[803] Ende August stellten sich Regentage ein, und in den Landhäusern, in denen Öfen waren, begannen die Schornsteine zu rauchen; in denen es aber keine gab, gingen die Mieter mit verbundenen Wangen herum, und endlich wurden die Landhäuser leer. Oblomow ließ sich in der Stadt nicht blicken, und eines Morgens sah er, wie man Iljinskys Möbel an seinen Fenstern vorübertrug und vorüberfuhr. Trotzdem es ihm jetzt nicht mehr als eine Heldentat erschien, die Wohnung zu wechseln oder irgendwo unterwegs zu essen und einen ganzen Tag lang nicht auszuruhen, wußte er nun doch nicht, wo er während der Nacht ein Obdach finden könnte. Es erschien ihm als gänzlich ausgeschlossen, jetzt allein auf dem Lande zu bleiben, nachdem der Park und der Hain verödet waren und Oljgas Fensterläden sich geschlossen hatten. Er ging durch ihre leeren Zimmer, durchschritt den Park, stieg vom Berge herab, und sein Herz krampfte sich vor Trauer zusammen. Er befahl Sachar und Anissja, auf die Wiborgskajastraße zu übersiedeln, wo er so lange bleiben wollte, bis er eine Wohnung gefunden hatte, dann fuhr er in die Stadt, aß schnell im Gasthause und verbrachte den Abend bei Oljga.
Doch die Herbstabende in der Stadt glichen nicht den langen, hellen Tagen und Abenden im Park und Hain. Hier konnte er Oljga nicht mehr dreimal täglich sehen; hier kam Katja nicht zu ihm, und er schickte auch Sachar nicht auf eine Entfernung von fünf Werst mit einem Briefchen hinüber. Und das ganze blühende Liebespoem des Sommers schien stehenzubleiben und sich träger[804] fortzubewegen, als mangle es ihm an Inhalt. Sie schwiegen manchmal eine halbe Stunde lang. Oljga vertiefte sich in ihre Arbeit und zählte leise mit der Nadel die Karos des Musters, während er sich in ein Chaos von Gedanken vertiefte, schon in der Zukunft lebte und dem gegenwärtigen Augenblick weit vorauseilte. Nur manchmal erzitterte er vor Leidenschaft, wenn er sie forschend anschaute, oder sie blickte ihn flüchtig an und lächelte, wenn sie aus seinen Augen einen Strahl zärtlicher Ergebenheit und stummen Glückes auffing. Er fuhr drei Tage lang in die Stadt zu Oljga und aß dort unter dem Vorwande, daß er noch nicht eingerichtet sei, im Laufe der Woche einziehen würde und sich deshalb in der neuen Wohnung nicht wie zu Hause fühlte, zu Mittag. Doch am vierten Tage erschien ihm das unpassend, und er fuhr seufzend nach Hause, nachdem er neben Iljinskys Wohnung herumgeirrt war. Am fünften Tage aßen sie nicht zu Hause. Am sechsten Tage sagte ihm Oljga, er sollte in ein bestimmtes Geschäft kommen, sie würde dort sein, und er könnte sie dann nach Hause begleiten, während der Wagen ihnen nachfahren würde. Das alles war unbequem; er und sie trafen Bekannte, die sie grüßten und von denen einige sie mit Gesprächen aufhielten. »Ach, du mein Gott, welch eine Qual!« sagte er, vor Angst und Unbehaglichkeit schwitzend. Auch die Tante blickte ihn mit ihren großen, matten Augen an und roch nachdenklich an ihrem Fläschchen, als verursachte er ihr Kopfschmerzen. Und wie weit er zu fahren hatte! Bis er von der Wiborgskajastraße hinkam und abends zurückkehrte, vergingen drei Stunden.
»Wollen wir's der Tante sagen,« drängte Oblomow, »dann kann ich von morgen an bei euch bleiben und niemand wird etwas sagen dürfen ...«
»Warst du bei den Behörden?« fragte Oljga.
Oblomow hatte große Lust, »ich war dort und habe alles erledigt,« zu sagen, doch er wußte, daß Oljga ihn forschend anblicken und von seinem Gesicht sofort die Lüge ablesen würde. Er seufzte, statt zu antworten.[805]
»Ach, wenn du wüßtest, wie schwierig das ist,« sagte er.
»Und du hast mit dem Bruder der Hausfrau gesprochen und eine Wohnung gefunden?« fragte sie dann, ohne die Augen zu heben.
»Er ist des Morgens nie zu Hause, und abends bin ich hier,« sagte Oblomow und freute sich, eine genügende Ausrede gefunden zu haben.
Jetzt seufzte Oljga, sagte aber nichts.
»Morgen spreche ich sicher mit dem Bruder,« beruhigte Oblomow sie. »Morgen ist Sonntag; er geht nicht in die Kanzlei!«
»Bevor das alles erledigt ist, kann man nicht mit der Tante sprechen und muß seltener beisammen sein ...« sagte Oljga sinnend.
»Ja, ja ... das ist wahr,« fügte Oblomow erschrocken hinzu.
»Iß bei uns am Sonntag zu Mittag, das ist unser Empfangstag, und komm dann vielleicht allein am Mittwoch,« beschloß sie. »Außerdem können wir uns im Theater sehen. Du weißt, wann wir hinfahren und kannst auch kommen.«
»Ja, das ist wahr,« sagte er, darüber erfreut, daß sie die Sorge um ihre Zusammenkünfte auf sich nahm.
»Und wenn ein schöner Tag ist,« schloß sie, »fahre ich in den Sommergarten spazieren, und auch du kannst hinkommen; das wird uns an den Park erinnern ... an den Park!« wiederholte sie ausdrucksvoll.
Er küßte ihr schweigend die Hand und nahm von ihr bis Sonntag Abschied. Sie folgte ihm traurig mit den Augen, setzte sich dann ans Klavier und gab sich ganz den Tönen hin. Ihr Herz beweinte etwas, und auch die Tasten weinten. Sie wollte singen – sie konnte aber nicht!
Am nächsten Tag stand Oblomow auf und zog einen leichten Rock an, den er auf dem Lande getragen hatte. Vom Schlafrocke hatte er sich längst verabschiedet und ihn im Schrank hängen lassen. Sachar ging, seiner Gewohnheit nach, das Präsentierbrett wiegend, ungeschickt an den Tisch heran und brachte Kaffee und Kringel. Hinter Sachar erschien, wie gewöhnlich, Anissja[806] bis zur Hälfte in der Tür und beobachtete, ob Sachar das Brett glücklich auf den Tisch stellte; wenn er aber etwas fallen ließ, sprang sie eilig heran, um die übrigen Gegenstände zu retten. Dann begann Sachar zuerst über die Sachen und dann über seine Frau zu schimpfen und zielte mit dem Ellbogen auf ihre Brust.
»Der Kaffee ist so gut! Wer kocht ihn?« fragte Oblomow.
»Die Hausfrau selbst,« sagte Sachar; »sie tut es schon seit sechs Tagen. Sie geben zu viel Zichorie hinein,« sagt sie, »und kochen den Kaffee zu wenig. Lassen Sie nur mich es tun!«
»Er ist sehr gut!« wiederholte Oblomow, sich eine zweite Schale einschenkend. »Danke ihr.«
»Hier ist sie selbst,« sagte Sachar, auf die halbgeöffnete Tür des Nebenzimmers hinweisend. »Das ist wohl ihre Speisekammer; hier arbeitet sie immer, sie hält hier den Tee, den Zucker, den Kaffee und das Geschirr.«
Oblomow sah nur den Rücken der Hausfrau, ihren Nacken, einen Teil ihres weißen Halses und ihre nackten Ellbogen.
»Warum bewegt sie dort so schnell ihre Ellbogen?« fragte Oblomow.
»Wer weiß! Vielleicht bügelt sie Spitzen.«
Oblomow beobachtete, wie die Ellbogen arbeiteten, und wie der Rücken sich beugte und aufrichtete.
Wenn sie sich bückte, sah man ihren reinen Unterrock, ihre reinen Strümpfe und die runden, dicken Füße.
Sie ist eine Beamtenfrau und hat Ellbogen wie eine Gräfin, mit Grübchen! dachte Oblomow.
Um die Mittagsstunde kam Sachar fragen, ob er nicht von der Piroge kosten wolle. Die Hausfrau bäte ihn darum.
»Heute ist Sonntag, da haben sie eine Piroge gebacken.«
»Na, ich kann mir die Piroge vorstellen!« sagte Oblomow geringschätzig. »Wahrscheinlich mit Zwiebeln und Rüben ...«
»Die Piroge ist nicht schlimmer als in Oblomowka,«[807] bemerkte Sachar, »mit jungen Hühnern und frischen Pilzen.«
»Ah, das muß dann gut sein. Bring mir ein Stück! Wer bäckt das? Diese schmutzige Alte?«
»Aber wo denken Sie hin?« sagte Sachar verächtlich. »Wenn die Hausfrau nicht dabei wäre, könnte sie nicht einmal den Teig anmachen. Die Hausfrau macht alles selbst in der Küche. Sie hat die Piroge mit Anissja zusammen gebacken.«
Nach fünf Minuten erschien aus dem Nebenzimmer ein nackter Arm, der mit dem ihm bekannten Schal kaum bedeckt war; die Hand hielt einen Teller, auf dem ein ungeheures Stück Piroge dampfte.
»Danke bestens,« antwortete Oblomow freundlich, die Piroge in Empfang nehmend, blickte in die Tür hinein und heftete seine Augen auf die hohe Brust und die nackten Schultern. Die Tür wurde eilig geschlossen. »Wünschen Sie einen Schnaps?« hörte er fragen.
»Ich trinke nicht; danke vielmals,« sagte Oblomow noch freundlicher. »Was für einen haben Sie?«
»Unseren eigenen, selbstgemachten. Wir lassen ihn auf Johannisbeerblättern ziehen,« sprach die Stimme.
»Ich habe einen auf Johannisbeerblättern gezogenen nie getrunken. Wenn Sie erlauben, werde ich ihn kosten!«
Die Hand erschien wieder mit einem Teller und einem Gläschen Schnaps. Oblomow trank; er schmeckte ihm sehr gut.
»Besten Dank!« sagte er und versuchte, in die Tür hineinzublicken; doch sie wurde zugeschlagen.
»Warum lassen Sie sich nicht anschauen, damit ich Ihnen guten Morgen sagen kann?« fragte Oblomow vorwurfsvoll.
Die Hausfrau lachte hinter der Tür auf.
»Ich bin noch im Morgenkleid. Ich war die ganze Zeit in der Küche. Ich ziehe mich jetzt an; der Bruder kehrt gleich von der Messe zurück,« antwortete sie schüchtern.
»Ach ja, da Sie vom Bruder sprechen,« bemerkte Oblomow, »erinnere ich mich, daß ich ihn sprechen muß.«[808]
»Gut, ich werde es ihm sagen, wenn er zurückkehrt.«
»Wer hustet bei Ihnen? Ich höre einen so trockenen Husten.«
»Das ist die Großmutter, sie hustet schon das achte Jahr.«
Die Tür wurde zugeschlagen.
Wie sie ist ... so einfach, dachte Oblomow, es ist aber etwas in ihr ... Und sie ist so reinlich.
Bis jetzt hatte er noch nicht Gelegenheit gehabt, den »Bruder« kennenzulernen. Er sah nur manchmal vom Bett aus, ganz früh des Morgens am Gitter des Zauns, einen Mann mit einem großen Papierbündel vorüberhuschen und in dem Gäßchen verschwinden, und um fünf Uhr kehrte derselbe Mann mit demselben Paket zurück, huschte an den Fenstern vorüber und verschwand auf der Stiege. Man hörte ihn im Hause nicht. Man merkte aber, daß dort Menschen lebten, besonders des Morgens. In der Küche klapperten die Messer, man hörte durch das Fenster, wie die Alte in einer Ecke etwas auswusch, wie der Hausbesorger Holz hackte oder ein Faß mit Wasser auf zwei Rädern vorüberfuhr; hinter der Wand weinten Kinder, oder es ertönte der hartnäckige trockene Husten der Großmutter.
Oblomow gehörten vier Zimmer, das heißt die ganze Hauptfront des Hauses. Die Hausfrau nahm mit ihrer Familie zwei bescheidene Zimmer ein, während der Bruder oben im Giebelzimmer wohnte. Oblomows Schlaf- und Arbeitszimmer ging mit den Fenstern nach dem Hof hinaus, das Wohnzimmer nach dem Garten und der Salon nach dem großen Gemüsegarten mit dem Kraut und den Kartoffeln. Im Wohnzimmer waren die Fenster mit verblaßten Kattunvorhängen drapiert. An die Wände schmiegten sich einfache Sessel aus Nußholz; unter dem Spiegel stand ein L'hombre-Tisch; auf den Fensterbrettern drängten sich Töpfe mit Geranien und Samtblumen, und darüber hingen vier Käfige mit Zeisigen und Kanarienvögeln.
Der Bruder kam auf den Fußspitzen herein und beantwortete[809] Oblomows Gruß mit einer dreifachen Verbeugung. Alle Knöpfe seiner Uniform waren geschlossen, so daß man nicht beurteilen konnte, ob er Wäsche trug oder nicht; die Krawatte war in einen einfachen Knoten geschlungen, und ihre Enden waren versteckt. Er war etwa vierzig Jahre alt, trug auf der Stirn einen geraden Schopf und auf beiden Schläfen zwei lose Schöpfe, die an Hundeohren mittlerer Größe erinnerten. Die grauen Augen blieben nicht sofort an einem Gegenstand haften, sondern blickten zuerst verstohlen hin und richteten sich erst beim zweitenmal fest auf einen Punkt. Er schien sich seiner Hände zu schämen und bestrebte sich, sie beim Sprechen beide auf dem Rücken oder die eine hinter dem Brustlatz und die andere rückwärts zu verstecken. Wenn er seinem Chef ein Papier hinreichte und erklärte, hielt er die eine Hand auf dem Rücken und zeigte mit dem Mittelfinger der zweiten Hand, den er mit dem Nagel nach unten drehte, vorsichtig auf irgendeine Zeile oder ein Wort hin und versteckte sofort wieder die Hand, vielleicht deswegen, weil seine Finger dick und rötlich waren und ein wenig zitterten und er Grund hatte, sie für nicht ganz anständig zu halten und sie selten sehen zu lassen.
»Sie haben zu befehlen geruht,« begann er, seinen doppelten Blick Oblomow zuwerfend, »ich möchte kommen.«
»Ja, ich wollte mit Ihnen bezüglich der Wohnung sprechen. Bitte, Platz zu nehmen!« antwortete Oblomow höflich.
Iwan Matwejewitsch entschloß sich nach einer wiederholten Einladung, Platz zu nehmen, indem er seinen Körper vorbeugte und die Hände in die Ärmel einzog.
