Johann Wolfgang Goethe

[Studie nach Spinoza]

Der Begriff vom Dasein und der Vollkommenheit ist ein und ebenderselbe; wenn wir diesen Begriff so weit verfolgen, als es uns möglich ist, so sagen wir, daß wir uns das Unendliche denken.

Das Unendliche aber oder die vollständige Existenz kann von uns nicht gedacht werden.

Wir können nur Dinge denken, die entweder beschränkt sind oder die sich unsre Seele beschränkt. Wir haben also insofern einen Begriff vom Unendlichen, als wir uns denken können, daß es eine vollständige Existenz gebe, welche außer der Fassungskraft eines beschränkten Geistes ist.

Man kann nicht sagen, daß das Unendliche Teile habe.

Alle beschränkte Existenzen sind im Unendlichen, sind aber keine Teile des Unendlichen, sie nehmen vielmehr teil an der Unendlichkeit.

Wir können uns nicht denken, daß etwas Beschränktes durch sich selbst existiere, und doch existiert alles wirklich durch sich selbst, obgleich die Zustände so verkettet sind, daß einer aus dem andern sich entwickeln muß und es also scheint, daß ein Ding vom andern hervorgebracht werde, welches aber nicht ist, sondern ein lebendiges Wesen gibt dem andern Anlaß, zu sein, und nötigt es, in einem bestimmten Zustand zu existieren.

Jedes existierende Ding hat also sein Dasein in sich, und so auch die Übereinstimmung, nach der es existiert.

Das Messen eines Dings ist eine grobe Handlung, die auf lebendige Körper nicht anders als höchst unvollkommen angewendet werden kann.

Ein lebendig existierendes Ding kann durch nichts gemessen werden, was außer ihm ist, sondern wenn es ja geschehen sollte, müßte es den Maßstab selbst dazu hergeben;[140] dieser aber ist höchst geistig und kann durch die Sinne nicht gefunden werden; schon beim Zirkel läßt sich das Maß des Diameters nicht auf die Peripherie anwenden. So hat man den Menschen mechanisch messen wollen, die Maler haben den Kopf als den vornehmsten Teil zu der Einheit des Maßes genommen, es läßt sich aber doch dasselbe nicht ohne sehr kleine und unaussprechliche Brüche auf die übrigen Glieder anwenden.

In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, daß sie nur in und mit demselben begriffen werden können, und es können weder die Teile zum Maß des Ganzen noch das Ganze zum Maß der Teile angewendet werden, und so nimmt, wie wir oben gesagt haben, ein eingeschränktes lebendiges Wesen teil an der Unendlichkeit oder vielmehr, es hat etwas Unendliches in sich, wenn wir nicht lieber sagen wollen, daß wir den Begriff der Existenz und der Vollkommenheit des eingeschränktesten lebendigen Wesens nicht ganz fassen können und es also ebenso wie das ungeheure Ganze, in dem alle Existenzen begriffen sind, für unendlich erklären müssen.

Der Dinge, die wir gewahr werden, ist eine ungeheure Menge, die Verhältnisse derselben, die unsre Seele ergreifen kann, sind äußerst mannigfaltig. Seelen, die eine innre Kraft haben, sich auszubreiten, fangen an zu ordnen, um sich die Erkenntnis zu erleichtern, fangen an zu fügen und zu verbinden, um zum Genuß zu gelangen.

Wir müssen also alle Existenz und Vollkommenheit in unsre Seele dergestalt beschränken, daß sie unsrer Natur und unsrer Art zu denken und zu empfinden angemessen werden; dann sagen wir erst, daß wir eine Sache begreifen oder sie genießen.

Wird die Seele ein Verhältnis gleichsam im Keime gewahr, dessen Harmonie, wenn sie ganz entwickelt wäre, sie nicht ganz auf einmal überschauen oder empfinden könnte, so nennen wir diesen Eindruck erhaben, und es[141] ist der herrlichste, der einer menschlichen Seele zuteile werden kann.

Wenn wir ein Verhältnis erblicken, welches in seiner ganzen Entfaltung zu überschauen oder zu ergreifen das Maß unsrer Seele eben hinreicht, dann nennen wir den Eindruck groß.

Wir haben oben gesagt, daß alle lebendig existierende Dinge ihr Verhältnis in sich haben; den Eindruck also, den sie sowohl einzeln als in Verbindung mit andern auf uns machen, wenn er nur aus ihrem vollständigen Dasein entspringt, nennen wir wahr, und wenn dieses Dasein teils auf eine solche Weise beschränkt ist, daß wir es leicht fassen können, und in einem solchen Verhältnis zu unsrer Natur stehet, daß wir es gern ergreifen mögen, nennen wir den Gegenstand schön.

Ein Gleiches geschieht, wenn sich Menschen nach ihrer Fähigkeit ein Ganzes, es sei so reich oder arm als es wolle, von dem Zusammenhange der Dinge gebildet und nunmehr den Kreis zugeschlossen haben. Sie werden dasjenige, was sie am bequemsten denken, worin sie einen Genuß finden können, für das Gewisseste und Sicherste halten, ja man wird meistenteils bemerken, daß sie andere, welche sich nicht so leicht beruhigen und mehr Verhältnisse göttlicher und menschlicher Dinge aufzusuchen und zu erkennen streben, mit einem zufriedenen Mitleid ansehen und bei jeder Gelegenheit bescheiden trotzig merken lassen, daß sie im Wahren eine Sicherheit gefunden, welche über allen Beweis und Verstand erhaben sei. Sie können nicht genug ihre innere beneidenswerte Ruhe und Freude rühmen und diese Glückseligkeit einem jeden als das letzte Ziel andeuten. Da sie aber weder klar zu entdecken imstande sind, auf welchem Weg sie zu dieser Überzeugung gelangen, noch was eigentlich der Grund derselbigen sei, sondern bloß von Gewißheit als Gewißheit sprechen, so bleibt auch dem Lehrbegierigen wenig Trost bei ihnen, indem er immer hören muß, das Gemüt müsse immer einfältiger und einfältiger[142] werden, sich nur auf einen Punkt hin richten, sich aller mannigfaltigen verwirrenden Verhältnisse entschlagen, und nur alsdenn könne man aber auch um desto sicherer in einem Zustande sein Glück finden, der ein freiwilliges Geschenk und eine besondere Gabe Gottes sei.

Nun möchten wir zwar nach unsrer Art zu denken diese Beschränkung keine Gabe nennen, weil ein Mangel nicht als eine Gabe angesehen werden kann, wohl aber möchten wir es als eine Gnade der Natur ansehen, daß sie, da der Mensch nur meist zu unvollständigen Begriffen zu gelangen imstande ist, sie ihn doch mit einer solchen Zufriedenheit [in] seiner Enge versorgt hat.[143]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 18, Berlin 1960 ff.
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