Siebentes Kapitel

[855] Es verging eine Woche. Oblomow fragte des Morgens beim Aufstehen vor allem, ob die Brücken wieder in Ordnung seien. »Noch nicht«, sagte man ihm, und er verbrachte friedlich den Tag, dem Ticken des Pendels, dem Knarren der Kaffeemühle und dem Singen der Kanarienvögel lauschend. Die Küchlein piepsten nicht mehr, sie waren längst zu gesetzten Hennen geworden und versteckten sich in den Hühnerstall. Er las die Bücher, die Oljga ihm geschickt hatte, nicht zu Ende; er hatte das Buch auf der hundertfünften Seite mit dem Einbande nach oben liegen lassen, und es lag schon seit einigen Tagen so da. Dafür beschäftigte er sich öfters mit den Kindern der Hausfrau. Wanja war ein so verständiger Knabe, er hatte sich nach dreimal die Hauptstädte Europas gemerkt, und Ilja Iljitsch versprach ihm, sowie er ans andere Ufer fahren konnte, einen kleinen Globus zu schenken, und Waschenjka hatte ihm drei Taschentücher gesäumt, sie machte es zwar schlecht, aber sie arbeitete so spaßig mit den kleinen Händchen und lief immer zu ihm, um ihm jeden fertigen Zoll zu zeigen. Er plauderte unaufhörlich mit der Hausfrau, sowie er durch die halboffene Tür ihre Ellbogen erblickte. Er hatte sich schon daran gewöhnt, an der Bewegung der Ellbogen zu erkennen, was die Hausfrau tat, ob sie etwas durchsiebte, mahlte oder bügelte. Er versuchte sogar mit der Großmutter zu sprechen, doch sie konnte die Unterhaltung nie zu Ende führen; sie blieb auf einem halben Wort stehen, stemmte sich mit der Faust gegen die Wand, beugte sich herab und begann zu husten, als erledige sie[856] eine schwere Arbeit, dann stöhnte sie auf, und das Gespräch wurde nicht mehr aufgenommen. Nur der Bruder ließ sich gar nicht blicken, man sah nur das große Paket vor den Fenstern vorüberhuschen, er selbst war aber im Hause gar nicht zu hören. Sogar als Oblomow einmal zufällig ins Zimmer trat, in dem sie dicht zusammengedrängt zu Mittag aßen, wischte der Bruder sich die Lippen schnell mit den Fingern ab und verschwand in seinem Giebelzimmer.

Eines Tages, als Oblomow sorglos erwacht war und den Kaffee zu trinken begann, meldete Sachar plötzlich, die Brücken wären in Ordnung. Oblomows Herz begann zu klopfen. »Und morgen ist Sonntag«, sagte er, »ich muß zu Oljga hinfahren und den ganzen Tag die vielsagenden, neugierigen Blicke der Fremden ertragen«, dann mußte er ihr mitteilen, wann er mit der Tante sprechen wolle, und dabei befand er sich noch immer auf einem Punkt, von wo aus es ihm unmöglich war, sich fortzubewegen. Er stellte sich lebhaft vor, wie er zum Bräutigam ernannt wurde, wie am zweiten und dritten Tage verschiedene Damen und Herren kamen, wie er plötzlich zum Gegenstand der Neugierde wurde, wie ein offizielles Diner stattfand und auf seine Gesundheit getrunken wurde. Dann würde er, wie die Rechte und Pflichten eines Bräutigams es erforderten, der Braut ein Geschenk bringen. »Ein Geschenk«, sagte er entsetzt und lachte bitter auf. »Ein Geschenk!«, und er hatte zweihundert Rubel in der Tasche! Wenn man ihm auch Geld schickte, konnte das erst gegen Weihnachten oder vielleicht noch später geschehen, wenn das Getreide verkauft war, wann das aber zu erwarten war und was für eine Summe man dafür bekommen würde, das alles mußte durch den Brief erklärt werden, der nicht kam. Was sollte er tun? Jetzt würde das ruhige Leben der letzten zwei Wochen aufhören! Und zwischen diesen Sorgen hindurch erschien ihm Oljgas schönes Gesicht, ihre dichten, ausdrucksvollen Brauen, diese klugen graublauen Augen, der ganze Kopf und ihr Zopf, den sie auf[857] eine besondere Weise auf den Nacken herabsenkte, so daß er das Edle ihrer ganzen Gestalt vom Kopf bis zu den Schultern und bis zu der Taille fortsetzte und ergänzte. Sowie Oblomow aber vor Liebe zitterte, sank auf ihn sofort wie ein schwerer Stein die Frage herab: was zu tun war; wie er an die Frage bezüglich der Hochzeit herantreten sollte, wo er sich Geld verschaffen und mit welchen Mitteln er später leben konnte ...

»Ich warte noch, vielleicht kommt morgen oder übermorgen ein Brief.« Und er begann auszurechnen, wann sein Brief auf dem Gute ankommen könnte, wie lange der Nachbar mit dem Schreiben säumen würde und wieviel Zeit bis zum Eintreffen der Antwort verstreichen müßte. »Sie muß in drei, höchstens in vier Tagen hier sein; ich werde mit dem Besuch bei Oljga noch warten«, beschloß er, »um so mehr, da sie wohl schwerlich wußte, daß die Brücken in Ordnung waren ...«

»Katja, sind die Brücken in Ordnung?« fragte Oljga ihr Stubenmädchen, sowie sie an demselben Morgen erwacht war.