»Neueingetretener Umstände wegen muß ich mir eine andere Wohnung suchen,« sagte Oblomow, »und möchte diese jemand übergeben.«
»Jetzt ist es schwer, sie jemand zu übergeben,« gab Iwan Matwejewitsch zur Antwort, indem er in seine Finger hustete und sie dann schnell in seinen Ärmel versteckte,[810] »wenn Sie uns Ende Sommer beehrt hätten, da haben sich viele die Wohnung angeschaut.«
»Ich war da, habe Sie aber nicht angetroffen.«
»Die Schwester hat mir's gesagt,« fügte der Beamte hinzu.
»Sie sollten aber nicht ausziehen. Sie werden es hier bequem haben. Vielleicht stört Sie das Geflügel?«
»Welches Geflügel?«
»Die Hühner.«
Oblomow hörte zwar vom frühen Morgen an immer das laute Gackern der Bruthenne und das Piepsen der Küchlein unter seinen Fenstern, aber beachtete er denn jetzt so etwas? Vor ihm schwebte Oljgas Gestalt, und er hatte für seine Umgebung kaum einen Blick.
»Nein, das macht nichts,« sagte er, »ich dachte, Sie meinen die Kanarienvögel; sie beginnen schon früh des Morgens zu singen.«
»Wir werden sie hinaustragen,« antwortete Iwan Matwejewitsch.
»Auch das macht nichts,« bemerkte Oblomow, »ich kann aber aus verschiedenen Gründen nicht hier bleiben.«
»Wie es beliebt,« antwortete Iwan Matwejewitsch. »Wie ist es aber mit dem Kontrakt, wenn Sie keinen Mieter finden? Werden Sie uns entschädigen ...? Das wird Sie in Unkosten stürzen.«
»Wieviel verlangen Sie?« fragte Oblomow.
»Ich werde das gleich berechnen.«
Er brachte den Kontrakt und das Rechenbrett.
»Die Wohnung kostet also achthundert Rubel. Wir haben hundert Rubel Angabe bekommen, es bleiben also noch siebenhundert Rubel zurück,« sagte er.
»Soll ich Ihnen denn wirklich für ein ganzes Jahr zahlen, wenn ich bei Ihnen keine vierzehn Tage wohne?« unterbrach ihn Oblomow.
»Wie könnte es anders sein?« entgegnete Iwan Matwejewitsch sanft und eindringlich. »Die Schwester ist sonst ungerechterweise im Nachteil. Sie ist eine arme Witwe; sie lebt nur davon, was ihr das Haus trägt, und[811] verdient außerdem vielleicht etwas an ihren Hühnern und Eiern, um die Kinder zu kleiden.«
»Aber ich bitte Sie, das geht nicht,« begann Oblomow, »sagen Sie selbst; ich wohne keine vierzehn Tage hier. Was ist denn das, wofür?«
»Da steht es im Kontrakt,« antwortete Iwan Matwejewitsch, mit dem Mittelfinger auf zwei Zeilen hinweisend und ihn dann versteckend, »haben Sie die Güte, zu lesen: ›Im Falle, wenn ich, Oblomow, vor der Zeit die Wohnung verlasse, bin ich verpflichtet, dieselbe einer anderen Person unter den gleichen Bedingungen zu übergeben oder Frau Pschenizin durch das Bezahlen der Miete für das ganze Jahr, bis zum ersten Juni künftigen Jahres, zu entschädigen.‹«
»Was ist denn das?« fragte Oblomow, »das ist ungerecht.«
»So fordert es das Gesetz,« bemerkte Iwan Matwejewitsch. »Sie haben selbst die Güte gehabt, es zu unterschreiben. Da ist Ihre Unterschrift!«
Unter der Unterschrift erschien wieder der Finger und verschwand.
»Wieviel also?« fragte Oblomow.
»Siebenhundert Rubel,« begann Iwan Matwejewitsch mit demselben Finger zu rechnen, indem er ihn jedesmal schnell in die Faust versteckte, »und hundertfünfzig Rubel für den Stall und den Wagenschuppen.«
Er klapperte wieder mit dem Rechenbrett.
»Aber ich bitte Sie, ich habe keine Pferde, ich halte keine. Wozu brauche ich einen Stall und Wagenschuppen?« entgegnete Oblomow lebhaft.
»Das steht im Kontrakt,« bemerkte Iwan Matwejewitsch, mit dem Finger auf eine Zeile hinweisend. »Michej Andreitsch hat gesagt, daß Sie sich Pferde anschaffen werden.«
»Michej Andreitsch lügt!« sagte Oblomow ärgerlich. »Geben Sie mir den Kontrakt!«
»Hier ist die Kopie, der Kontrakt gehört meiner Schwester,« gab Iwan Matwejewitsch sanft zur Antwort und[812] nahm den Kontrakt in die Hand. »Außerdem ist für den Gemüsegarten und den Konsum von Kraut, Rüben und anderem Gemüse für eine Person ungefähr zweihundertfünfzig Rubel zu rechnen.«
Er wollte mit dem Rechenbrett klappern.
»Was für einen Gemüsegarten? Was für ein Kraut? Ich weiß von nichts, was sagen Sie da?« entgegnete Oblomow fast drohend.
»Da steht es im Kontrakt. Michej Andreitsch hat gesagt, daß Sie die Wohnung unter diesen Bedingungen mieten ...«
»Was soll denn das bedeuten, daß Sie ohne mein Wissen über mein Essen verfügen? Ich will weder Kraut noch Rüben ...« sagte Oblomow sich erhebend.
Auch Iwan Matwejewitsch sprang vom Sessel auf.
»Aber entschuldigen Sie, wieso ohne Ihr Wissen? Da ist die Unterschrift!« entgegnete er.
Der dicke Finger zitterte wieder über der Unterschrift, und das ganze Papier zitterte in seiner Hand.
»Wieviel rechnen Sie alles in allem?« fragte Oblomow ungeduldig.
»Dann noch hundertvierundfünfzig Rubel achtundzwanzig Kopeken für das Streichen der Plafonds und Türen, für das Ändern der Fenster in der Küche und für die neuen Türhaspen.«
»Wie, ist denn das auch auf meine Rechnung gemacht worden?« fragte Oblomow erstaunt. »Das wird immer vom Hausherrn bezahlt. Wer zieht denn in eine unfertige Wohnung ein?«
»Hier im Kontrakt heißt es, daß es auf Ihre Rechnung geschehen ist,« sagte Iwan Matwejewitsch, aus der Ferne mit dem Finger auf die Stelle zeigend, wo das stand. »Tausenddreihundertvierundfünfzig Rubel achtundzwanzig Kopeken alles in allem!« schloß er sanft, beide Hände mit dem Kontrakt auf dem Rücken versteckend.
»Wo soll ich das hernehmen? Ich habe kein Geld,« entgegnete Oblomow, durch das Zimmer schreitend. »Wozu brauche ich denn eure Rüben und euer Kraut?«[813]
»Wie es Ihnen beliebt,« fügte Iwan Matwejewitsch leise hinzu. »Sie sollten sich aber keine Scherereien machen. Sie werden es hier bequem haben. Und was das Geld anbelangt ... Die Schwester wird warten.«
»Ich kann nicht, aus verschiedenen Gründen nicht! ... Hören Sie?«
»Ich höre. Wie es Ihnen beliebt,« antwortete Iwan Matwejewitsch gehorsam und trat um einen Schritt zurück.
»Gut, ich werde es mir überlegen und werde die Wohnung jemand zu übergeben versuchen!« sagte Oblomow, dem Beamten zunickend.
»Das geht schwer; übrigens, wie es Ihnen beliebt!« schloß Iwan Matwejewitsch, verneigte sich dreimal und ging hinaus.
Oblomow zog seine Brieftasche hervor und zählte das Geld. Es waren im ganzen dreihundertfünf Rubel. Er starrte. »Wo ist das Geld hingekommen?« fragte Oblomow sich selbst erstaunt und fast entsetzt. »Man hat mir zu Anfang des Sommers tausendzweihundert Rubel vom Gut geschickt, und jetzt habe ich nur noch dreihundert!«
Er begann zu zählen und versuchte sich aller Ausgaben zu entsinnen. Ihm fielen aber nur zweihundertfünfzig Rubel ein.
»Wofür habe ich das Geld ausgegeben?« fragte er. »Sachar, Sachar!«
»Was wünschen Sie?«
»Wo ist denn unser ganzes Geld? Wir haben ja keines mehr!«
Sachar begann in den Taschen zu suchen, nahm einen halben Rubel und zehn Kopeken heraus und legte sie auf den Tisch.
»Da, ich habe vergessen, es Ihnen zurückzugeben; das ist vom Umzug zurückgeblieben!« sagte er.
»Was legst du mir das Kleingeld her? Sag mir lieber, wo die achthundert Rubel hingekommen sind!«
»Wie kann ich das wissen? Weiß ich denn, wie Sie das Geld ausgeben, was Sie den Droschkenkutschern zahlen?«[814]
»Ja, die Wagen haben viel gekostet,« erinnerte sich Oblomow, indem er Sachar anblickte. »Weißt du nicht mehr, wieviel wir dem Droschkenkutscher auf dem Lande gezahlt haben?«
»Wie sollte ich mich daran erinnern? Einmal haben Sie mich dreißig Rubel zahlen lassen, das weiß ich.«
»Wenn du alles aufschreiben könntest!« warf Oblomow ihm vor. »Es ist schlimm, so ungebildet zu sein!«
»Ich habe mein Leben, Gott sei Dank, auch ohne Bildung nicht schlimmer als die andern verbracht!« entgegnete Sachar, zur Seite blickend.
Stolz hat recht: Man muß im Dorfe eine Schule einrichten! dachte Oblomow.
»Bei Iljinskys soll ein Gebildeter gewesen sein, wie die Leute erzählen,« fuhr Sachar fort, »und der hat das Silber aus der Kredenz gestohlen!«
Na, ich danke! dachte Oblomow ängstlich. Diese Gebildeten sind wirklich ganz demoralisiert; sie treiben sich in den Schenken herum, kaufen sich Harmonikas und Tee ... Nein, es ist zu früh, Schulen einzuführen! ...
»Nun, wofür haben wir noch Geld ausgegeben?« fragte er.
»Wie kann ich das wissen? Sie haben noch Michej Andreitsch auf dem Lande Geld gegeben ...«
»Wirklich!« sagte Oblomow erfreut, eine neue Ausgabe zu entdecken. »Also dreißig Rubel dem Kutscher und ich glaube fünfundzwanzig Rubel Tarantjew ... Was noch?«
Er blickte Sachar sinnend und fragend an, während Sachar ihn finster von der Seite ansah.
»Vielleicht weiß es Anissja?« fragte Oblomow.
»Wie sollte es diese Närrin wissen? Was weiß denn ein Frauenzimmer?« sagte Sachar verächtlich.
»Mir fällt nichts ein!« schloß Oblomow verzweifelt. »Vielleicht waren Diebe da?«
»Wenn Diebe dagewesen wären, hätten sie alles genommen!« sagte Sachar und ging.
Oblomow setzte sich in den Lehnstuhl und sann nach. Wo soll ich denn das Geld hernehmen? dachte er, bis ihm[815] der kalte Schweiß kam. Wann bekomme ich etwas vom Gut und wieviel?
Er sah auf die Uhr; es war zwei Uhr, die Stunde, da er zu Oljga fahren sollte. Heute war der Tag, an dem er dort speiste. Er wurde nach und nach heiterer, ließ eine Droschke holen und fuhr auf die Morskajastraße.
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
|
Buchempfehlung
»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.
90 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro