Neuntes Kapitel

[881] Der Bruder trat wieder ebenso bescheiden ins Zimmer, setzte sich ebenso vorsichtig auf einen Sessel und wartete, was Ilja Iljitsch sagen würde.

»Ich habe von dem Gut einen sehr unangenehmen Brief als Antwort auf die hingeschickte Vollmacht bekommen, wissen Sie noch?« sagte Oblomow, »haben Sie die Güte, ihn zu lesen.«

Iwan Matwejewitsch ergriff den Brief, überflog mit getrübten Augen die Zeilen, und der Brief zitterte leicht in seinen Fingern. Nachdem er den Brief gelesen hatte, legte er ihn auf den Tisch und versteckte die Hände auf dem Rücken.

»Was glauben Sie, daß man jetzt tun soll?« fragte Oblomow.

»Man rät Ihnen, hinzufahren«, sagte Iwan Matwejewitsch. »Tausendzweihundert Werst sind nicht etwas gar so Arges! In einer Woche wird der Weg schon gut sein, da können Sie hinfahren.«

»Ich bin das Reisen gar nicht mehr gewohnt; im Winter hinzureisen wäre mir, offen gesagt, schwer und unangenehm ... Außerdem ist das Alleinsein auf dem Gut sehr langweilig.«

»Und haben Sie viele Bauern?« fragte Iwan Matwejewitsch.

»Ja ... ich weiß nicht; ich war schon lange nicht auf dem Gute.«

»Das müßte man wissen, sonst kann man nichts machen ... und kann keine Erkundigungen darüber einziehen, wieviel das Gut Ihnen trägt.«[882]

»Ja, das müßte man«, wiederholte Oblomow, »der Nachbar schreibt das auch; aber jetzt beginnt schon der Winter.«

»Und wie haben Sie die Abgaben verteilt?«

»Abgaben? Ich glaube ... gedulden Sie sich ein wenig, ich habe irgendwo eine Liste gehabt; Stolz hat sie mir einmal aufgestellt, es ist aber schwer, sie zu finden; Sachar hat sie gewiß irgendwo hingesteckt. Ich zeige sie Ihnen später ... ich glaube, es waren dreißig Rubel per Hof.«

»Wie sind denn Ihre Bauern? Wie leben sie?« fragte Iwan Matwejewitsch. »Sind sie reich oder arm? Wie hoch sind denn die Abgaben?«

»Hören Sie«, sagte Oblomow, an ihn herantretend und ihn zutraulich am Uniformrock fassend. Iwan Matwejewitsch erhob sich schnell, doch Oblomow ließ ihn sich wieder niedersetzen. »Hören Sie«, wiederholte er langsam, fast flüsternd, »ich weiß nicht, wie hoch die Abgaben sind, was die Landwirtschaft ist, was ein reicher und ein armer Bauer ist; ich weiß nicht, was eine Tschetwert Roggen oder Hafer bedeutet, was in welchem Monat gesät und geschnitten wird und wie und wann verkauft wird; ich weiß nicht, ob ich reich oder arm bin, ob ich in einem Jahre satt oder ein Bettler bin – ich weiß nichts!« schloß er traurig, den Rock loslassend und von Iwan Matwejewitsch zurücktretend, »also sprechen Sie mit mir und raten Sie mir wie einem Kind ...«

»Wie kann ich das denn, ich muß doch alles wissen, sonst kann ich nichts raten«, sagte Iwan Matwejewitsch mit sanftem Lächeln, erhob sich und legte die eine Hand hinter den Brustlatz und die andere auf den Rücken. »Ein Gutsbesitzer muß sein Gut kennen und muß wissen, wie man damit umgeht ...« sagte er belehrend.

»Ich kenne es aber nicht, lehren Sie es mich, wenn Sie können.«

»Ich habe mich mit so etwas noch nie befaßt; ich muß mich mit Sachverständigen beraten. Man schreibt Ihnen ja im Briefe«, fuhr Iwan Matwejewitsch fort, mit dem Mittelfinger, dessen Nagel er nach unten zukehrte, auf[883] die entsprechende Seite des Briefes hinweisend, »daß Sie sich wählen lassen sollen; das trifft sich ja gerade recht! Sie würden dort leben, im Kreisgerichte angestellt sein und könnten bei der Gelegenheit mit der Wirtschaft vertraut werden.«

»Ich weiß nicht, was ein Kreisgericht ist, was man darin tut und was das für ein Amt ist!« sagte Oblomow, wieder mit Nachdruck, aber leise, an Iwan Matwejewitsch ganz dicht herantretend.

»Sie werden sich daran gewöhnen. Sie haben ja hier im Departement gearbeitet. Das bleibt sich überall gleich, es besteht nur ein kleiner Unterschied in der Form. Überall gibt es Vorschriften, Relationen und Protokolle ... Wenn nur ein guter Sekretär da ist, dann brauchen Sie sich gar keine Sorgen zu machen und haben nur zu unterschreiben. Wenn Sie wissen, wie in einem Departement gearbeitet wird ...«

»Ich weiß auch nicht, wie im Departement gearbeitet wird«, sagte Oblomow mit eintöniger Stimme.

Iwan Matwejewitsch richtete seinen doppelten Blick auf Oblomow und schwieg.

»Sie haben gewiß immer Bücher gelesen?« bemerkte er mit demselben sanften Lächeln.

