Zweites Kapitel

[790] Er ging, und Oblomow setzte sich verstimmt auf den Sessel und bemühte sich lange Zeit, den unangenehmen Zwischenfall loszuwerden. Endlich erinnerte er sich an den Morgen. Tarantjews widerwärtige Gestalt verschwand aus seinem Hirn, und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln. Er stellte sich vor den Spiegel, richtete sich die Krawatte, lächelte lange und blickte seine Wange an, ob dort nicht eine Spur von Oljgas heißem Kuß zu sehen war.

»Zwei ›Nie‹«, sagte er leise in freudiger Aufregung, »und was für ein Unterschied war zwischen ihnen: das eine war schon verblaßt, und das zweite blühte so reich ...«

Dann versank er in tiefes Sinnen. Er fühlte, daß der lichte, wolkenlose Feiertag der Liebe schon verging, daß die Liebe wirklich zu einer Pflicht wurde, daß sie sich dem ganzen Leben anreihte, eines seiner Bestandteile wurde, zu verblassen und die leuchtenden Farben zu verlieren begann. Vielleicht hatte des Morgens ihr letzter rosiger Schimmer geleuchtet, und sie würde dann nicht mehr hell strahlen, sondern das Leben unsichtbar erwärmen; das Leben wird sie verschlingen, und sie wird eine starke, aber verborgene Triebfeder sein. Und von nun an werden ihre Äußerungen so einfach und gewöhnlich erscheinen. Das Poem geht zu Ende, und die strenge Geschichte beginnt; die Verhandlungen mit den Behörden, dann die Fahrt nach Oblomowka, das Bauen des Hauses, die Anzahlung in den Gouvernementsrat, das Bahnen der Straße, das endlose Ordnen der Angelegenheiten der[791] Bauern, der Arbeit, des Dreschens, des Mähens, das Klopfen des Rechenbrettes, das besorgte Gesicht des Verwalters, die Wahlen, die Gerichtsverhandlungen. Ab und zu wird Oljgas Blick aufleuchten, und es wird Casta diva oder ein heiliger Kuß ertönen, und man muß wieder arbeiten, in die Stadt fahren, dann kommt wieder der Verwalter, und er hört das Klopfen des Rechenbrettes. Es kommen Gäste – aber auch das ist kein Ausruhen; man spricht davon, wieviel Schnaps gebrannt wurde, wieviel Arschin Tuch an die Behörden geliefert wurden ... Was war denn das? Hatte er denn davon geträumt? War denn das das Leben? ... Man lebt aber das ganze Leben so. Und Andrej gefällt es!

Aber die Heirat, die Hochzeit, das war doch die Poesie des Lebens, das war eine üppige, aufgeblühte Blume. Er stellte sich vor, wie er Oljga zum Altar führte; sie trägt einen Orangenblumenzweig und einen langen Schleier auf dem Kopf. In der Menge ertönt ein bewunderndes Geflüster. Sie reicht ihm verschämt die Hand, senkt stolz und graziös den Kopf und weiß nicht, wie sie alle anblicken soll. Bald erstrahlt sie in einem Lächeln, bald kommen ihr die Tränen, bald bewegt sich die Falte über der Braue gedankenvoll. Zu Hause, wenn die Gäste fort sind, wirft sie sich ihm noch in dem reichen Kleid wie heute an die Brust ... »Nein, ich laufe zu Oljga hin, ich kann allein nicht denken und fühlen,« sagte er. »Ich erzähle es allen, der ganzen Welt ... nein, zuerst der Tante, dann dem Baron, ich schreibe es auch Stolz – wie er sich wohl wundern wird! Dann sag' ich es Sachar; er wird sich bis zur Erde verneigen und vor Freude heulen; ich werde ihm fünfundzwanzig Rubel geben. Anissja wird kommen, wird mir die Hand küssen wollen; dann werde ich ihr zehn Rubel geben; dann ... dann werde ich vor Freude laut schreien, damit die ganze Welt es weiß und damit alle sagen: ›Oblomow ist glücklich, Oblomow heiratet!‹ Jetzt laufe ich zu Oljga hin; dort erwartet mich ein langes Flüstern und der geheimnisvolle Vertrag, unsere beiden Leben zu vereinigen! ...«[792]

Er lief zu Oljga hin. Sie hörte lächelnd seinen Träumen zu; sowie er aber aufsprang, um es der Tante mitzuteilen, runzelte sie so die Brauen, daß er Angst bekam.

»Niemand ein Wort davon!« sagte sie, den Finger an die Lippen legend und ihm ein Zeichen machend, leiser zu sprechen, damit die Tante aus dem angrenzenden Zimmer nichts hörte.

»Es ist noch nicht Zeit!«

»Wann ist es denn Zeit, wenn bei uns alles beschlossen ist?« fragte er ungeduldig, »was soll man denn jetzt tun? Womit anfangen? Man kann doch nicht ruhig sitzen bleiben! Jetzt beginnen die Pflichten und der Ernst des Lebens ...«

»Ja, jetzt beginnt das,« wiederholte sie, ihn forschend anblickend.

»Ich wollte den ersten Schritt machen und zur Tante gehen ...«

»Das ist der letzte Schritt!«

»Welcher ist denn der erste?«

»Der erste ist, sich an die Behörde zu wenden; du mußt ja wohl irgendein Dokument haben?«

»Ja ... ich fahre morgen hin ...«

»Warum denn nicht heute?«

»Heute ... heute ist doch ein solcher Tag, und ich sollte von dir fortgehen, Oljga ...«

»Nun gut, morgen. Und dann?«

»Dann mit der Tante sprechen und an Stolz schreiben.«

»Nein, dann nach Oblomowka fahren ... Andrej Iwanowitsch hat ja geschrieben, was auf dem Gut zu tun ist; ich weiß nicht, was dort angeordnet werden muß, ich glaube bezüglich des Bauens?« fragte sie, ihm ins Gesicht blickend.

»Mein Gott!« sagte Oblomow, »wenn man auf Stolz hört, wird die Tante noch eine Ewigkeit nicht an die Reihe kommen! Er sagt, man müßte zuerst das Haus bauen, dann die Straße anlegen und Schulen einrichten ... Dazu reicht ein ganzes Leben nicht aus. Wir fahren zusammen hin, Oljga, und dann ...«[793]

»Und wohin sollen wir fahren? Gibt es denn dort ein Haus?«

»Nein; das alte ist ganz morsch, die Stiege ist wohl schon auseinandergefallen ...«

»Wohin fahren wir dann?« fragte sie.

»Man muß hier eine Wohnung suchen.«

»Deswegen muß man auch in die Stadt fahren,« bemerkte sie, »das ist der zweite Schritt ...«

»Dann ...« begann er.

»Mache zuerst diese beiden Schritte und dann ...«

Was ist denn das? dachte Oblomow traurig; weder ein langes Flüstern noch ein geheimer Vertrag, unsere beiden Leben zu vereinigen! Alles ist anders, nicht so, wie ich es mir gedacht habe. Wie seltsam diese Oljga ist! Sie bleibt nicht auf einem Punkt stehen; sie sinnt nicht süß über einen poetischen Augenblick nach, als hätte sie gar keine Träume und kein Bedürfnis, sich von den Gedanken hintragen zu lassen! Ich soll mich gleich an die Behörden wenden und eine Wohnung suchen, wie Andrej! Es ist, als hätten sie alle einen Vertrag geschlossen, sich mit dem Leben zu beeilen!

Am nächsten Tage begab er sich mit einem Bogen Stempelpapier in die Stadt, um zuerst seine Angelegenheit bei den Behörden zu erledigen; er fuhr ungern hin und blickte gähnend um sich. Er wußte nicht recht, wohin er sich zu wenden hatte, und fuhr zu Iwan Gerassimitsch hin, um ihn zu fragen, in welchem Departement er die Dokumente vorzuzeigen hatte. Dieser freute sich, Oblomow zu sehen, und wollte ihn ohne Frühstück nicht fortlassen. Dann ließ er noch einen Freund holen, um ihn darüber, was zu tun war, auszufragen, denn er selbst befaßte sich längst nicht mehr mit derlei Angelegenheiten. Das Frühstück und die Beratung dauerten bis drei Uhr, und es war zu spät, in das Departement zu gehen, am nächsten Tag war Samstag, und es gab keine Bürostunden, man mußte die Sache auf Montag verschieben.

Oblomow begab sich auf die Wiborgskajastraße in seine neue Wohnung. Er fuhr lange durch kleine Gassen,[794] zwischen endlosen Zäunen hin. Endlich fand er einen Wachmann; dieser sagte, das Haus befände sich im nächsten Viertel der Straße, und zeigte auf ein unbebautes Ende derselben hin, das keine Zäune hatte, mit Gras bedeckt war und trockene Wagenfurchen aufwies. Oblomow fuhr weiter, indem er die Brennesseln und die über die Zäune hervorlugenden Ebereschen bewunderte. Endlich zeigte ihm der Wachmann ein altes Häuschen, das auf dem Hof stand, indem er hinzufügte: »Das da.« – »Das Haus der Witwe des Kollegiensekretärs Pschenizin,« las Oblomow auf dem Tor und befahl, in den Hof hineinzufahren. Der Hof hatte die Größe eines Zimmers, so daß der Wagen mit der Deichsel gegen die Ecke des Hauses anstieß und einen Haufen Hühner auseinanderjagte, so daß sie gackernd eilig auseinanderstoben und manche sogar aufflogen; ein großer schwarzer Hund begann an seiner Kette zu reißen, indem er wütend bellte und sich bestrebte, die Köpfe der Pferde zu erreichen. Oblomow saß dicht an den Fenstern und war in Verlegenheit, wie er aussteigen sollte. In den Fenstern, auf denen Reseda, Ringelblumen und Samtblumen standen, zeigten sich Köpfe. Oblomow kroch mit Mühe aus dem Wagen heraus; der Hund bellte noch wütender. Er wandte sich dem Eingang zu und stieß auf eine runzelige alte Frau in einem Sarafan, dessen Saum sie sich in den Gürtel gesteckt hatte.

»Wen wollen Sie sprechen?« fragte sie.

»Die Hausfrau, Frau Pschenizin.«

Die Alte senkte verblüfft den Kopf.

»Meinen Sie vielleicht Iwan Matwejewitsch?« fragte sie. »Er ist nicht zu Hause; er ist aus dem Amt noch nicht zurückgekehrt.«

»Ich möchte die Hausfrau sprechen,« sagte Oblomow.

Unterdessen dauerte der Trubel im Hause fort. Bald aus dem einen, bald aus dem anderen Fenster schaute ein Kopf hervor; die Tür hinter der Alten wurde geöffnet und wieder geschlossen; von dort blickten verschiedene Gesichter hervor. Oblomow wandte sich um; auf dem[795] Hof standen zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, die ihn neugierig anblickten. Von irgendwo erschien ein schläfriger Bauer in einem Schafpelz und betrachtete träge Oblomow und den Wagen, indem er sich die Augen mit der Hand vor der Sonne schützte. Der Hund fuhr fort, in Absätzen laut zu bellen, und sowie sich Oblomow rührte oder das Pferd mit dem Huf stampfte, begann das Reißen an der Kette und ein andauerndes Bellen. Durch den Zaun rechts sah Oblomow einen endlosen Gemüsegarten mit Kohl, links ein paar Bäume und eine grüne hölzerne Laube.

»Sie wollen Agafja Matwejewna sehen?« fragte die Alte.

»Sag der Hausfrau,« antwortete Oblomow, »daß ich sie sprechen möchte; ich habe hier eine Wohnung gemietet ...«

»Sie sind also der neue Mieter, ein Bekannter von Michej Andrejtsch. Warten Sie, ich werde es bestellen.«

Sie öffnete die Tür, wobei ein paar Kinder von der Tür zurückprallten und schnell ins Zimmer liefen. Er hatte Zeit, eine Frau mit nacktem Hals und Ellbogen, ohne Haube, zu bemerken, sie war sehr weiß und ziemlich stark, lächelte, weil ein Fremder sie so gesehen hatte, und lief auch von der Tür fort.

»Treten Sie bitte ins Zimmer,« sagte die Alte, als sie zurückgekehrt war, führte Oblomow durch ein kleines Vorzimmer in einen ziemlich großen Raum und bat ihn, zu warten; »die Hausfrau kommt gleich,« fügte sie hinzu.

Und der Hund bellt immer noch, dachte Oblomow, das Zimmer betrachtend.

Plötzlich blieben seine Augen auf bekannten Gegenständen haften. Das ganze Zimmer war mit seinem Hab und Gut gefüllt: mit staubigen Tischen, auf das Bett gehäuften Sesseln, Matratzen, unordentlich durcheinandergeworfenem Geschirr und mit seinen Schränken.

»Was ist das? Es ist nichts geordnet und eingerichtet. – Was für ein Schmutz!«

Plötzlich knarrte hinter ihm die Tür, und in das Zimmer[796] trat dieselbe Frau, die er mit nackten Ellbogen und nacktem Hals gesehen hatte. Sie war etwa dreißig Jahre alt, ihr Gesicht war voll und sehr weiß, so daß es schien, das Blut könnte nicht durch die Wangen dringen. Sie hatte fast gar keine Brauen, sondern nur zwei glänzende Streifen, die wie verschwollen aussahen und mit dünnem, hellem Haar bedeckt waren. Die grauen Augen waren gutmütig, wie auch der ganze Gesichtsausdruck; die Hände waren weiß, aber rauh, mit hervortretenden, großen blauen Aderknoten. Sie trug ein anliegendes Kleid; man sah, daß sie keinerlei Kunstgriffe anwandte und nicht einmal einen überflüssigen Rock trug, um den Umfang der Hüften zu vergrößern und den der Taille zu verringern. Infolgedessen konnte selbst ihre zugedeckte Büste, wenn sie keinen Schal trug, einem Maler oder Bildhauer als das Modell einer festen, gesunden Brust dienen, ohne daß dabei ihr Schamgefühl verletzt wurde. Ihr Kleid erschien im Vergleich mit dem eleganten Schal und der Paradehaube alt und abgetragen. Sie hatte keinen Besuch erwartet, und als Oblomow nach ihr fragte, warf sie über ihr Hauskleid ihren Sonntagsschal und deckte den Kopf mit der Haube zu. Sie trat schüchtern ein, blieb stehen und blickte Oblomow verlegen an.

Er erhob sich und grüßte.

»Ich habe das Vergnügen, Frau Pschenizin zu sehen?« fragte er.

»Ja,« antwortete sie. »Sie wollen vielleicht den Bruder sprechen?« fragte sie unschlüssig. »Er ist im Amt, er kommt nie vor fünf Uhr zurück.«

»Nein, ich wollte Sie sprechen,« begann Oblomow, nachdem sie sich möglichst weit von ihm auf das Sofa gesetzt hatte und die Enden ihres Schals betrachtete, der sie wie eine Decke bis zur Erde zudeckte. Sie hatte auch ihre Hände unter den Schal versteckt.

»Ich habe hier eine Wohnung gemietet; jetzt muß ich aus verschiedenen Gründen eine Wohnung in einem anderen Stadtteil suchen, ich bin also gekommen, um mit Ihnen zu sprechen ...«[797]

Sie hörte ihm stumpf zu und sann dann ebenso stumpf nach.

»Mein Bruder ist jetzt nicht da,« sagte sie dann.

»Aber dieses Haus gehört doch Ihnen?« fragte Oblomow.

»Ja,« antwortete sie kurz.

»Da hab' ich geglaubt, daß Sie über die Angelegenheit selbst entscheiden können.«

»Ja, aber mein Bruder ist nicht da, er verfügt hier über alles,« sagte sie eintönig, indem sie Oblomow zum erstenmal ins Gesicht blickte und dann die Augen wieder auf den Schal senkte.

Sie hat ein einfaches, aber angenehmes Gesicht, dachte Oblomow nachsichtig, sie ist gewiß eine gute Frau! Jetzt steckte ein Mädchen den Kopf zur Tür herein. Agafja Matwejewna nickte ihm heimlich drohend zu, und es verschwand. »Und wo ist Ihr Bruder angestellt?«

»In der Kanzlei.«

»In welcher?«

»Wo man die Bauern einträgt ... ich vergesse immer, wie sie heißt.«

Sie lächelte treuherzig, und ihr Gesicht nahm noch im selben Augenblick seinen gewohnten Ausdruck an.

»Wohnen Sie hier allein mit Ihrem Bruder?« fragte Oblomow.

»Nein, ich habe die beiden Kinder, die mein seliger Mann mir zurückgelassen hat, bei mir, einen achtjährigen Knaben und ein sechsjähriges Mädchen,« begann die Hausfrau ziemlich gesprächig, und ihr Gesicht wurde lebhafter, »und noch unsere kranke Großmutter; die kann sich kaum bewegen und geht nur in die Kirche; früher ist sie mit Akulina auf den Markt gegangen, aber seit Nikolo hat sie aufgehört; ihr schwellen die Füße an. Sie sitzt auch in der Kirche meistens nur auf den Stufen. Sonst wohnt niemand mehr hier. Manchmal kommt die Schwägerin auf Besuch oder Michej Andreitsch.«

»Und kommt Michej Andreitsch oft zu Ihnen?«

»Manchmal bleibt er einen Monat da; er ist mit meinem Bruder befreundet, und sie sind immer zusammen ...«[798]

Sie schwieg, da sie den ganzen Vorrat ihrer Gedanken und Worte erschöpft hatte.

»Wie ruhig es hier bei Ihnen ist!« sagte Oblomow, »wenn der Hund nicht bellen würde, könnte man glauben, daß hier niemand wohnt.«

Sie lächelte zur Antwort.

»Gehen Sie oft aus?«

»Manchmal im Sommer. Neulich, am Eliastag, sind wir zu den Pulvermühlen gegangen.«

»Kommen dorthin viele Leute?« fragte Oblomow, durch den verschobenen Schal auf die einem Sofakissen ähnliche Brust, die nie in Erregung geriet, blickend.

»Nein, in diesem Jahre waren nicht so viele da; des Morgens hat's geregnet und dann hat sich's aufgeheitert. Sonst kommen viele hin.«

»Wohin gehen Sie sonst noch?«

»Wir gehen wenig aus. Mein Bruder geht mit Michej Andreitsch fischen, sie kochen sich dann eine Fischsuppe, wir sind aber meistens zu Hause.«

»Wirklich, immer zu Hause?«

»Bei Gott, das ist wahr. Voriges Jahr waren wir in Kolpind, und jetzt gehen wir manchmal in den Wald. Am 24. Juni ist der Namenstag vom Bruder, dann kommen zu uns alle Beamten aus der Kanzlei zum Essen.«

»Und machen Sie Besuche?«

»Der Bruder; aber ich gehe nur am Ostersonntag und zu Weihnachten zu den Verwandten meines Mannes zum Essen.«

Sie wußten nicht, worüber sie noch sprechen sollten.

»Sie haben hier Blumen, lieben Sie sie?« fragte er.

Sie lächelte.

»Nein,« sagte sie, »wir haben keine Zeit, uns mit Blumen abzugeben. Die Kinder sind mit Akulina in den gräflichen Garten gegangen, und der Gärtner hat sie ihnen gegeben, die Geranien und die Aloe sind hier schon lange, sie waren schon zu Lebzeiten meines Mannes da.«

Jetzt stürzte plötzlich Akulina ins Zimmer, in ihren[799] Händen zappelte und gluckste verzweifelt ein großer Hahn.

»Soll ich diesen Hahn dem Krämer geben, Agafja Matwejewna?« fragte sie.

»Aber was tust du? Geh!« sagte die Hausfrau verlegen, »du siehst ja, daß ein Gast da ist!«

»Ich wollte nur fragen,« sagte Akulina, indem sie den Hahn bei den Füßen packte, so daß ihm der Kopf herabhing, »er gibt dafür siebzig Kopeken.«

»Geh in die Küche!« sagte Agafja Matwejewna. »Gib ihm den grauen mit den Tupfen, und nicht diesen! ...« fügte sie eilig hinzu, wurde dann verlegen, versteckte die Hände unter den Schal und begann nach unten zu schauen.

»Die Wirtschaft!« sagte Oblomow.

»Ja, wir haben viel Hühner; wir verkaufen die Eier und die Küchlein. In den Landhäusern und im gräflichen Hause hier auf der Straße kauft man alles bei uns,« antwortete sie, Oblomow viel dreister anblickend.

Und ihr Gesicht nahm einen besorgten, gedankenvollen Ausdruck an; selbst ihre Stumpfheit verschwand, als sie über den ihr vertrauten Gegenstand zu sprechen begann. Jede Frage, die nicht irgend etwas Positives, ihr Bekanntes berührte, beantwortete sie nur mit einem Lächeln oder einem Schweigen.

»Man müßte das ordnen,« bemerkte Oblomow, auf den Haufen seiner Sachen hinweisend.

»Wir wollten es schon machen, aber der Bruder hat es nicht erlaubt,« unterbrach sie Oblomow lebhaft und blickte ihn schon ganz dreist an: »Gott weiß, was hier in den Tischen und Schränken liegt ...« hat er gesagt, »wenn etwas verlorengeht, werden wir es zu verantworten haben ...«

Sie machte eine Pause und lächelte.

»Wie vorsichtig Ihr Bruder ist!« fügte Oblomow hinzu. Sie lächelte ein wenig und nahm wieder ihren gewöhnlichen Gesichtsausdruck an. Das Lächeln war für sie mehr ein Mittel, ihre Unkenntnis dessen, was sie in dem[800] einen oder andern Falle zu tun oder zu sagen hatte, zu verbergen.

»Ich kann nicht so lange warten, bis er kommt,« sagte Oblomow. »Vielleicht bestellen Sie ihm, daß ich verschiedener Umstände wegen die Wohnung nicht benötige und bitte darum, dieselbe einem anderen Mieter zu übergeben; ich werde auch selbst nach einem Reflektanten suchen.«

Sie hörte stumpf blinzelnd zu.

»Haben Sie die Güte, mit Ihrem Bruder bezüglich des Kontraktes zu sprechen ...«

»Er ist ja jetzt nicht zu Hause,« wiederholte sie, »kommen Sie lieber morgen wieder; morgen ist Samstag, und er geht nicht in die Kanzlei ...«

»Ich habe furchtbar viel zu tun und bin keinen Augenblick frei,« suchte Oblomow nach einer Ausrede. »Haben Sie die Güte, nur zu sagen, daß, da die Angabe in Ihren Händen bleibt und ich selbst nach einem Mieter suchen werde ...«

»Der Bruder ist nicht da,« sagte sie eintönig, »er kommt noch immer nicht ...« Sie blickte auf die Straße. »Er geht hier vorüber, man sieht aus dem Fenster, wenn er kommt, er ist aber noch nicht da!«

»Nun, ich gehe ...« sagte Oblomow.

»Und was soll ich dem Bruder sagen, wenn er kommt? Wann ziehen Sie ein?« fragte sie, sich vom Sofa erhebend. »Richten Sie ihm aus, was ich Ihnen mitgeteilt habe,« sagte Oblomow, »daß ich eingetretener Umstände wegen ...« – »Sie sollten morgen kommen und mit ihm sprechen ...« wiederholte sie.

»Ich kann morgen nicht.«

»Also übermorgen, am Sonntag; nach der Messe gibt es bei uns Schnaps und einen Imbiß. Auch Michej Andreitsch kommt dann.«

»Kommt Michej Andreitsch wirklich her?«

»Das ist bei Gott wahr.«

»Ich kann auch übermorgen nicht,« lehnte Oblomow ungeduldig ab.[801]

»Also dann nächste Woche ...« bemerkte sie. »Und wann werden Sie einziehen? Ich würde die Fußböden waschen und abstauben lassen.«

»Ich ziehe nicht ein.«

»Wieso denn? Und wo sollen wir Ihre Sachen hintun?«

»Haben Sie die Güte, Ihrem Bruder zu sagen,« begann Oblomow wieder langsam, indem er die Augen starr auf ihre Brust richtete, »daß eingetretener Umstände wegen ...«

»Er kommt noch nicht, man sieht ihn nicht,« sagte sie im selben Tonfalle, auf den Zaun blickend, der die Straße vom Hofe trennte. »Ich kenne seine Schritte; man hört auf dem Holzpflaster, wenn jemand geht. Es gehen hier wenige Menschen vorüber ...«

»Werden Sie ihm dies bestellen und ihm alles sagen?« fragte Oblomow sich verneigend und der Tür zuwendend.

»Er wird in einer halben Stunde selbst da sein ...« sagte die Hausfrau mit einer ihr sonst nicht eigenen Unruhe, als versuchte sie Oblomow mit der Stimme zurückzuhalten.

»Ich kann nicht länger warten,« beschloß er, die Tür öffnend.

Als der Hund ihn herauskommen sah, begann er wieder zu bellen und an der Kette zu zerren. Der Kutscher, der sich bis dahin auf den Ellbogen gestützt und geschlafen hatte, begann die Pferde zurückzutreiben, die Hühner stoben wieder aufgeregt auseinander, und aus den Fenstern schauten wieder ein paar Köpfe heraus.

»Also ich werde dem Bruder sagen, daß Sie da waren ...« fügte die Hausfrau hinzu, als Oblomow in den Wagen stieg.

»Ja, und sagen Sie ihm, daß ich eingetretener Umstände wegen die Wohnung nicht behalten kann und sie jemand anderm übergeben werde, er möchte auch selbst nach einem Mieter suchen ...«

»Um diese Zeit kommt er sonst immer ...« sagte sie zerstreut zuhörend. »Ich werde ihm sagen, daß Sie noch einmal kommen werden.«[802]

»Ja, ich komme dieser Tage.«

Der Wagen verließ, von verzweifeltem Hundegebell begleitet, den Hof und begann sich auf den Erdklumpen der ungepflasterten Gasse zu schaukeln.

An deren entgegengesetzten Ecke erschien ein Mann mittleren Alters in einem schäbigen Überzieher, mit einem großen Pakete von Papieren unter dem Arm, mit einem dicken Stocke und in Galoschen, trotzdem ein trockener, heißer Tag war. Er ging rasch, indem er um sich blickte und so einherschritt, als ob er das Holztrottoir durchtreten wollte. Oblomow blickte ihm nach und sah, daß er ins Pschenizinsche Tor einbog. Jetzt kehrt wahrscheinlich der Bruder zurück! dachte er. Der Teufel soll ihn holen! Ich würde mit ihm eine Stunde sprechen müssen. Ich will aber jetzt essen, es ist so heiß! Auch wartet Oljga auf mich ... Ein andermal!

»Fahr schneller!« rief er dem Kutscher zu.

Ich müßte aber eine andere Wohnung ansehen! fiel ihm plötzlich ein, indem er sich umschaute und die Zäune betrachtete. Ich muß wieder zurück auf die Morskaja und die Konjuschennaja. Das nächste Mal! entschied er.

»Fahr schneller!«

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 790-803.
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