|
[785] Oblomow strahlte, als er nach Hause ging. Sein Blut wogte, seine Augen leuchteten. Ihm schien, daß sogar seine Haare flammten. So trat er in sein Zimmer – da plötzlich verschwand das Leuchten, und seine Augen blieben in unangenehmem Staunen an einem Punkt haften; auf seinem Sessel saß Tarantjew.
»Wie lange soll man denn noch auf dich warten? Wo treibst du dich herum?« fragte Tarantjew streng, indem er ihm seine zottige Hand hinstreckte. »Auch dein alter Teufel ist ganz aus Rand und Band; ich verlange einen Imbiß – er sagt, es ist nichts da, er hat mir nicht einmal einen Schnaps gegeben.«
»Ich bin hier im Hain spazierengegangen,« sagte Oblomow nachlässig und konnte sich von dem Schlag, der das Erscheinen des Landsmanns in einem solchen Augenblick für ihn war, noch nicht erholen.
Er hatte die düstere Sphäre, in der er bis dahin gelebt hatte, vergessen und war deren bedrückende Luft nicht mehr gewöhnt. Tarantjew zerrte ihn im Nu vom Himmel gleichsam wieder in den Sumpf herab. Oblomow fragte sich gequält: Warum war Tarantjew gekommen? War es für lange? Ihm kam die furchtbare Vermutung, er könnte vielleicht zum Essen dableiben, und dann wäre es nicht möglich, zu Iljinskys zu gehen. Der einzige Gedanke, der Oblomow beschäftigte, war, wie er ihn, selbst wenn das einige Ausgaben erfordern sollte, loswerden konnte. Er wartete schweigend und düster ab, was Tarantjew sagen würde.
»Warum schaust du dich gar nicht nach der Wohnung um, Landsmann?« fragte Tarantjew.[785]
»Das ist jetzt nicht mehr nötig,« sagte Oblomow und bestrebte sich, Tarantjew nicht anzublicken. »Ich ... ziehe nicht dorthin.«
»W-as? Wieso ziehst du nicht hin?« entgegnete Tarantjew drohend, »du hast sie gemietet und ziehst nicht ein? Und der Kontrakt?«
»Was für ein Kontrakt?«
»Hast du schon vergessen? Du hast einen Kontrakt auf ein Jahr unterschrieben. Gib mir die achthundert Rubel, und geh dann, wohin du willst. Vier Personen haben die Wohnung angeschaut und wollten sie mieten; man hat alle abgewiesen. Jemand wollte sie auf drei Jahre mieten.«
Oblomow erinnerte sich erst jetzt, daß Tarantjew ihm am Tage des Umzuges aufs Land ein Papier gebracht hatte, das er in der Eile, ohne es zu lesen, unterschrieben hatte.
Ach mein Gott, was habe ich angerichtet! dachte er.
»Ich brauche aber keine Wohnung,« sagte Oblomow, »ich reise ins Ausland ...«
»Ins Ausland!« unterbrach Tarantjew, »mit diesem Deutschen? Aber das ist doch nichts für dich ... Du wirst doch nicht hinreisen!«
»Warum nicht? Ich habe schon einen Paß, ich werde ihn gleich zeigen. Ich habe auch einen Reisekoffer gekauft.«
»Du wirst nicht reisen!« wiederholte Tarantjew gleichgültig. »Gib mir das Geld für das halbe Jahr lieber im vorhinein.«
»Ich habe kein Geld.«
»Verschaffe dir welches, woher du willst; der Bruder meiner Gevatterin, Iwan Matwejewitsch, liebt keine Scherze. Er reicht gleich bei den Behörden ein; dann kommst du nicht mehr los. Ich habe für dich gezahlt, gib mir das Geld zurück.«
»Woher hast du so viel Geld?« fragte Oblomow.
»Was geht das dich an? Ich habe eine alte Schuld behoben. Gib das Geld her! Ich bin deswegen gekommen.«[786]
»Gut; ich komme dieser Tage und übergebe die Wohnung einem anderen, und jetzt habe ich Eile ...«
Er knöpfte sich den Rock zu.
»Was brauchst du denn für eine Wohnung? Du findest in der ganzen Stadt keine bessere. Du hast sie ja nicht gesehen.«
»Ich will sie gar nicht sehen, wozu soll ich dorthin ziehen? Sie ist für mich zu weit weg ...«
»Wovon?« fragte Tarantjew grob. Doch Oblomow antwortete nichts.
»Vom Zentrum,« fügte er dann hinzu.
»Von welchem Zentrum? Wozu brauchst du es? Um zu liegen?«
»Nein, ich liege jetzt nicht mehr.«
»Warum denn nicht?«
»So. Ich ... bin heute ...« begann Oblomow.
»Was?« unterbrach Tarantjew.
»Ich esse nicht zu Hause ...«
»Gib das Geld her und scher dich zum Teufel!«
»Was für ein Geld?« wiederholte Oblomow ungeduldig. »Ich komme dieser Tage in die Wohnung und werde mit der Hausbesitzerin sprechen.«
»Mit welcher Hausbesitzerin? Mit der Gevatterin? Was versteht sie? Ein Frauenzimmer! Nein, sprich mit ihrem Bruder, dann wirst du was erleben.«
»Nun gut; ich werde hinfahren und mit ihnen sprechen.«
»Da kann man lange warten! Gib das Geld her, dann kannst du gehen.«
»Ich hab' keins; ich muß mir welches leihen.«
»Dann bezahle mir jetzt wenigstens für die Droschke,« ließ Tarantjew nicht nach, »drei Rubel!«
»Wo ist denn deine Droschke? Und wofür drei Rubel?«
»Ich habe den Kutscher fortgeschickt. Wieso wofür? Er hat mich gar nicht herfahren wollen: ›Durch diesen Sand?‹ sagt er. Und für die Rückfahrt drei Rubel – macht sechs Rubel.«
»Von hier fährt ein Omnibus für fünfzig Kopeken,« sagte Oblomow, »da hast du!«[787]
Er gab ihm vier Rubel. Tarantjew steckte das Geld ein.
»Du bleibst mir noch zwei Rubel schuldig,« fügte er hinzu. »Und zahle mir mein Mittagessen!«
»Welches Mittagessen?«
»Ich komme jetzt nicht mehr zur rechten Zeit in die Stadt, ich werde genötigt sein, unterwegs in einem Gasthaus zu essen; hier kostet alles viel; ich werde fünf Rubel zahlen müssen.«
Oblomow nahm schweigend einen Rubel heraus und warf ihn ihm zu. Er setzte sich nicht, vor Ungeduld, und erwartete, Tarantjew würde bald fortgehen; doch er ging nicht.
»Laß mir doch einen Imbiß geben,« sagte er.
»Du wolltest doch im Gasthaus essen?« bemerkte Oblomow.
»Das wird mein Mittagessen sein! Jetzt geht es aber erst auf zwei Uhr.«
Oblomow befahl Sachar etwas hereinzubringen.
»Es ist nichts da, wir haben nichts vorbereitet,« gab Sachar trocken zur Antwort, indem er Tarantjew düster anblickte. »Wie ist's, Michej Andreitsch, wann bringen Sie das Hemd und die Weste vom gnädigen Herrn? ...«
»Was für ein Hemd und eine Weste willst du haben?« wich Tarantjew aus, »ich habe das längst zurückgebracht.«
»Wann denn?« fragte Sachar.
»Hab' ich es dir denn nicht in die Hand gegeben, als ihr ausgezogen seid? Und du hast's irgendwohin in ein Bündel gesteckt und fragst jetzt danach ...«
Sachar erstarrte.
»Ach du mein Gott! Ilja Iljitsch, was das für eine Schande ist!« brüllte er, sich an Oblomow wendend.
»Fahr nur in derselben Tonart fort!« entgegnete Tarantjew, »du hast die Sachen wohl vertrunken und fragst jetzt danach ...«
»Nein, ich habe noch mein Lebtag nichts Herrschaftliches vertrunken!« krächzte Sachar, »aber Sie ...«[788]
»Hör auf, Sachar!« unterbrach Oblomow streng.
»Haben Sie unseren Besen und die zwei Schalen fortgetragen?« fragte Sachar wieder.
»Welchen Besen?« donnerte Tarantjew. »O du alter Schurke! Gib lieber den Imbiß her!«
»Hören Sie, Ilja Iljitsch, wie er schimpft?« sagte Sachar. »Es ist kein Imbiß da, wir haben nicht einmal Brot im Hause und Anissja ist fortgegangen!« schloß er und ging.
»Wo ißt du denn?« fragte Tarantjew, »das ist ja ein wahres Wunder; Oblomow geht im Hain spazieren, ißt nicht zu Hause ... Wann ziehst du denn in die Wohnung ein? Es ist doch schon Herbst. Komm und schau sie dir an.«
»Gut, gut, dieser Tage ...«
»Und vergiß nicht, das Geld mitzubringen!«
»Ja, ja, ja ...« sagte Oblomow ungeduldig.
»Übrigens, brauchst du nicht noch etwas in der Wohnung? Man hat für dich die Fußböden und Plafonds, die Fenster und Türen, überhaupt alles angestrichen; das kostet mehr als hundert Rubel.«
»Ja, ja, gut ... Ach ja, ich wollte dir etwas sagen,« erinnerte sich plötzlich Oblomow, »laß mir, bitte, meine Vollmacht von den Behörden bestätigen ...«
»Bin ich denn dein Laufbursche?«
»Ich gebe dir noch etwas fürs Mittagessen.«
»Man zerreißt sich dabei mehr Stiefel, als du mir geben wirst.«
»Fahre nur hin, ich zahle dir dafür.«
»Ich darf nicht hingehen,« sprach Tarantjew düster.
»Warum?«
»Ich habe Feinde; sie zürnen mir und stellen mir Fallen, um mich zu verderben.«
»Nun gut, dann fahre ich selbst hin,« sagte Oblomow und griff nach seinem Hut.
»Wenn du in die Wohnung einziehst, wird dir Iwan Matwejewitsch alles besorgen. Das ist ein goldener Mensch, Bruder, nicht mit einem deutschen Parvenü zu vergleichen! Er ist ein alter russischer Beamter, sitzt seit[789] dreißig Jahren auf demselben Stuhl und leitet das ganze Büro nach seinem Willen, er hat auch Geld, erlaubt sich aber nicht einmal eine Droschke zu nehmen, sein Frack ist nicht besser als der meinige; er ist sehr bescheiden, spricht so leise, daß man es kaum hört, treibt sich nicht im Ausland herum, wie dieser ...«
»Tarantjew!« schrie Oblomow auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, »schweig, wenn du etwas nicht verstehst!«
Tarantjew glotzte Oblomow nach diesem unerhörten Ausfall an und vergaß sogar, darüber beleidigt zu sein, daß Stolz ihm vorgezogen wurde.
»Wie du bist, Bruder ...« brummte er, indem er nach dem Hut griff, »wo nimmst du die Courage her?«
Er strich mit dem Ärmel über seinen Hut, betrachtete ihn dann und wandte seinen Blick Oblomows Hut zu, der auf der Etagere lag.
»Du trägst deinen Hut nicht, da hast du ja eine Mütze,« sagte er, Oblomows Hut nehmend und ihn anprobierend, »gib ihn mir für den Sommer, Bruder ...«
Oblomow nahm ihm schweigend den Hut ab, legte ihn auf den früheren Platz, kreuzte dann die Hände auf der Brust übereinander und wartete, daß Tarantjew ging.
»Nun, geh zum Teufel!« sagte Tarantjew, sich ungeschickt durch die Tür schiebend. »Du bist heute so ... seltsam, Bruder ... Sprich nur mit Iwan Matwejewitsch und versuch's einmal, ihm nicht zu zahlen ...«
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
|
Buchempfehlung
Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.
44 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro