immer etwas Kannibalisches hat. »Geben Sie zu, daß der größte Teil von Ärzten und Wundärzten nur einen allgemeinen Eindruck des zergliederten menschlichen Körpers in Gedanken behält und damit auszukommen glaubt, so werden gewiß solche Modelle hinreichen, die in seinem Geiste nach und nach erlöschenden Bilder wieder anzufrischen und ihm gerade das Nötige lebendig zu erhalten. Ja es kommt auf Neigung und Liebhaberei an, so werden sich die zartesten Resultate der Zergliederungskunst nachbilden lassen. Leistet dies ja schon Zeichenfeder, Pinsel und Grabstichel.«
Hier öffnete er ein Seitenschränkchen und ließ die Gesichtsnerven auf die wundersamste Weise nachgebildet erblicken. »Dies ist leider«, sprach er, »das letzte Kunststück eines abgeschiedenen jungen Gehülfen, der mir die beste Hoffnung gab, meine Gedanken durchzuführen und meine Wünsche nützlich auszubreiten.«[328]
Über die Einwirkung dieser Behandlungsweise nach manchen Seiten hin wurde gar viel zwischen beiden gesprochen, auch war das Verhältnis zur bildenden Kunst ein Gegenstand merkwürdiger Unterhaltung. Ein auffallendes, schönes Beispiel, wie auf diese Weise vorwärts und rückwärts zu arbeiten sei, ergab sich aus diesen Mitteilungen. Der Meister hatte einen schönen Sturz eines antiken Jünglings in eine bildsame Masse abgegossen und suchte nun mit Einsicht die ideelle Gestalt von der Epiderm zu entblößen und das schöne Lebendige in ein reales Muskelpräparat zu verwandeln. »Auch hier finden sich Mittel und Zweck so nahe beisammen, und ich will gern gestehen, daß ich über den Mitteln den Zweck vernachlässigt habe, doch nicht ganz mit eigener Schuld; der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch, der Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim, als sie den unförmlichen, widerwärtigen Ton zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen wußten; solche göttliche Gedanken muß er hegen, dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in der Natur? Aber vom Jahrhundert kann man dies nicht verlangen, ohne Feigenblätter und Tierfelle kommt es nicht aus, und das ist noch viel zu wenig. Kaum hatte ich etwas gelernt, so verlangten sie von mir würdige Männer in Schlafröcken und weiten Ärmeln und zahllosen Falten; da wendete ich mich rückwärts, und da ich das, was ich verstand, nicht einmal zum Ausdruck des Schönen anwenden durfte, so wählte ich, nützlich zu sein, und auch dies ist von Bedeutung. Wird mein Wunsch erfüllt, wird es als brauchbar anerkannt, daß, wie in so viel andern Dingen, Nachbildung und das Nachgebildete der Einbildungskraft und dem Gedächtnis zu Hülfe kommen, da, wo den Menschengeist eine gewisse Frische verläßt, so wird gewiß mancher bildende Künstler sich, wie ich es getan, herumwenden und lieber euch in die Hand arbeiten, als daß er gegen Überzeugung und Gefühl ein widerwärtiges Handwerk treibe.«
Hieran schloß sich die Betrachtung, daß es eben schön sei zu bemerken, wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die Waage halten und so nah verwandt immer eine zu der andern sich hinneigt, so daß die Kunst nicht sinken[329] kann, ohne in löbliches Handwerk überzugehen, das Handwerk sich nicht steigern, ohne kunstreich zu werden.
Beide Personen fügten und gewöhnten sich so vollkommen aneinander, daß sie sich nur ungern trennten, als es nötig ward, um ihren eigentlichen großen Zwecken entgegenzugehen.
»Damit man aber nicht glaube«, sagte der Meister, »daß wir uns von der Natur ausschließen und sie verleugnen wollen, so eröffnen wir eine frische Aussicht. Drüben über dem Meere, wo gewisse menschenwürdige Gesinnungen sich immerfort steigern, muß man endlich bei Abschaffung der Todesstrafe weitläufige Kastelle, ummauerte Bezirke bauen, um den ruhigen Bürger gegen Verbrechen zu schützen und das Verbrechen nicht straflos walten und wirken zu lassen. Dort, mein Freund, in diesen traurigen Bezirken, lassen Sie uns dem Äskulap eine Kapelle vorbehalten, dort, so abgesondert wie die Strafe selbst, werde unser Wissen immerfort an solchen Gegenständen erfrischt, deren Zerstückelung unser menschliches Gefühl nicht verletze, bei deren Anblick uns nicht, wie es Ihnen bei jenem schönen, unschuldigen Arm erging, das Messer in der Hand stocke und alle Wißbegierde vor dem Gefühl der Menschlichkeit ausgelöscht werde.«
»Dieses«, sagte Wilhelm, »waren unsre letzten Gespräche, ich sah die wohlgepackten Kisten den Fluß hinabschwimmen, ihnen die glücklichste Fahrt und uns eine gemeinsame frohe Gegenwart beim Auspacken wünschend.«
Unser Freund hatte diesen Vortrag mit Geist und Enthusiasmus wie geführt so geendigt, besonders aber mit einer gewissen Lebhaftigkeit der Stimme und Sprache, die man in der neuern Zeit nicht an ihm gewohnt war. Da er jedoch am Schluß seiner Rede zu bemerken glaubte, daß Lenardo, wie zerstreut und abwesend, das Vorgetragene nicht zu verfolgen schien, Friedrich hingegen gelächelt, einigemal beinahe den Kopf geschüttelt habe, so fiel dem zart empfindenden Mienenkenner eine so geringe Zustimmung bei der Sache, die ihm höchst wichtig schien, dergestalt auf, daß er nicht unterlassen konnte, seine Freunde deshalb zu berufen.[330]
Friedrich erklärte sich hierüber ganz einfach und aufrichtig, er könne das Vornehmen zwar löblich und gut, keineswegs aber für so bedeutend, am wenigsten aber für ausführbar halten. Diese Meinung suchte er durch Gründe zu unterstützen, von der Art, wie sie demjenigen, der für eine Sache eingenommen ist und sie durchzusetzen gedenkt, mehr, als man sich vorstellen mag, beleidigend auffällt. Deshalb denn auch unser plastischer Anatom, nachdem er einige Zeit geduldig zuzuhören schien, lebhaft erwiderte:
»Du hast Vorzüge, mein guter Friedrich, die dir niemand leugnen wird, ich am wenigsten, aber hier sprichst du wie gewöhnliche Menschen gewöhnlich; am Neuen sehen sie nur das Seltsame, im Seltenen jedoch alsobald das Bedeutende zu erblicken, dazu gehört schon mehr. Für euch muß erst alles in Tat übergehen, es muß geschehen, als möglich, als wirklich vor Augen treten, und dann laßt ihr es auch gut sein wie etwas anderes. Was du vorbringst, hör' ich schon zum voraus von Unterrichteten und Laien wiederholen; von jenen aus Vorurteil und Bequemlichkeit, von diesen aus Gleichgültigkeit. Ein Vorhaben wie das ausgesprochene kann vielleicht nur in einer neuen Welt durchgeführt werden, wo der Geist Mut fassen muß, zu einem unerläßlichen Bedürfnis neue Mittel auszuforschen, weil es an den herkömmlichen durchaus ermangelt. Da regt sich die Erfindung, da gesellt sich die Kühnheit, die Beharrlichkeit der Notwendigkeit hinzu.
Jeder Arzt, er mag mit Heilmitteln oder mit der Hand zu Werke gehen, ist nichts ohne die genauste Kenntnis der äußern und innern Glieder des Menschen, und es reicht keineswegs hin, auf Schulen flüchtige Kenntnis hievon genommen, sich von Gestalt, Lage, Zusammenhang der mannigfaltigsten Teile des unerforschlichen Organismus einen oberflächlichen Begriff gemacht zu haben. Täglich soll der Arzt, dem es Ernst ist, in der Wiederholung dieses Wissens, dieses Anschauens sich zu üben, sich den Zusammenhang dieses lebendigen Wunders immer vor Geist und Auge zu erneuern alle Gelegenheit suchen. Kennte er seinen Vorteil, er würde, da ihm die Zeit zu solchen Arbeiten ermangelt,[331] einen Anatomen in Sold nehmen, der, nach seiner Anleitung, für ihn im stillen beschäftigt, gleichsam in Gegenwart aller Verwicklungen des verflochtensten Lebens, auf die schwierigsten Fragen sogleich zu antworten verstände.
Je mehr man dies einsehen wird, je lebhafter, heftiger, leidenschaftlicher wird das Studium der Zergliederung getrieben werden. Aber in eben dem Maße werden sich die Mittel vermindern; die Gegenstände, die Körper, auf die solche Studien zu gründen sind, sie werden fehlen, seltener, teurer werden, und ein wahrhafter Konflikt zwischen Lebendigen und Toten wird entstehen.
