Johann Wolfgang Goethe

Antik und modern

Da ich in vorstehendem genötigt war, zugunsten des Altertums, besonders aber der damaligen bildenden Künstler, soviel Gutes zu sagen, so wünschte ich doch nicht mißverstanden zu werden, wie es leider gar oft geschieht, indem der Leser sich eher auf den Gegensatz wirft, als daß er zu einer billigen Ausgleichung sich geneigt fände. Ich ergreife daher eine dargebotene Gelegenheit, um beispielweise zu erklären, wie es eigentlich gemeint sei, und auf das ewig fortdauernde Leben des menschlichen Tuns und Handelns, unter dem Symbol der bildenden Kunst, hinzudeuten.

Ein junger Freund, Karl Ernst Schubarth, in seinem Hefte »Zur Beurteilung Goethes«, welches ich in jedem Sinne zu schätzen und dankbar anzuerkennen habe, sagt: »Ich bin nicht der Meinung wie die meisten Verehrer der Alten, unter die Goethe selbst gehört, daß in der Welt für eine hohe, vollendete Bildung der Menschheit nichts ähnlich Günstiges sich hervorgetan habe wie bei den Griechen.« Glücklicherweise können wir diese Differenz mit Schubarths eigenen Worten ins gleiche bringen, indem er spricht: »Von unserem Goethe aber sei es gesagt, daß ich Shakespeare ihm darum vorziehe, weil ich in Shakespeare einen solchen tüchtigen, sich selbst unbewußten Menschen gefunden zu haben glaube, der mit höchster Sicherheit, ohne alles Räsonieren, Reflektieren, Subtilisieren, Klassifizieren und Potenzieren den wahren und falschen Punkt der Menschheit überall so genau, mit so nie irrendem Griff und so natürlich hervorhebt, daß ich zwar am Schluß bei Goethe immer das nämliche Ziel erkenne, von vornherein aber stets mit dem Entgegengesetzten zuerst zu kämpfen, es zu überwinden und mich sorgfältig in acht zu nehmen habe, daß ich nicht für blanke Wahrheit hinnehme, was doch nur als entschiedener Irrtum abgelehnt werden soll.«

Hier trifft unser Freund den Nagel auf den Kopf, denn[218] gerade da, wo er mich gegen Shakespeare im Nachteil findet, stehen wir im Nachteil gegen die Alten. Und was reden wir von den Alten? Ein jedes Talent, dessen Entwickelung von Zeit und Umständen nicht begünstigt wird, so daß es sich vielmehr erst durch vielfache Hindernisse durcharbeiten, von manchen Irrtümern sich losarbeiten muß, steht unendlich im Nachteil gegen ein gleichzeitiges, welches Gelegenheit findet, sich mit Leichtigkeit auszubilden und, was es vermag, ohne Widerstand auszuüben.

Bejahrten Personen fällt aus der Fülle der Erfahrung oft bei Gelegenheit ein, was eine Behauptung erläutern und bestärken könnte; deshalb sei folgende Anekdote zu erzählen vergönnt. Ein geübter Diplomat, der meine Bekanntschaft wünschte, sagte, nach dem er mich bei dem ersten Zusammentreffen nur überhin angesehen und gesprochen, zu seinen Freunden: »Voilà un homme qui a eu de grands chagrins!« Diese Worte gaben mir zu denken: der gewandte Gesichtsforscher hatte recht gesehen, aber das Phänomen bloß durch den Begriff von Duldung ausgedrückt, was er auch der Gegenwirkung hätte zuschreiben sollen. Ein aufmerksamer, gerader Deutscher hätte vielleicht gesagt: Das ist auch einer, der sich's hat sauer werden lassen!

Wenn sich nun in unseren Gesichtszügen die Spur überstandenen Leidens, durchgeführter Tätigkeit nicht auslöschen läßt, so ist es kein Wunder, wenn alles, was von uns und unserem Bestreben übrigbleibt, dieselbe Spur trägt und dem aufmerksamen Beobachter auf ein Dasein hindeutet, das in einer glücklichsten Entfaltung sowie in der notgedrungensten Beschränkung sich gleich zu bleiben und, wo nicht immer die Würde, doch wenigstens die Hartnäckigkeit des menschlichen Wesens durchzuführen trachtete.

Lassen wir also Altes und Neues, Vergangenes und Gegenwärtiges fahren und sagen im allgemeinen: Jedes künstlerisch Hervorgebrachte versetzt uns in die Stimmung,[219] in welcher sich der Verfasser befand. War sie heiter und leicht, so werden wir uns frei fühlen; war sie beschränkt, sorglich und bedenklich, so zieht sie uns gleichmäßig in die Enge.

Nun bemerken wir bei einigem Nachdenken, daß hier eigentlich nur von der Behandlung die Rede sei; Stoff und Gehalt kommt nicht in Betracht. Schauen wir sodann diesem gemäß in der Kunstwelt frei umher, so gestehen wir, daß ein jedes Erzeugnis uns Freude macht, was dem Künstler mit Bequemlichkeit und Leichtigkeit gelungen. Welcher Liebhaber besitzt nicht mit Vergnügen eine wohlgeratne Zeichnung oder Radierung unseres Chodowiecki? Hier sehen wir eine solche Unmittelbarkeit an der uns bekannten Natur, daß nichts zu wünschen übrigbleibt. Nur darf er nicht aus seinem Kreise, nicht aus seinem Format herausgehen, wenn nicht alle seiner Individualität gegönnten Vorteile sollen verloren sein.

Wir wagen uns weiter und bekennen, daß Manieristen sogar, wenn sie es nur nicht allzuweit treiben, uns viel Vergnügen machen und daß wir ihre eigenhändigen Arbeiten sehr gern besitzen. Künstler, die man mit diesem Namen benennt, sind mit entschiedenem Talente geboren, allein sie fühlen bald, daß nach Verhältnis der Tage sowie der Schule, worein sie gekommen, nicht zu Federlesen Raum bleibt, sondern daß man sich entschließen und fertig werden müsse. Sie bilden sich daher eine Sprache, mit welcher sie, ohne weiteres Bedenken, die sichtbaren Zustände leicht und kühn behandeln und uns, mit mehr oder minderm Glück, allerlei Weltbilder vorspiegeln, wo durch denn manchmal ganze Nationen mehrere Dezennien hindurch angenehm unterhalten und getäuscht werden, bis zuletzt einer oder der andere wieder zur Natur und höheren Sinnesart zurückkehrt.

Daß es bei den Alten auch zuletzt auf eine solche Art von Manier hinauslief, sehen wir an den »Herkulanischen Altertümern«; allein die Vorbilder waren zu groß, zu frisch,[220] wohlerhalten und gegenwärtig, als daß ihre Dutzendmaler sich hätten ganz ins Nichtige verlieren können.

Treten wir nun auf einen höhern und angenehmern Standpunkt und betrachten das einzige Talent Raffaels. Dieser, mit dem glücklichsten Naturell geboren, erwuchs in einer Zeit, wo man redlichste Bemühung, Aufmerksamkeit, Fleiß und Treue der Kunst widmete. Vorausgehende Meister führten den Jüngling bis an die Schwelle, und er brauchte nur den Fuß aufzuheben, um in den Tempel zu treten. Durch Peter Perugin zur sorgfältigsten Ausführung angehalten, entwickelt sich sein Genie an Leonard da Vinci und Michelangelo. Beide gelangten während eines langen Lebens, ungeachtet der höchsten Steigerung ihrer Talente, kaum zu dem eigentlichen Behagen des Kunstwirkens. Jener hatte sich, genau besehen, wirklich müde gedacht und sich allzusehr am Technischen abgearbeitet; dieser, anstatt uns zu dem, was wir ihm schon verdanken, noch Überschwengliches im Plastischen zu hinterlassen, quält sich die schönsten Jahre durch in Steinbrüchen nach Marmorblöcken und Bänken, so daß zuletzt von allen beabsichtigten Heroen des Alten und Neuen Testamentes der einzige Moses fertig wird, als ein Musterbild dessen, was hätte geschehen können und sollen. Raffael hingegen wirkt seine ganze Lebenszeit hindurch mit immer gleicher und größerer Leichtigkeit. Gemüts- und Tatkraft stehen bei ihm in so entschiedenem Gleichgewicht, daß man wohl behaupten darf, kein neuerer Künstler habe so rein und vollkommen gedacht als er und sich so klar ausgesprochen. Hier haben wir also wieder ein Talent, das uns aus der ersten Quelle das frischeste Wasser entgegensendet. Er gräzisiert nirgends, fühlt, denkt, handelt aber durchaus wie ein Grieche. Wir sehen hier das schönste Talent zu ebenso glücklicher Stunde entwickelt, als es unter ähnlichen Bedingungen und Umständen zu Perikles' Zeit geschah.

Und so muß man immer wiederholen: Das geborne Talent wird zur Produktion gefordert, es fordert dagegen[221] aber auch eine natur- und kunstgemäße Entwickelung für sich; es kann sich seiner Vorzüge nicht begeben und kann sie ohne äußere Zeitbegünstigung nicht gemäß vollenden.

Man betrachte die Schule der Carracci. Hier lag Talent, Ernst, Fleiß und Konsequenz zum Grunde, hier war ein Element, in welchem sich schöne Talente natur- und kunstgemäß entwickeln konnten. Wir sehen ein ganzes Dutzend vorzüglicher Künstler von dort ausgehen, jeden in gleichem, allgemeinem Sinn sein besonderes Talent üben und bilden, so daß kaum nach der Zeit ähnliche wieder erscheinen konnten.

Sehen wir ferner die ungeheuren Schritte, welche der talentreiche Rubens in die Kunstwelt hineintut! Auch er ist kein Erdgeborner; man schaue die große Erbschaft, in die er eintritt, von den Urvätern des 14. und 15. Jahrhunderts durch alle die trefflichen des 16. hindurch, gegen dessen Ende er geboren wird.

Betrachtet man neben und nach ihm die Fülle niederländischer Meister des 17., deren große Fähigkeiten sich bald zu Hause, bald südlich, bald nördlich ausbilden, so wird man nicht leugnen können, daß die unglaubliche Sagazität, womit ihr Auge die Natur durchdrungen, und die Leichtigkeit, womit sie ihr eignes gesetzliches Behagen ausgedrückt, uns durchaus zu entzücken geeignet sei. Ja, insofern wir dergleichen besitzen, beschränken wir uns gern ganze Zeiten hindurch auf Betrachtung und Liebe solcher Erzeugnisse und verargen es Kunstfreunden keineswegs, die sich ganz allein im Besitz und Verehrung dieses Faches begnügen.

Und so könnten wir noch hundert Beispiele bringen, das, was wir aussprechen, zu bewahrheiten. Die Klarheit der Ansicht, die Heiterkeit der Aufnahme, die Leichtigkeit der Mitteilung, das ist es, was uns entzückt; und wenn wir nun behaupten, dieses alles finden wir in den echt griechischen Werken, und zwar geleistet am edelsten Stoff, am würdigsten Gehalt, mit sicherer und vollendeter Ausführung,[222] so wird man uns verstehen, wenn wir immer von dort ausgehen und immer dort hinweisen. Jeder sei auf seine Art ein Grieche! Aber er sei's.

Ebenso ist es mit dem schriftstellerischen Verdienste. Das Faßliche wird uns immer zuerst ergreifen und vollkommen befriedigen; ja wenn wir die Werke eines und desselben Dichters vornehmen, so finden wir manche, die auf eine gewisse peinliche Arbeit hindeuten, andere dagegen, weil das Talent dem Gehalt und der Form vollkommen gewachsen war, wie freie Naturerzeugnisse hervortreten. Und so ist unser wiederholtes, aufrichtiges Bekenntnis: daß keiner Zeit versagt sei, das schönste Talent hervorzubringen, daß aber nicht einer jeden gegeben ist, es vollkommen würdig zu entwickeln.


Und so führen wir noch zum Schlusse einen neueren Künstler vor, um zu zeigen, daß wir nicht eben gar zu hoch hinaus wollen, sondern auch mit bedingten Werken und Zuständen zufrieden sind. Sebastian Bourdon, ein dem siebzehnten Jahrhundert angehöriger Künstler, dessen Name wohl jedem Kunstliebhaber mehrmals um die Ohren gesummt, dessen Talent jedoch in seiner echten Individualität nicht immer verdiente Anerkennung genossen hat, liefert uns vier eigenhändig radierte Blätter, in welchen er den Verlauf der Flucht nach Ägypten vollständig vorführt.

Man muß zuvörderst den Gegenstand wohl gelten lassen, daß ein bedeutendes Kind aus uraltem Fürstenstamme, dem beschieden ist, künftig auf die Welt ungeheuern Einfluß zu haben, wodurch das Alte zerstört und ganz Erneutes dagegen herangeführt wird, daß ein solcher Knabe in den Armen der liebevollsten Mutter, unter Obhut des bedächtigsten Greises geflüchtet und mit göttlicher Hülfe gerettet werde. Die verschiedenen Momente dieser bedeutenden Handlung sind hundertmal vorgestellt, und manche hiernach entsprungene Kunstwerke reißen uns oft zur Bewunderung hin.[223]

Von den vier gemeldeten Blättern haben wir jedoch folgendes zu sagen, damit ein Liebhaber, der sie nicht selbst vor Augen schaut, einigermaßen unsern Beifall beurteilen möge. In diesen Bildern erscheint Joseph als die Hauptperson; vielleicht waren sie für eine Kapelle dieses Heiligen bestimmt.


I

Das Lokal mag für den Stall zu Bethlehem, unmittelbar nach dem Scheiden der drei frommen Magier, gehalten werden, denn in der Tiefe sieht man noch die beiden bewußten Tiere. Auf einem erhöhteren Hausraum ruht Joseph, anständig in Falten gehüllt, auf das Gepäck gebettet, wider den hohen Sattel gelehnt, worauf das heilige Kind, soeben erwachend, sich rührt. Die Mutter daneben ist in frommem Gebete begriffen. Mit diesem ruhigen Tagesanbruch kontrastiert ein höchst bewegter, gegen Joseph heranschwebender Engel, der mit beiden Händen nach einer Gegend hindeutet, die, mit Tempeln und Obelisken geschmückt, ein Traumbild Ägyptens hervorruft. Zimmermanns-Handwerkzeug liegt vernachlässigt am Boden.


II

Zwischen Ruinen hat sich die Familie nach einer starken Tagreise niedergelassen. Joseph, an das beladene, lastbare, aus einem Steintroge sich nährende Tier gelehnt, scheint einer augenblicklichen Ruhe stehend zu genießen; aber ein Engel fährt hinter ihm her, ergreift seinen Mantel und deutet nach dem Meere hin. Joseph, in die Höhe schauend und zugleich nach des Tieres Futter hindeutend, möchte noch kurze Frist für das müde Geschöpf erbitten. Die heilige Mutter, die sich mit dem Kind beschäftigte, schaut verwundert nach dem seltsamen Zwiegespräch herum: denn der Himmelsbote mag ihr unsichtbar sein.


III

[224] Drückt eine eilende Wanderschaft vollkommen aus. Sie lassen eine große Bergstadt zur Rechten hinter sich. Knapp am Zaum führt Joseph das Tier einen Pfad hinab, welchen sich die Einbildungskraft um desto steiler denkt, weil wir davon gar nichts, vielmehr gleich unten hinter dem Vordergrunde das Meer sehen. Die Mutter, auf dem Sattel, weiß von keiner Gefahr, ihre Blicke sind völlig in das schlafende Kind versenkt. Sehr geistvoll ist die Eile der Wandernden dadurch angedeutet, daß sie schon das Bild größtenteils durchzogen haben und im Begriff sind, auf der linken Seite zu verschwinden.


IV

Ganz im Gegensatz des vorigen ruhen Joseph und Maria in der Mitte des Bildes auf dem Gemäuer eines Röhrbrunnens. Joseph, dahinter stehend und herübergelehnt, deutet auf ein im Vordergrund umgestürztes Götzenbild und scheint der heiligen Mutter dieses bedeutende Zeichen zu erklären. Sie, das Kind an der Brust, schaut ernst und horchend, ohne daß man wüßte, wonach sie blickt. Das entbürdete Tier schmaust hinterwärts an reich grünenden Zweigen. In der Ferne sehen wir die Obelisken wieder, auf die im Traume gedeutet war. Palmen in der Nähe überzeugen uns, daß wir in Ägypten schon angelangt sind.


Alles dieses hat der bildende Künstler in so engen Räumen mit leichten, aber glücklichen Zügen dargestellt. Durchdringendes, vollständiges Denken, geistreiches Leben, Auffassen des Unentbehrlichsten, Beseitigung alles Überflüssigen, glücklich flüchtige Behandlung im Ausführen, dies ist es, was wir an unsern Blättern rühmen, und mehr bedarf es nicht: denn wir finden hier so gut als irgendwo die Höhe der Kunst erreicht. Der Parnaß ist ein Montserrat,[225] der viele Ansiedelungen in mancherlei Etagen erlaubt; ein jeder gehe hin, versuche sich, und er wird eine Stätte finden, es sei auf Gipfeln oder in Winkeln.[226]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 20, Berlin 1960 ff.
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