Und diese Frage hatte sich täglich wiederholt. Oblomow hatte das gar nicht vorausgesetzt.

»Ich weiß nicht, Fräulein; ich habe heute weder den Kutscher noch den Hausbesorger gesehen, und Nikita weiß es nicht.«

»Du weißt niemals, wenn mich etwas interessiert!« sagte Oljga unzufrieden, im Bette liegend und die Kette an ihrem Hals betrachtend.

»Ich werde es gleich erfahren, Fräulein. Ich hab' mich nicht getraut, fortzugehen, ich hab' geglaubt, Sie werden gleich erwachen, sonst wäre ich schon längst hinübergelaufen.«

Und Katja verschwand aus dem Zimmer.

Oljga zog unterdessen die Tischlade heraus und suchte Oblomows letztes Briefchen hervor. Der Arme, der Arme, dachte sie besorgt, er ist allein und langweilt sich ... O Gott, wie lange wird das wohl noch dauern ...[858]

Sie war mit ihren Gedanken noch nicht fertig, als Katja mit gerötetem Gesicht ins Zimmer stürzte.

»Die Brücken sind in Ordnung, sie sind heute nacht gemacht worden«, sagte sie freudig, fing ihr Fräulein, das geschwind vom Bett aufsprang, in ihren Armen auf, warf ihr eine Bluse um und rückte ihr die winzigen Pantöffelchen hin. Oljga öffnete rasch die Schublade, nahm etwas heraus und ließ es in Katjas Hand gleiten, während letztere ihr die Hand küßte. Das alles, das Springen aus dem Bett, die Münze, die in Katjas Hand glitt, und der Kuß, geschah in einem Augenblick.

Ach, morgen ist Sonntag, wie gut sich das trifft! Er wird kommen! dachte Oljga, zog sich eilig an, trank schnell Tee und fuhr mit der Tante ins Geschäft.

»Ma tante, wollen wir morgen ins Smolnijkloster zur Messe fahren?« bat sie.

Die Tante kniff ein wenig die Augen zusammen, dachte nach und sagte dann: »Gut; aber das ist so weit, ma chère! Wieso fällt dir so etwas im Winter ein?«

Aber das war Oljga nur darum eingefallen, weil Oblomow ihr diese Kirche vom Fluß aus gezeigt hatte, und sie bekam Lust, darin zu beten ... daß er gesunden möge, daß er sie liebe, daß er durch sie glücklich werde, daß ... diese Unschlüssigkeit und Unbestimmtheit schnell enden möge ... Arme Oljga!

Der Sonntag kam. Oljga brachte es geschickt fertig, das ganze Mittagessen nach Oblomows Geschmack anzuordnen. Sie zog ein weißes Kleid an, versteckte unter den Spitzen das von ihm geschenkte Armband und frisierte sich, wie er es liebte; sie hatte tags zuvor das Klavier stimmen lassen und probierte des Morgens Casta diva zu singen. Ihre Stimme war so klangvoll, wie sie es seit dem Sommer nicht gewesen war. Dann begann sie zu warten. Der Baron traf sie in dieser Erwartung an und sagte, sie sei wieder ebenso schön wie im Sommer, sie sei nur ein wenig abgemagert.

»Das Entbehren der Landluft und die kleine Störung in der Lebensweise haben Sie sichtbar beeinflußt«, sagte[859] er. »Sie brauchen die Luft der Felder und das Land, liebe Oljga Sjergejewna.«

Er küßte ihr ein paarmal die Hand, so daß sein gefärbter Schnurrbart auf ihren Fingern sogar einen kleinen Fleck zurückließ.

»Ja, das Land!« erwiderte sie sinnend, aber nicht ihm, sondern jemand anderem, in die Luft hinein.

»Apropos, da wir vom Lande sprechen«, fügte er hinzu, »nächsten Monat endet Ihr Prozeß, und Sie können im April auf Ihr Gut fahren. Es ist nicht groß, aber die Lage ist wunderbar! Sie werden zufrieden sein. Was für ein Haus und einen Garten Sie dort haben! Ein Pavillon ist dort auf dem Berg gelegen; Sie werden es liebgewinnen. Die Aussicht auf den Fluß ... Sie erinnern sich dessen wohl nicht, Sie waren etwa fünf Jahre alt, als Ihr Papa das Gut verließ und Sie mitnahm.«

»Ach, wie froh ich sein werde!« sagte sie nachdenklich.

Jetzt ist es entschieden, dachte sie, wir fahren dorthin; aber er soll es nicht früher erfahren, als bis er ...

»Im nächsten Monat, Baron?« fragte sie lebhaft. »Ist das sicher?«

»So sicher wie die Tatsache, daß Sie immer, heute aber ganz besonders schön sind«, sagte er und ging zur Tante.

Oljga blieb sitzen und träumte von ihrem nahen Glück; doch sie beschloß, Oblomow weder diese Neuigkeit noch ihre künftigen Pläne mitzuteilen. Sie wollte die durch die Liebe in seiner schlummernden Seele vollzogene Umwälzung bis zu Ende verfolgen, sie will sehen, wie er sich endgültig von dem Joch seiner Trägheit befreien, sich vom lockenden Glück bezwingen lassen wird, wie er vom Gute eine günstige Antwort bekommt, strahlend zu ihr läuft und fliegt und sie ihr zu Füßen legt, wie sie beide einander überholend zur Tante stürzen und dann ... dann wollte sie ihm plötzlich sagen, daß auch sie ein Dorf, einen Garten, einen Pavillon, eine Aussicht auf den Fluß und ein ganz eingerichtetes Haus besitze, daß sie zuerst dorthin und dann nach Oblomowka fahren würden. Nein, ich will keine günstige Antwort, dachte[860] sie, sonst wird er stolz sein und wird sich gar nicht darüber freuen, daß ich mein eigenes Gut, mein Haus und meinen Garten habe ... Nein, er soll lieber durch einen unangenehmen Brief verstimmt kommen und erzählen, daß das Gut vernachlässigt sei und daß er selbst hinfahren müsse. Er wird Hals über Kopf hinreisen, wird in Eile alle nötigen Anordnungen treffen, wird alles irgendwie in Gang bringen, wobei er vieles vergessen und manches nicht verstehen wird, wird zurückkommen und plötzlich erfahren, daß er gar nicht hinzureisen brauchte, daß es ein Haus, einen Garten und einen Pavillon mit einer Aussicht gibt, daß sie auch ohne sein Oblomowka einen Wohnort besaßen ... Nein, nein, sie würde es ihm keinesfalls sagen und bis zum Schlusse schweigen; er soll nur hinfahren, sich bewegen, auftauen – und das alles für sie im Namen ihres künftigen Glückes! Oder doch? Wozu ihn aufs Gut schicken und sich von ihm trennen? Nein, wenn er bleich und traurig in den Reisekleidern zu ihr kommt, um für einen Monat Abschied zu nehmen, wird sie ihm plötzlich sagen, er brauche vor dem Sommer nicht hinzufahren, sie würden dann zusammen hinfahren ... So träumte sie, lief dann zum Baron hin und bat ihn geschickt, vorläufig niemand, ohne Ausnahme, von dieser Neuigkeit etwas zu erzählen. Bei diesem Niemand dachte sie nur an Oblomow.

»Ja, ja, wozu sollte ich denn davon sprechen?« stimmte er bei. »Vielleicht sage ich es nur Herrn Oblomow, wenn davon die Rede sein wird ...«

Oljga beherrschte sich und sagte gleichgültig: »Nein, sagen Sie es auch ihm nicht!«

»Ihr Wunsch ist für mich Befehl, wie Sie wissen ...« fügte der Baron liebenswürdig hinzu.

Sie war nicht ohne Schlauheit. Wenn sie Oblomow in Anwesenheit von Fremden anblicken wollte, blickte sie sicher zuerst drei andere Personen und erst dann ihn an.

Wieviel Gedanken fuhren ihr durch den Sinn – und das alles Oblomows wegen! Wie oft flammten die beiden[861] Flecken auf ihren Wangen auf! Wie oft schlug sie bald die eine und bald die andere Taste an, um sich zu überzeugen, ob das Klavier nicht zu hoch gestimmt sei, und legte die Noten von einer Stelle auf die andere. Und er kam nicht. Was bedeutete das? Es schlug drei und vier Uhr – und er war noch immer nicht da! Um halb fünf begannen ihre Schönheit und ihr Strahlen zu schwinden; sie ermattete sichtbar und setzte sich bleich zu Tische. Und die übrigen waren wie sonst; niemand bemerkte es, alle aßen die Gerichte, die für ihn bestimmt waren, und sprachen so fröhlich und gleichgültig. Er kam auch weder am Nachmittag noch am Abend. Sie schwankte bis zehn Uhr zwischen Hoffnung und Furcht; um zehn Uhr zog sie sich zurück. Zuerst schüttete sie den ganzen Zorn, der sich in ihrem Herzen angesammelt hatte, im Geiste über ihn aus; sie besaß in ihrem Lexikon kein einziges beißendes Spottwort, keinen einzigen heftigen Ausdruck, mit dem sie ihn im Geiste nicht gefoltert hätte. Dann schien es, als hätte sich ihr ganzer Organismus zuerst mit Feuer und darauf mit Eis gefüllt. Er ist krank, er ist allein, er kann nicht einmal schreiben ... fiel es ihr ein.

Diese Überzeugung bemächtigte sich ihrer ganz und ließ sie die ganze Nacht nicht schlafen. Sie schlummerte wie im Fieber auf zwei Stunden ein, phantasierte in der Nacht und erhob sich des Morgens bleich, aber ruhig und entschlossen.

Montag früh schaute die Hausfrau in Oblomows Zimmer herein und sagte: »Ein Mädchen wünscht Sie zu sprechen!«

»Mich? Das ist unmöglich!« antwortete Oblomow. »Wo ist sie?«

»Hier. Sie hat sich geirrt und ist zu uns hereingekommen. Soll ich sie eintreten lassen?«

Noch bevor Oblomow mit sich einig war, wozu er sich entschließen sollte, stand vor ihm Katja. Die Hausfrau war fortgegangen.

»Katja!« sagte Oblomow erstaunt. »Was ist? Was hast du?«[862]

»Das Fräulein ist da!« antwortete sie flüsternd. »Sie läßt fragen ...«

Oblomow wechselte die Farbe.

»Oljga Sjergejewna!« flüsterte er entsetzt. »Das ist nicht wahr, Katja, du scherzest! Quäle mich nicht!«

»Es ist bei Gott wahr. Das Fräulein ist in einem Mietwagen vor der Teehandlung halten geblieben; sie wartet und will herkommen. Ich sollte Ihnen sagen, Sie möchten Sachar irgendwohin wegschicken. Sie wird in einer halben Stunde hier sein.«

»Ich werde lieber selbst hingehen. Wie kann Oljga Sjergejewna denn herkommen?«

»Sie werden nicht mehr zurechtkommen. Das Fräulein kann jeden Augenblick da sein; sie glaubt, daß Sie krank sind. Adieu! Ich laufe fort. Sie ist allein und erwartet mich ...«

Sie ging.

Oblomow zog mit außergewöhnlicher Schnelligkeit die Krawatte, die Weste und die Stiefel an und rief Sachar.

»Sachar, du hast mich neulich um Erlaubnis gebeten, auf dem anderen Ufer, auf der Gorochowaja, einen Besuch zu machen. Also geh jetzt hin!« sprach er in fieberhafter Aufregung.

»Ich werde nicht hingehen!« antwortete Sachar entschlossen.

»Nein, geh nur hin!« sprach Oblomow beharrlich.

»Warum sollte ich am Wochentag einen Besuch machen? Ich werde nicht hingehen!« sagte Sachar trotzig.

»Geh doch hin und amüsiere dich! Sei nicht eigensinnig, wenn dein Herr dir die Gnade erweist und dich fortläßt ... Geh zu deinen Bekannten!«

»Zum Kuckuck mit diesen Bekannten!«

»Willst du sie denn nicht sehen?«

»Das sind solche Schufte, daß ich sie gar nicht sehen möchte!«

»Geh doch, geh!« wiederholte Oblomow beharrlich, wobei ihm das Blut zu Kopfe stieg.[863]

»Nein, ich bleibe heute den ganzen Tag zu Hause! Ich werde vielleicht am Sonntag hingehen!« lehnte Sachar gleichgültig ab.

»Nein, jetzt, sofort!« trieb Oblomow ihn aufgeregt zur Eile an. »Du mußt ...«

»Ja, warum soll ich denn plötzlich hingehen?«

»Also, dann geh zwei Stunden lang spazieren. Du hast ein so verschlafenes Gesicht – geh in die frische Luft.«

»Mein Gesicht ist so, wie es bei unsereinem zu sein pflegt!« sagte Sachar, träge durchs Fenster blickend.

Ach du mein Gott, sie wird gleich hier sein! dachte Oblomow, sich den Schweiß von der Stirn wischend.

»Also, geh doch spazieren, man bittet dich! Da hast du zwanzig Kopeken! Trinke mit deinen Freunden ein Glas Bier.«

»Ich werde lieber im Flur bleiben! Wohin soll ich denn bei diesem Frost gehen? Oder ich werde am Tor sitzen, das ginge schon ...«

»Nein, du sollst nicht am Tor bleiben!« sagte Oblomow rasch. »Geh in eine andere Straße, dorthin, links, dem Garten zu ... auf die andere Seite!«

Was soll das bedeuten? dachte Sachar. Er schickt mich spazieren; das war noch nicht da!

»Ich werde lieber am Sonntag fortgehen, Ilja Iljitsch ...«

»Wirst du gehen?« begann Oblomow, sich mit zusammengepreßten Zähnen Sachar nähernd. Sachar verschwand, und Oblomow rief Anissja herein.

»Geh auf den Markt«, sagte er ihr, »und kaufe zum Mittagessen ein ...«

»Ich habe alles eingekauft; das Essen wird bald fertig sein ...« begann die Nase.

»Schweig und gehorche!« fuhr Oblomow sie so an, daß Anissja Angst bekam.

»Kaufe ... Spargel ...« schloß er nach einer Weile, da ihm nichts einfiel, was er holen lassen konnte.

»Wo bekommt man denn jetzt Spargel, Väterchen? Das gibt es doch jetzt nicht ...«

»Marsch!« schrie er, und sie lief fort.[864]

»Laufe, so schnell du kannst!« schrie er ihr nach. »Und schau dich nicht um; von dort mußt du aber so langsam als möglich zurückkehren und darfst nicht vor zwei Stunden hier sein!«

»Was soll das heißen?« sagte Sachar zu Anissja, ihr vor dem Tore begegnend. »Er hat mich spazieren fortgejagt und hat mir zwanzig Kopeken gegeben! Wohin soll ich spazieren gehen?«

»Das ist die Sache des Herrn!« bemerkte die findige Anissja. »Geh zu Artemij, dem gräflichen Kutscher, und bewirte ihn mit Tee, er hält dich immer frei; und ich laufe auf den Markt.«

»Was heißt das, Artemij?« fragte Sachar auch ihn. »Der Herr hat mich spazieren fortgejagt und hat mir ein Trinkgeld gegeben ...«

»Vielleicht will er sich selbst einen Rausch antrinken?« fiel es Artemij ein. »Da hat er auch dir was gegeben, damit du ihn nicht beneidest. Komm!«

Er blinzelte Sachar zu und wies mit dem Kopf auf irgendeine Straße hin.

»Komm!« wiederholte Sachar und winkte gleichfalls mit dem Kopf nach derselben Straße hin.

»So etwas! Er hat mich spazieren fortgejagt!« krächzte er leise lächelnd.

Sie gingen fort, und Anissja lief bis zum ersten Kreuzweg, setzte sich in einen Graben am Zaune und wartete, was geschehen würde.

Oblomow lauschte und wartete. Jetzt ergriff jemand den Ring an der Pforte, und in demselben Augenblick ertönte das verzweifelte Bellen und begann das Springen des Hundes an der Kette.

»Der verfluchte Hund!« sagte Oblomow zähneknirschend, griff nach dem Hut, stürzte zur Pforte hin, öffnete sie und trug Oljga fast in seinen Armen bis zur Stiege.

Sie war allein. Katja erwartete sie im Wagen, in der Nähe des Tores.

»Du bist gesund? Du liegst nicht zu Bett? Was ist mit[865] dir?« fragte sie schnell, ohne den Mantel und den Hut abzulegen und ihn vom Kopf bis zu den Füßen betrachtend, als sie sich in seinem Arbeitszimmer befanden.

»Es geht mir schon wieder besser, die Halsentzündung ist ... fast ganz vorüber«, sagte er, seinen Hals berührend und leicht hüstelnd.

»Warum bist du gestern nicht gekommen?« fragte sie, ihn so forschend anblickend, daß er kein einziges Wort aussprechen konnte.

»Wie hast du dich zu einer solchen Handlung entschließen können, Oljga?« begann er entsetzt. »Weißt du denn, was du tust? ...«

»Lassen wir das jetzt!« unterbrach sie ihn ungeduldig. »Ich frage dich: Was bedeutet es, daß du dich nicht sehen läßt?«

Er schwieg.

»Hast du vielleicht ein Gerstenkorn?«

Er schwieg.

»Du warst nicht krank. Du hast keine Halsschmerzen gehabt!« sagte sie mit gefurchten Brauen.

»Nein«, antwortete Oblomow mit der Stimme eines Schulknaben.

»Du hast mich betrogen!« Sie blickte ihn erstaunt an. »Warum?«

»Ich werde dir alles erklären, Oljga!« rechtfertigte er sich.

»Ein wichtiger Grund hat mich daran verhindert, während dieser zwei Wochen zu dir zu kommen ... ich habe mich gefürchtet ...«

»Wovor?« fragte sie, sich setzend und Hut und Mantel ablegend.

Er nahm ihr beides ab und legte es auf den Diwan.

»Vor dem Klatsch und der Verleumdung ...«

»Du hast dich aber nicht davor gefürchtet, daß ich die ganze Nacht nicht schlafen, Gott weiß woran denken werde und erkranken kann?« sagte sie, ihn mit einem forschenden Blick streifend.

»Oljga, du weißt nicht, was hier bei mir vorgeht!« sagte[866] er, aufs Herz und auf den Kopf zeigend. »Ich bin vor Unruhe wie im Feuer. Weißt du nicht, was geschehen ist?«

»Was ist noch geschehen?« fragte sie kalt.

»Wie weit das Gerücht von dir und mir gedrungen ist! Ich wollte dich nicht aufregen und habe gefürchtet, mich bei dir blicken zu lassen.«

Er erzählte ihr alles, was er von Sachar und Anissja gehört hatte, erwähnte auch das Gespräch der beiden Gecken und schloß, indem er sagte, daß er seit der Zeit nicht schlafe, daß er in jedem Blick eine Frage, einen Vorwurf oder neckische Andeutungen auf ihre Zusammenkünfte sehe.

»Aber wir haben ja beschlossen, noch diese Woche mit ma tante zu sprechen!« entgegnete sie. »Dann müssen diese Gerüchte doch verstummen ...«

»Ja; aber ich wollte bis zum Empfang des Briefes der Tante noch nichts sagen. Ich weiß, daß sie mich nicht über meine Liebe, sondern über das Gut ausfragen und sich in Details einlassen wird; ich kann ihr das alles aber nicht erklären, bevor der Nachbar mir geantwortet hat.«

Sie seufzte.

»Wenn ich dich nicht kennen würde, könnte ich Gott weiß was glauben!« sagte sie nachdenklich. »Du hast mich durch Klatschgeschichten der Lakaien zu beunruhigen gefürchtet? Ich höre auf, dich zu verstehen.«

»Ich dachte, ihre Gespräche würden dich aufregen. Katja, Marfa, Sjemjon und dieser Dummkopf Nikita sagen Gott weiß was ...«

»Ich weiß längst, was sie sagen!« bemerkte sie gleichgültig.

»Wie, du weißt es?«

»Ja! Katja und die Kinderfrau haben es mir längst mitgeteilt; sie haben mich über dich ausgefragt und mir gratuliert ...«

»Sie haben dir wirklich gratuliert?« fragte er entsetzt. »Was hast du dazu gesagt?«

»Ich habe ihnen gedankt; ich habe der Kinderfrau ein[867] Tuch geschenkt, und sie hat mir versprochen, ins Sergiuskloster zu Fuß hinzugehen. Ich habe Katja versprochen, mich für sie zu verwenden und sie mit dem Konditor zu verheiraten; sie hat ihren eigenen Roman ...«

Er sah sie mit erschrockenen und erstaunten Augen an.

»Du kommst jeden Tag zu uns; es ist also sehr natürlich, daß die Dienstboten davon sprechen«, fügte sie hinzu. »Sie sind immer die ersten. Mit Sonitschka war es ganz ebenso; warum erschreckt dich das so?«

»Also daher stammen die Gerüchte!« sagte er gedehnt.

»Sind sie denn unbegründet? Es ist ja wahr!«

»Es ist wahr!« wiederholte Oblomow weder fragend noch verneinend. »Ja«, fügte er dann hinzu, »du hast wirklich recht; ich will aber nicht, daß sie von unseren Zusammenkünften etwas erfahren, darum fürchte ich mich ...«

»Du fürchtest dich und zitterst wie ein Knabe ... Ich begreife nicht! Stiehlst du mich denn?«

Es war ihm unbehaglich; sie blickte ihn aufmerksam an.

»Höre einmal!« sagte sie. »Es steckt irgendeine Lüge, irgend etwas anderes dahinter ... Komm zu mir und erzähle alles, was du auf dem Herzen hast. Du hättest einen, zwei Tage, vielleicht eine Woche aus Vorsicht nicht kommen können; du hättest mir aber doch schreiben und alles mitteilen können. Du weißt, ich bin kein Kind mehr, und es ist nicht mehr so leicht, mich durch einen Unsinn zu verwirren. Was bedeutet das?«

Er sann nach, küßte ihr dann die Hand und seufzte.

»Weißt du, Oljga, ich glaube, daß es folgendes ist«, sagte er. »Meine Phantasie ist während dieser ganzen Zeit so von Angst um dich erfüllt, mein Verstand quält sich so mit Sorgen, mein Herz schmerzt mir vor bald sich verwirklichenden und bald dahinschwindenden Hoffnungen und Erwartungen, und mein ganzer Organismus ist erschüttert; er erstarrt und verlangt wenigstens zeitweise nach Ruhe.«[868]

»Warum erstarrt denn der meine nicht, und warum suche ich nur neben dir nach Ruhe?«

»Du hast junge, unverbrauchte Kräfte, und du liebst ruhig und ohne Zweifel, während ich ... Aber du weißt ja, wie ich dich liebe!« sagte er, auf den Fußboden herabgleitend und ihr die Hände küssend.

»Nein, ich weiß das noch nicht zur Genüge. Du bist so seltsam, mir kommen allerlei Vermutungen; mir steht der Verstand still, und meine Hoffnung erlischt ... Bald werden wir aufhören, einander zu verstehen. Dann steht es schlimm!«

Sie schwiegen.

»Was hast du denn diese Tage getan?« fragte sie, jetzt erst das Zimmer betrachtend. »Bei dir ist es nicht schön; was für niedere Zimmer! Die Fenster sind klein und die Tapeten alt ... Wo sind denn deine anderen Zimmer?«

Er zeigte ihr voll Eifer die Wohnung, um die Frage, was er diese Tage getan hatte, zu vertuschen. Dann setzte sie sich aufs Sofa, und er ließ sich wieder zu ihren Füßen auf den Teppich nieder.

»Was hast du denn während der zwei Wochen getan?« fragte sie wieder.

»Ich habe gelesen, geschrieben und an dich gedacht.«

»Hast du meine Bücher zu Ende gelesen? Wie sind sie? Ich werde sie mitnehmen.«

Sie nahm ein Buch vom Tisch und sah die aufgeschlagene Seite an; sie war verstaubt.

»Du hast nicht gelesen?« sagte sie.

»Nein!« antwortete er.

Sie blickte die zerdrückten, gestickten Kissen, die verstaubten Fenster, den Schreibtisch an, fand alles in der größten Unordnung, prüfte ein paar staubige Papiere, steckte die Feder ins ausgetrocknete Tintenfaß und sah ihn erstaunt an.

»Was hast du denn getan?« wiederholte sie. »Du hast weder gelesen noch geschrieben?«

»Ich habe zu wenig Zeit gehabt«, begann er stotternd. »Wenn ich des Morgens aufstehe, werden die Zimmer[869] aufgeräumt, das stört mich; dann beginnt man vom Essen zu sprechen, die Kinder der Hausfrau kommen herein und bitten mich, ihre Aufgaben durchzusehen, und dann kommt das Mittagessen. Nach dem Essen kann man nicht mehr lesen.«

»Du hast nach dem Essen geschlafen!« sagte sie so überzeugt, daß er nach einigem Schwanken leise antwortete: »Ja ...«

»Warum denn?«

»Um die Zeit nicht zu bemerken. Du warst nicht bei mir, Oljga, und das Leben ohne dich ist langweilig und unerträglich ...«

Er schwieg, und sie blickte ihn streng an.

»Ilja!« begann sie ernsthaft. »Erinnerst du dich, wie du mir im Park gesagt hast, daß in dir ein neues Leben beginne, wie du mir versichert hast, daß ich das Ziel deines Lebens und dein Ideal sei; du hast mich bei der Hand genommen und gesagt, sie gehöre dir – weißt du noch, wie ich eingewilligt habe?«

»Kann man denn so etwas vergessen? Hat denn das nicht mein ganzes Leben umgewälzt? Siehst du denn nicht, wie glücklich ich bin?«

»Nein, ich sehe es nicht; du hast mich betrogen!« sagte sie kalt. »Du läßt dich wieder gehen ...«

»Ich habe dich betrogen! Das ist eine Sünde! Ich schwöre dir vor Gott, ich würde mich sofort in den Abgrund stürzen! ...«

»Ja, wenn der Abgrund jetzt, in diesem Augenblick, hier vor deinen Füßen wäre!« unterbrach sie ihn. »Wenn man es aber auf drei Tage verschoben hätte, würdest du dir die Sache überlegen und dich fürchten, besonders wenn Sachar oder Anissja darüber klatschen würden ... Das ist keine Liebe.«

»Du zweifelst an meiner Liebe?« begann er leidenschaftlich. »Du glaubst, daß ich aus Furcht um mich und nicht um dich zögere? Daß ich deinen Namen nicht wie hinter eine Mauer verschanzen will, daß ich nicht wie eine Mutter über dich wache, damit kein einziges Gerücht[870] dich zu berühren wagt ... Ach, Oljga, verlange Beweise! Ich wiederhole dir, daß, wenn du mit einem anderen glücklicher sein könntest, ich ihm, ohne zu murren, meine Rechte abtreten würde; daß ich freudig sterben würde, wenn man für dich sterben müßte!« schloß er mit Tränen in den Augen.