In der alten Welt ist alles Schlendrian, wo man das Neue immer auf die alte, das Wachsende nach starrer Weise behandeln will. Dieser Konflikt, den ich ankündige zwischen Toten und Lebendigen, er wird auf Leben und Tod gehen, man wird erschrecken, man wird untersuchen, Gesetze geben und nichts ausrichten. Vorsicht und Verbot helfen in solchen Fällen nichts; man muß von vorn anfangen. Und das ist's, was mein Meister und ich in den neuen Zuständen zu leisten hoffen, und zwar nichts Neues, es ist schon da; aber das, was jetzo Kunst ist, muß Handwerk werden, was im Besondern geschieht, muß im Allgemeinen möglich werden, und nichts kann sich verbreiten, als was anerkannt ist. Unser Tun und Leisten muß anerkannt werden als das einzige Mittel in einer entschiedenen Bedrängnis, welche besonders große Städte bedroht. Ich will die Worte meines Meisters anführen, aber merkt auf! Er sprach eines Tages im größten Vertrauen:
›Der Zeitungsleser findet Artikel interessant und lustig beinah, wenn er von Auferstehungsmännern erzählen hört. Erst stahlen sie die Körper in tiefem Geheimnis; dagegen stellt man Wächter auf: sie kommen mit gewaffneter Schar, um sich ihrer Beute gewaltsam zu bemächtigen. Und das Schlimmste zum Schlimmen wird sich ereignen, ich darf es nicht laut sagen, denn ich würde, zwar nicht als Mitschuldiger, aber doch als zufälliger Mitwisser, in die gefährlichste Untersuchung verwickelt werden, wo man mich in jedem Fall bestrafen müßte, weil ich die Untat, sobald ich sie entdeckt hatte, den Gerichten nicht anzeigte. Ihnen gesteh'[332] ich's, mein Freund, in dieser Stadt hat man gemordet, um den dringenden, gut bezahlenden Anatomen einen Gegenstand zu verschaffen. Der entseelte Körper lag vor uns. Ich darf die Szene nicht ausmalen. Er entdeckte die Untat, ich aber auch, wir sahen einander an und schwiegen beide; wir sahen vor uns hin und schwiegen und gingen ans Geschäft. – Und dies ist's, mein Freund, was mich zwischen Wachs und Gips gebannt hat; dies ist's, was gewiß auch Sie bei der Kunst festhalten wird, welche früher oder später vor allen übrigen wird gepriesen werden.‹«
Friedrich sprang auf, schlug in die Hände und wollte des Bravorufens kein Ende machen, so daß Wilhelm zuletzt im Ernst böse wurde. »Bravo!« rief jener aus, »nun erkenne ich dich wieder! Das erstemal seit langer Zeit hast du wieder gesprochen wie einer, dem etwas wahrhaft am Herzen liegt; zum erstenmal hat der Fluß der Rede dich wieder fortgerissen, du hast dich als einen solchen erwiesen, der etwas zu tun und es anzupreisen imstande ist.«
Lenardo nahm hierauf das Wort und vermittelte diese kleine Mißhelligkeit vollkommen. »Ich schien abwesend«, sprach er, »aber nur deshalb, weil ich mehr als gegenwärtig war. Ich erinnerte mich nämlich des großen Kabinetts dieser Art, das ich auf meinen Reisen gesehen und welches mich dergestalt interessierte, daß der Kustode, der, um nach Gewohnheit fertig zu werden, die auswendig gelernte Schnurre herzubeten anfing, gar bald, da er der Künstler selber war, aus der Rolle fiel und sich als einen kenntnisreichen Demonstrator bewies.
Der merkwürdige Gegensatz, im hohen Sommer in kühlen Zimmern, bei schwüler Wärme draußen, diejenigen Gegenstände vor mir zu sehen, denen man im strengsten Winter sich kaum zu nähern getraut. Hier diente bequem alles der Wißbegierde. In größter Gelassenheit und schönster Ordnung zeigte er mir die Wunder des menschlichen Baues und freute sich, mich überzeugen zu können, daß zum ersten Anfang und zu später Erinnerung eine solche Anstalt vollkommen hinreichend sei; wobei denn einem jeden frei bleibe, in der mittlern Zeit sich an die Natur zu wenden und bei schicklicher Gelegenheit sich um diesen[333] oder jenen besondern Teil zu erkundigen. Er bat mich, ihn zu empfehlen. Denn nur einem einzigen, großen, auswärtigen Museum habe er eine solche Sammlung gearbeitet, die Universitäten aber widerstünden durchaus dem Unternehmen, weil die Meister der Kunst wohl Prosektoren, aber keine Proplastiker zu bilden wüßten.
Hiernach hielt ich denn diesen geschickten Mann für den einzigen in der Welt, und nun hören wir, daß ein anderer auf dieselbe Weise bemüht ist; wer weiß, wo noch ein Dritter und Vierter an das Tageslicht hervortritt. Wir wollen von unsrer Seite dieser Angelegenheit einen Anstoß geben. Die Empfehlung muß von außen herkommen, und in unsern neuen Verhältnissen soll das nützliche Unternehmen gewiß gefördert werden.«
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