»Gelesen!« erwiderte Oblomow bitter und schwieg.

Es mangelte ihm an Mut, und es war auch nicht notwendig, seine Seele vor einem Kanzleibeamten zu entblößen. Ich habe auch keine Bücher gelesen, regte sich in ihm der Gedanke, wollte aber nicht von der Zunge und löste sich in einen traurigen Seufzer auf.

»Sie haben sich doch aber mit irgend etwas beschäftigt«, fügte der Bruder bescheiden hinzu, als hatte er in Oblomows Seele die Antwort betreffs der Bücher gelesen, »es ist doch unmöglich, daß ...«

»Es ist möglich, Iwan Matwejewitsch, da haben Sie einen lebendigen Beweis, mich! Wer bin ich? Was bin ich? Fragen Sie Sachar, und er wird Ihnen sagen: ›Ein gnädiger Herr!‹ Ja, ich bin ein gnädiger Herr und kann nichts tun! Tun Sie es und helfen Sie mir, wenn Sie können,[884] und nehmen Sie sich für Ihre Mühe alles, was Sie wollen – man muß eine gute Lehre immer teuer erkaufen!«

Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, während Iwan Matwejewitsch auf demselben Fleck stehenblieb und seinen Körper jedesmal leise der Ecke zukehrte, der Oblomow zuschritt. Sie schwiegen beide eine Weile.

»Wo haben Sie gelernt?« fragte Oblomow, wieder vor ihm stehenbleibend.

»Ich habe anfangs das Gymnasium besucht, der Vater hat mich aber aus der sechsten Klasse austreten lassen und hat mich in die Kanzlei geschickt. Was wir gelernt haben, Lesen, Schreiben, Grammatik und Arithmetik, das ist alles. Ich habe in meinem Amte einige Übung erlangt und schlage mich, so gut es geht, durch. Mit Ihnen steht es anders; Sie sind mit der wirklichen Wissenschaft vertraut ...«

»Ja«, bestätigte Oblomow seufzend, »es ist wahr, ich habe Algebra, politische Ökonomie und die Rechtswissenschaften studiert und habe in keiner Beschäftigung irgendwelche Übung erlangt. Sie sehen, ich weiß trotz meiner Algebra nicht, was für Einkünfte ich habe. Ich bin aufs Gut gekommen, habe zugehört und zugeschaut, wie es in unserem Hause, im Dorfe und um uns herum zuging, und habe gesehen, daß die Rechtswissenschaften ganz unnötig sind. Ich bin fortgefahren und habe gehofft, mit Hilfe der politischen Ökonomie mein Glück zu machen ... Man hat mir aber gesagt, ich könnte die Bildung erst mit der Zeit, vielleicht im Alter, brauchen, jetzt müßte ich aber vor allem im Amte vorwärtskommen, und dabei sei nur das eine notwendig: – Papiere zu schreiben. Ich habe mich daran aber nicht gewöhnen können und bin einfach zum gnädigen Herrn geworden, Sie aber haben darin Übung erlangt; sagen Sie also, wie ich mir jetzt helfen soll.«

»Gut, ich werde es machen!« sagte endlich Iwan Matwejewitsch.

Oblomow blieb ihm gegenüber stehen und wartete, was er sagen würde.[885]

»Man kann das alles einem sachkundigen Menschen übergeben und die Vollmacht auf seinen Namen umschreiben lassen«, fügte Iwan Matwejewitsch hinzu.

»Und wo soll man einen solchen Menschen hernehmen?«

»Ich habe einen Kollegen, Issaj Fomitsch Satjortij; er stottert ein wenig, ist aber ein tüchtiger, brauchbarer Mensch. Er hat drei Jahre lang ein großes Gut verwaltet, der Gutsbesitzer hat ihn aber fortgeschickt, weil er stottert. Da ist er in unsere Kanzlei eingetreten.«

»Kann man sich aber auf ihn verlassen?«

»Er ist eine ehrliche Seele – da können Sie ohne Sorge sein! Er ist imstande, sein eigenes Geld hinzugeben, nur um den Vollmachtgeber zufriedenzustellen. Er ist bei uns schon das zwölfte Jahr angestellt.«

»Wie wird er denn hinfahren können, wenn er eine Anstellung hat?«

»Das macht nichts, er wird einen viermonatigen Urlaub nehmen. Haben Sie also die Güte, einen Entschluß zu fassen, dann bringe ich ihn her. Er wird ja nicht umsonst fahren ...«

»Selbstredend nicht«, bestätigte Oblomow.

»Sie werden so freundlich sein, ihm die Reisekosten und die täglichen Ausgaben zu ersetzen und dann nach Erledigung der Angelegenheit nach Übereinkommen eine Vergütung zu bestimmen. Dann fährt er schon hin!«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar; Sie werden mich von großen Sorgen befreien«, sagte Oblomow, ihm die Hand reichend. »Wie heißt er? ...«

»Issaj Fomitsch Satortij«, wiederholte Iwan Matwejewitsch, die Hand schnell mit dem Ärmel abwischend, reichte sie für einen Augenblick Oblomow und versteckte sie schnell wieder. »Ich werde morgen mit ihm sprechen und ihn herbringen.«

»Kommen Sie zum Mittagessen, da werden wir alles miteinander besprechen. Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar!« sagte Oblomow, Iwan Matwejewitsch zur Tür begleitend.

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 881-886.
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