»Das ist alles unnötig, niemand verlangt es! Wozu brauche ich dein Leben? Tue das, was notwendig ist. Das ist eine Finte listiger Menschen, Opfer anzubieten, die unnötig oder unausführbar sind, um keine notwendigen zu bringen. Du bist nicht listig – ich weiß es, aber ...«

»Du weißt nicht, wieviel Kraft die Sehnsucht und die Sorgen mir geraubt haben!« fuhr er fort. »Ich habe, seit ich dich kenne, keinen anderen Gedanken ... Ich wiederhole auch jetzt, du bist mein Ziel, du allein. Wenn du nicht bei mir bleibst, werde ich sterben oder wahnsinnig werden. Ich atme jetzt, schaue, denke und fühle nur durch dich. Warum wunderst du dich denn, daß ich an den Tagen, an denen ich dich nicht sehe, einschlafe und versumpfe? Mir erscheint alles widerlich und langweilig, ich werde zu einer Maschine, ich gehe und tue etwas, ohne zu bemerken, was ich tue. Du bist das Feuer und die Kraft dieser Maschine!« sagte er, vor ihr niederkniend und sich aufrichtend.

Seine Augen leuchteten wie einst im Park. In ihnen erstrahlte wieder Stolz und Willenskraft.

»Ich bin jetzt bereit, wohin du mir befiehlst, zu gehen, und was du willst, zu tun. Ich fühle, daß ich lebe, wenn du mich anblickst, wenn du sprichst und singst.«

Oljga lauschte, sinnend, mit strengem Ausdruck, diesen leidenschaftlichen Ergüssen.

»Höre, Ilja«, sagte sie, »ich glaube an deine Liebe und an die Macht, die ich auf dich ausübe. Warum erschreckst du mich aber durch deine Unentschlossenheit und machst mich zweifeln? Ich bin dein Ziel, sagst du, du näherst dich ihm aber so schüchtern und langsam; und du hast noch einen weiten Weg; du mußt dich über mich erheben. Ich erwarte das von dir! Ich habe glückliche[871] Menschen gesehen, die lieben«, fügte sie seufzend hinzu, »bei ihnen wogt alles, und ihre Ruhe sieht der deinigen nicht ähnlich; sie senken nicht den Kopf; ihre Augen sind offen; sie schlafen fast gar nicht, sie handeln! Und du ... Nein, es sieht nicht so aus, als ob die Liebe, als ob ich dein Ziel wäre ...«

Sie schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Du, du! ...« sagte er, ihr wieder die Hände küssend und voller Leidenschaft zu ihren Füßen liegend, »du allein, o Gott, welch ein Glück!« sprach er wie im Fieber. »Und du glaubst, daß es möglich ist, dich zu betrügen, nach einem solchen Erwachen wieder einzuschlafen, nicht zum Helden zu werden! Du und Andrej werden sehen«, fuhr er, mit begeisterten Augen um sich schauend, fort, »bis zu welcher Höhe die Liebe einer Frau, wie du es bist, einen Menschen erheben kann! Schau mich an, schau mich an: Bin ich denn nicht auferstanden, lebe ich denn nicht in diesem Augenblick? Gehen wir von hier fort, weit fort! Ich kann keinen Augenblick hier bleiben, es ekelt mich! Ich ersticke!« sagte er, mit ungeheucheltem Widerwillen um sich schauend. »Laß mich heute dieses Gefühl auskosten ... Ach, wenn dasselbe Feuer, welches heute in mir brennt, morgen und immer anhalten würde! Wenn du aber nicht da bist, erlischt es, und ich falle! Jetzt lebe ich auf und bin auferstanden. Mir scheint, ich ... Oljga, Oljga! Du bist schöner als alles auf der Welt, du bist das beste Weib, du ... du ...«

Er schmiegte sein Gesicht in ihre Hand und erstarrte. Die Worte wollten ihm nicht mehr von der Zunge. Er preßte seine Hand ans Herz, um die Erregung zu beschwichtigen, richtete seinen leidenschaftlichen, feuchten Blick auf Oljga und erstarrte.

Er ist zärtlich, nichts als zärtlich! wiederholte Oljga im Geiste, aber nicht so wie im Park, sondern seufzend, und versenkte sich in tiefes Sinnen.

»Es ist Zeit für mich, zu gehen!« sagte sie freundlich, als sie wieder zur Besinnung gekommen war.

Er wurde plötzlich wieder nüchtern.[872]

»Du bist hier, bei mir? Ach Gott!« sagte er, und der begeisterte Blick verwandelte sich in ein scheues Herumlugen; die leidenschaftlichen Worte kamen nicht mehr über seine Lippen.

Er griff eilig nach ihrem Mantel und Hut und wollte ihr in der Eile den Mantel über den Kopf ziehen.

Sie lachte.

»Fürchte dich nicht meinetwegen«, beruhigte sie ihn; »ma tante ist für den ganzen Tag fortgegangen; zu Hause weiß nur die Kinderfrau und Katja, daß ich fort bin. Begleite mich hinaus.«

Sie reichte ihm, ohne zu zittern, ruhig, im stolzen Bewußtsein ihrer Unschuld, die Hand, ging durch den Hof, wobei der Hund verzweifelt bellte und an der Kette zerrte, stieg in den Wagen und fuhr fort. In den Fenstern der Hausfrau erschienen Köpfe; hinter der Ecke am Zaun schaute Anissja hervor. Als der Wagen in eine andere Straße einbog, kam Anissja und sagte, sie hätte den ganzen Markt abgesucht, es wäre aber kein Spargel zu finden. Sachar kam nach drei Stunden zurück und schlief volle vierundzwanzig Stunden.

Oblomow schritt lange im Zimmer herum, ohne seine Füße zu fühlen und seine eigenen Schritte zu hören; er ging so, als schwebe er über der Erde. Sowie das Knirschen der Wagenräder auf dem Schnee, die sein Leben und sein Glück fortführten, verstummt war, verging seine Unruhe, sein Kopf und sein Rücken richteten sich auf, das Leuchten der Begeisterung kehrte auf sein Gesicht zurück, und die Augen wurden vor Glück und Rührung feucht. In seinen Organismus ergossen sich Wärme, Frische und Kraft. Und er bekam wie früher wieder einmal Lust, irgendwohin, weit fort zu fahren und überall zu sein; mit Oljga zu Stolz und aufs Gut, in die Felder und Wälder zu reisen, dann wollte er sich in sein Zimmer zurückziehen und sich in eine Arbeit vertiefen, zum Ribinskyhafen fahren, die Straße bahnen, das soeben erschienene Buch lesen, von dem alle sprachen, und heute in die Oper gehen ... Ja, heute war sie bei ihm,[873] dann würde er bei ihr sein und abends in die Oper gehen. Wie ausgefüllt der Tag war! Wie leicht atmete es sich bei diesem Leben, in Oljgas Sphäre, in den Strahlen ihres jungfräulichen Leuchtens, ihrer frischen Kraft, ihres jungen, aber feinen, tiefen und gesunden Verstandes! Er ging, als flöge er, als trüge ihn jemand durch das Zimmer! »Vorwärts, vorwärts!« sagte Oljga; höher, immer höher, dorthin, zu jenem Striche, wo die Zärtlichkeit und Grazie ihre Macht verlieren und wo das Reich des Mannes beginnt! Wie klar sie in das Leben blickt! Wie sie in diesem schwerverständlichen Buch ihren Weg abliest und instinktiv auch seinen Weg errät. Ihre beiden Leben müssen sich wie zwei Flüsse vereinigen; er würde ihr Führer und Lehrer sein! Sie sah seine Kräfte und Fähigkeiten, wußte, was er vermochte, und erwartete demütig seine Herrschaft.

Einzige Oljga! Dieses durch nichts zu verwirrende, kühne, einfache und entschlossene Weib, das natürlich wie das Leben selbst war!

»Wie häßlich es hier tatsächlich ist!« sagte er, um sich blickend, »und dieser Engel ist in den Sumpf herabgestiegen und hat ihn durch seine Anwesenheit geheiligt!« Er blickte liebevoll auf den Sessel, auf dem sie gesessen hatte, und seine Augen leuchteten plötzlich auf; er erblickte auf dem Fußboden neben dem Sessel einen winzigen Handschuh.

»Ein Pfand! Ihre Hand; das ist ein Vorzeichen! Oh! ...« stöhnte er, leidenschaftlich den Handschuh an die Lippen pressend.

Die Hausfrau schaute zur Tür herein und fragte, ob er sich nicht die Leinwand ansehen wollte, die man gebracht hatte, falls er welche brauchte. Doch er bedankte sich trocken, dachte gar nicht daran, die Ellbogen anzublicken, und entschuldigte sich, indem er Arbeit vorschützte. Dann vertiefte er sich in die Erinnerungen an den Sommer, dachte an jede Kleinigkeit, an jeden Baum, jeden Busch, an jede Bank, an jedes gesprochene Wort und fand alles holder, als es um die Zeit, da er es genossen[874] hatte, gewesen war. Er konnte sich gar nicht mehr beherrschen, sang, sprach freundlich mit Anissja, scherzte, daß sie keine Kinder hatte, und versprach Pate zu sein, sowie sie ein Kind bekam. Dann tollte er mit Mascha so herum, daß die Hausfrau hereinkam und Mascha fortjagte, damit sie den Zimmerherrn nicht bei der »Arbeit« störe. Der Rest des Tages steigerte noch seinen Übermut; Oljga war lustig und sang, dann waren sie in der Oper, nach der Vorstellung trank er bei ihnen Tee, und die Tante, der Baron, Oljga und er führten dabei ein so herzliches, aufrichtiges Gespräch, daß Oblomow sich ganz als Mitglied dieser kleinen Familie fühlte; er hatte genug einsam gelebt; jetzt hatte er einen Unterschlupf gefunden, sein Leben hatte ein festes Ziel; er besaß Licht und Wärme – wie schön lebte es sich damit!

In der Nacht schlief er wenig; er las in Oljgas Büchern und bewältigte anderthalb Bände.

Morgen muß vom Gut ein Brief kommen, dachte er, und sein Herz klopfte ... und klopfte ... Endlich!

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 855-875.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
Oblomow

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Agrippina. Trauerspiel

Agrippina. Trauerspiel

Im Kampf um die Macht in Rom ist jedes Mittel recht: Intrige, Betrug und Inzest. Schließlich läßt Nero seine Mutter Agrippina erschlagen und ihren zuckenden Körper mit Messern durchbohren. Neben Epicharis ist Agrippina das zweite Nero-Drama Daniel Casper von Lohensteins.

142 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon