[497] Nachdem Sachar hinter Tarantjew und Alexejew die Tür geschlossen hatte, setzte er sich nicht auf die Ofenbank, in der Erwartung, der Herr würde ihn gleich rufen, da er gehört hatte, daß Ilja Iljitsch zu schreiben vorhatte. Doch in Oblomows Arbeitszimmer war alles still wie in einem Grab. Sachar sah durch eine Spalte hinein, und was bot sich seinen Blicken dar? Ilja Iljitsch lag auf dem Sofa und stützte den Kopf auf die Handfläche; vor ihm lag ein Buch. Sachar öffnete die Tür.
»Warum liegen Sie wieder?« fragte er.
»Störe mich nicht; du siehst, ich lese!« sagte Oblomow lakonisch.
»Es ist Zeit, daß Sie sich waschen und schreiben«, sagte Sachar, ohne sich abweisen zu lassen.
»Ja, es ist wirklich Zeit«, sagte Ilja Iljitsch, zur Besinnung kommend. »Gleich, geh nur. Ich werde noch nachdenken.«
»Wann hat er es nur fertiggebracht, sich wieder hinzulegen!« brummte Sachar, auf die Ofenbank springend. »Da hat er sich aber beeilt!«
Oblomow hatte unterdessen die von der Zeit vergilbte Seite zu Ende gelesen, auf der er seine Lektüre vor einem Monat unterbrochen hatte. Er legte das Buch wieder auf seinen Platz, gähnte und vertiefte sich in den nicht zu bannenden Gedanken »über das doppelte Malheur«.
»Was für eine Langeweile!« flüsterte er, seine Beine streckend und wieder einziehend.
Er hatte Lust, sich den Träumen und dem Nichtstun hinzugeben; er richtete die Augen auf den Himmel und[498] suchte die geliebte Sonne, doch sie stand gerade im Zenit und überflutete die Kalkwand des Hauses, hinter dem sie abends vor Oblomows Fenster unterging, mit ihrem blendenden Licht.
Nein, zuerst die Arbeit, dachte er voller Strenge, und dann ...
Der ländliche Morgen war längst vorüber, und der Petersburger neigte sich seinem Ende zu. Zu Ilja Iljitsch drang das Gewirr von menschlichen und nicht menschlichen Stimmen von draußen herein. Der Gesang wandernder Künstler, der meistens von Hundegebell begleitet wurde. Man zeigte auch Meertiere und bot alle möglichen Verkaufsartikel an.
Er legte sich auf den Rücken und verschränkte beide Hände unter dem Kopf. Ilja Iljitsch nahm das Ausarbeiten des Gutsplanes in Angriff. Er ließ im Geiste rasch ein paar ernste, grundlegende Fragen bezüglich der Abgaben und des Pflügens vorübergleiten, erfand eine neue strenge Maßregel gegen die Faulheit und das Vagabundieren der Bauern und ging zur Einrichtung seines eigenen Lebens auf dem Gut über. Ihn beschäftigte das Bauen eines Landhauses; er verweilte mit Vergnügen ein paar Minuten lang bei der Einteilung der Räume, bestimmte die Länge und Breite des Speise- und des Billardzimmers, überlegte es sich, wohin er die Fenster seines Arbeitszimmers verlegen sollte, dachte sogar an die Möbel und die Teppiche. Dann verteilte er die Seitenflügel des Hauses nach der Zahl der Gäste, die er zu empfangen beabsichtigte, räumte den Ställen, Scheunen, Gesindestuben und verschiedenen anderen Nebenbauten Platz ein. Endlich ging er zum Garten über; er beschloß, alle alten Linden und Eichen, so, wie sie waren, zu lassen, die Äpfel- und Birnbäume zu vernichten und statt dessen Akazien zu pflanzen; er dachte auch über einen Park nach, nachdem er aber im Geiste einen annähernden Kostenüberschlag gemacht hatte, fand er, daß die Sache zu teuer sei, verschob diesen Plan auf später und ging zu dem Blumengarten und den Glashäusern[499] über. Jetzt erwachte in ihm der verlockende Gedanke an das zukünftige Obst so lebhaft, daß er sich plötzlich auf seinem Gut vorstellte, nachdem alles schon nach seinem Plan eingerichtet wäre und er dort beständig leben würde.
Er träumte davon, daß er an einem Sommerabend auf der Terrasse am Teetische, unter dem für die Sonne undurchdringlichen Schatten der Bäume, mit einer Pfeife sitze, träge den Rauch einziehe und die sich hinter den Bäumen eröffnende Landschaft, die Kühle und Stille genieße; und in der Ferne breiten sich die gelben Felder aus, die Sonne sinkt hinter den wohlbekannten Birkenhain und rötet den spiegelglatten Teich; über den Feldern steigt Dampf auf; es wird kühl; die Bauern gehen haufenweise nach Hause; die müßige Dienerschaft sitzt am Haustor; von dort tönen lustige Stimmen, Lachen und Balalaikaspiel herüber; die Mädchen spielen Haschen; um ihn herum tollen seine Kleinen, kriechen ihm auf die Knie, hängen sich an seinen Hals; am Samowar sitzt ... die Königin alles dessen, was ihn umgibt, seine Gottheit ... eine Frau! seine Frau! Und unterdessen leuchten aus dem mit eleganter Einfachheit eingerichteten Speisezimmer einladende Lichter heraus, und drin wird der große, runde Tisch gedeckt. Der zu seinem Majordomus ernannte Sachar, der schon einen ganz grauen Backenbart hat, deckt den Tisch, stellt das angenehm tönende Kristall auf und legt das Silber herum, wobei er jeden Augenblick bald ein Glas, bald eine Gabel zu Boden wirft; dann setzt man sich zum reichlichen Abendbrot; da sieht er auch seine Jugendkameraden, seinen unveränderlichen Freund Stolz und andere bekannte Gesichter. Dann begibt man sich zur Ruhe ...
Oblomows Gesicht rötete sich vor Glück; der Traum war so licht, lebendig und poetisch. Er fühlte auf einmal eine wahre Sehnsucht nach Liebe und stillem Glück, und es dürstete ihn plötzlich, die Felder und Hügel seiner Heimat zu sehen und sein Haus, seine Frau und seine Kinder zu haben ...[500]
Nachdem er etwa fünf Minuten auf dem Gesicht gelegen hatte, wandte er sich langsam wieder auf den Rücken um. Sein Gesicht leuchtete von einem sanften, rührenden Gefühl auf; er war glücklich. Er streckte seine Beine langsam und behaglich aus, so daß seine Beinkleider sich ein wenig hinaufschoben, doch er bemerkte diese kleine Nachlässigkeit gar nicht. Die gefälligen Träume trugen ihn leicht und frei, weit in die Ferne. Jetzt gab er sich seinem Lieblingsgedanken ganz hin; er dachte an die kleine Kolonie von Freunden, die sich in kleinen Dörfchen und Farmen, fünfzehn bis zwanzig Werst von seinem Gut entfernt, niederlassen würden, daran, wie sie sich der Reihe nach täglich versammeln würden, um zusammen zu Mittag zu essen, zu soupieren und zu tanzen; er sah nur heitere Tage und heitere, lachende, runde, rotbackige Gesichter mit einem Doppelkinn, deren Besitzer sich eines unverwüstlichen Appetits erfreuten; es würde ewiger Sommer, ewiger Frohsinn herrschen, man würde gut essen und süß faulenzen ...
»Gott, ach Gott!« sagte er aus der Fülle seines Glückes heraus und erwachte. Vom Hof ertönte es fünfstimmig herein: »Kartoffeln! Sand, brauchen Sie keinen Sand? Kohlen! Kohlen! Steuern Sie, gütige Herrschaften, zur Erbauung eines Gotteshauses bei!« Aus dem benachbarten Neubau drang das Klopfen der Hacken und das Schreien der Arbeiter herüber, und auf der Straße hörte man die Wagen rasseln. Überall Stimmen und Bewegung!
»Ach!« seufzte Ilja Iljitsch schmerzlich auf. Was das für ein Leben ist! Wie abscheulich dieser Großstadtlärm ist! Wann wird denn das ersehnte paradiesische Leben beginnen? Wann komme ich in die Felder und die vertrauten Wälder? dachte er. Jetzt würde er gern unter einem Baum auf dem Gras liegen, durch die Äste hindurch auf die Sonne blicken und zählen, wieviel Vögel sich auf die Zweige setzen. Und dann bringt irgendein rotbackiges Dienstmädchen mit nackten, runden und weichen Ellbogen und einem sonnengebräunten Hals[501] bald das Mittagessen und bald das Frühstück herein; die Schelmin senkt die Augen und lächelt ... Wann denn diese Zeit? ... Und der Plan, der Dorfschulze und die Wohnung? tauchte es in seinem Gedächtnis auf.
»Ja, ja!« sagte Ilja Iljitsch, »gleich, sofort!«
Oblomow erhob sich rasch und richtete sich auf dem Sofa auf, ließ dann die Füße vom Sofa herabgleiten, schlüpfte auf einmal in beide Pantoffeln hinein und blieb eine Weile so sitzen; dann erhob er sich endgültig und blieb ein paar Minuten lang sinnend stehen.
»Sachar, Sachar!« schrie er laut, auf den Tisch und das Tintenfaß blickend.
»Was ist denn?« hörte man mit dem Sprunge zugleich. »Wie mich nur meine Beine tragen!«
»Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch sinnend, ohne den Blick vom Tisch zu wenden. »Höre einmal, Bruder ...« begann er, auf das Tintenfaß hinweisend, versank aber, ohne den Satz zu vollenden, in seine Gedanken. Jetzt streckten sich seine Arme nach oben aus, die Knie sanken ein, er begann sich zu strecken, zu gähnen ... »Wir hatten dort noch«, begann er langsam, sich noch immer streckend, »ein Stück Käse, und ... gib mir Madeira; es ist noch weit bis zum Mittagessen, und ich werde jetzt ein wenig frühstücken ...«
»Wo hatten wir einen?« sagte Sachar. »Es ist nichts geblieben ...«
»Wieso ist nichts geblieben?« unterbrach ihn Ilja Iljitsch. »Ich erinnere mich ganz genau; es war noch ein so großes Stück da ...«
»Nein, nein! Es ist gar nichts zurückgeblieben!« wiederholte Sachar beharrlich.
»Es war noch etwas da!« sagte Ilja Iljitsch.
»Nein!« antwortete Sachar.
»Nun, dann kaufe Käse.«
»Geben Sie mir Geld.«
»Dort liegt kleines Geld, nimm es!«
»Hier ist nur ein Rubel vierzig, und ich brauche einen Rubel sechzig Kopeken.«[502]
»Dort waren noch Kupfermünzen!«
»Ich habe keine gesehen!« sagte Sachar, von einem Fuß auf den anderen tretend. »Es war Silber da, das liegt hier noch, es waren aber keine Kupfermünzen dabei!«
»Es waren welche dabei; gestern hat sie der Hausierer mir selbst in die Hand gegeben.«
»Ich war dabei«, sagte Sachar, »ich habe gesehen, daß er Kleingeld gegeben hat, ich habe aber keine Kupfermünzen gesehen ...«
Vielleicht hat Tarantjew sie genommen? dachte Ilja Iljitsch unschlüssig, aber nein, der hätte auch das Kleingeld genommen.
»Was gibt es also sonst noch?« fragte er.
»Gar nichts! Ich muß Anissja fragen, ob der gestrige Schinken noch da ist«, sagte Sachar. »Soll ich ihn bringen?«
»Bringe, was da ist. Wieso ist denn sonst nichts geblieben?«
»Nun, es ist eben nichts geblieben!« sagte Sachar und ging.
Und Ilja Iljitsch spazierte langsam und sinnend im Zimmer herum.
»Ja, ich habe viel Sorgen«, sagte er leise. »Zum Beispiel der Plan – wieviel Arbeit er noch erfordert! ... Und es ist doch ein Stück Käse übriggeblieben«, fügte er sinnend hinzu, »Sachar hat ihn aufgegessen und sagt, daß keiner da war! Und wo sind die Kupfermünzen hingekommen?« sagte er, mit der Hand auf dem Tisch herumtastend.
Nach einer Viertelstunde stieß Sachar die Tür mit dem Präsentierbrett auf, das er in beiden Händen hielt, und wollte, als er im Zimmer war, die Tür mit dem Fuß zuschlagen, doch er hatte falsch gezielt und traf den leeren Raum; das Weinglas fiel herab, ihm folgte der Pfropfen der Karaffe und eine Semmel.
»Du kannst keinen Schritt machen, ohne daß so etwas vorkommt!« sagte Ilja Iljitsch. »Nun, so hebe doch das, was du fallen gelassen hast, auf; er steht noch da und bewundert es!«[503]
Sachar beugte sich mit dem Präsentierteller herab, um die Semmel aufzuheben, bemerkte aber, als er sich niedergekauert hatte, daß seine beiden Hände beschäftigt waren und er nichts hatte, womit er die Semmel aufheben konnte.
»Nun, hebe es einmal auf!« sagte Ilja Iljitsch spöttisch. »Nun also? Warum tust du es denn nicht?«
»Oh, daß euch der Teufel hole, ihr verfluchten«, wandte sich Sachar wütend an die herabgeworfenen Gegenstände, »wo kommt es denn vor, daß knapp vor dem Mittagessen gefrühstückt wird?«
Er stellte das Präsentierbrett hin und hob alles, was ihm heruntergefallen war, vom Fußboden auf; er nahm die Semmel, blies sie ab und legte sie auf den Tisch.
Ilja Iljitsch begann zu frühstücken, und Sachar blieb in einiger Entfernung stehen und blickte ihn von der Seite an, als hätte er vor, etwas zu sagen. Aber Oblomow frühstückte, ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken. Sachar räusperte sich zweimal. Oblomow sah sich noch immer nicht um.
»Der Verwalter hat soeben wieder herübergeschickt«, begann Sachar endlich schüchtern, »er sagt, der Baumeister war bei ihm, er fragt, ob er unsere Wohnung anschauen darf? Es ist alles des Umbaues wegen ...«
Ilja Iljitsch aß, ohne ein Wort zu erwidern.
»Ilja Iljitsch!« sagte Sachar nach einer Weile noch leiser.
Ilja Iljitsch gab sich den Anschein, als hörte er nichts.
»Man fordert, daß wir nächste Woche ausziehen«, krächzte Sachar.
Oblomow trank ein Glas Wein und schwieg.
»Was sollen wir denn anfangen, Ilja Iljitsch?« fragte Sachar fast flüsternd.
»Habe ich dir denn nicht verboten, mir davon zu sprechen!« sagte Ilja Iljitsch streng, erhob sich und kam auf Sachar zu. Dieser wich vor ihm zurück.
»Was du für ein giftiger Mensch bist, Sachar!« fügte Oblomow überzeugt hinzu.
Sachar fühlte sich verletzt.[504]
»Aber«, sagte er, »ich bin giftig! Warum bin ich denn giftig? Ich habe niemand umgebracht.«
»Natürlich bist du giftig!« wiederholte Ilja Iljitsch, »du vergiftest mir das Leben.«
»Ich bin nicht giftig!« sagte Sachar.
»Warum läßt du mir mit der Wohnung keine Ruhe?«
»Was soll ich denn tun?«
»Und was soll ich denn tun?«
»Sie wollten doch dem Hausherrn schreiben!«
»Ich werde ihm auch schreiben; warte nur; aber das geht doch nicht so schnell!«
»Sie sollten ihm jetzt gleich schreiben!«
»Jetzt, jetzt! Ich habe noch Wichtigeres zu tun. Du glaubst, das ist wie Holzhacken? Eins, zwei, drei? Da«, sagte Oblomow, die trockene Feder in das Tintenfaß tauchend, »es ist ja gar keine Tinte drin! Wie soll ich schreiben?«
»Ich werde gleich Kwaß hineintun«, sagte Sachar, nahm das Tintenfaß in die Hand und ging damit rasch ins Vorzimmer, während Oblomow nach Papier zu suchen begann. »Ich glaube, es ist auch kein Papier da!« sprach er zu sich selbst, in der Schublade herumstöbernd und auf dem Tisch herumtastend. »Nirgends! Ach, dieser Sachar, er ist unerträglich!«
»Und du willst kein giftiger Mensch sein?« sagte Ilja Iljitsch zu Sachar, der wieder hereinkam, »du kümmerst dich um gar nichts! Weshalb ist kein Papier im Hause?«
»Was ist denn das für eine Plage, Ilja Iljitsch! Ich bin ein Christ, warum sagen Sie, daß ich giftig bin? Was Ihnen einfällt; ich soll giftig sein! Wir sind beim alten Herrn geboren und aufgewachsen, er hat uns Hund zu schimpfen und bei den Ohren zu reißen geruht, wir haben aber nie ein solches Wort gehört, er hat sich so etwas nicht ausgedacht! Das ist ja eine Sünde! Da ist Papier, bitte!«
Er nahm von der Etagere einen halben Bogen grauen Papiers herab und reichte es ihm.[505]
»Kann man denn darauf schreiben?« fragte Oblomow, das Papier fortwerfend, »ich habe damit für die Nacht mein Glas zugedeckt, um zu verhindern, daß etwas ... Giftiges hineinkommt.«
Sachar wandte sich ab und blickte auf die Mauer.
»Nun, da kann man nichts machen. Gib her, ich schreibe das Konzept, und Alexejew schreibt es dann ab.«
Ilja Iljitsch setzte sich an den Tisch und schrieb schnell: »Euer Wohlgeboren! ...«
»Wie schlecht die Tinte ist!« sagte er, »passe nächstes Mal besser auf und erfülle deine Pflichten, wie es sich gehört!« Er dachte ein wenig nach und begann dann wieder zu schreiben:
»Die Wohnung, welche ich im zweiten Stock des Hauses gemietet habe, in welchem Sie einiges umzubauen beabsichtigen, entspricht vollkommen meiner Lebensweise und den von mir infolge des langen Wohnens in diesem Hause angenommenen Gewohnheiten. Durch meinen Leibeigenen, Sachar Trofimow, benachrichtigt, daß Sie mir mitzuteilen befohlen haben, daß die von mir gemietete Wohnung ...«
»Das ist ungeschickt«, sagte er, »hier steht zweimal daß und dort zweimal welche.«
Er murmelte vor sich hin und stellte die Worte um; dann sah er, daß welcher sich auf Stock bezog – das ging wieder nicht. Er änderte das, so gut es ging, um und begann darüber zu grübeln, wie er die Wiederholung von daß vermeiden könnte. Bald strich er ein Wort durch, bald schrieb er es wieder hin. Er stellte daß dreimal um, doch dabei kam entweder ein Unsinn oder die Nachbarschaft eines zweiten daß heraus.
»Man kann dieses zweite Daß gar nicht loswerden!« sagte er ungeduldig. »Ach! Zum Teufel mit diesem Brief! Ich soll mir wegen solcher Kleinigkeiten den Kopf zerbrechen! Ich bin es nicht mehr gewohnt, Geschäftsbriefe zu schreiben. Und jetzt ist es schon bald drei Uhr.«
»Sachar, da hast du es!« Er zerriß den Brief in vier Stücke und warf sie zu Boden.[506]
»Hast du's gesehen?« fragte er.
»Ich hab's gesehen«, antwortete Sachar, die Papierschnitzel aufhebend.
»Also, laß mich jetzt mit der Wohnung in Ruhe. Und was hast du da?«
»Die Rechnungen.«
»Ach, du mein Gott! Du quälst mich zu Tode! Nun, wieviel steht da, sag's schnell!«
»Der Schlächter bekommt 86 Rubel 54 Kopeken.«
Ilja Iljitsch schlug die Hände zusammen.
»Bist du verrückt? Der Schlächter allein bekommt einen solchen Haufen Geld?«
»Wir haben seit drei Monaten nicht gezahlt, da kann sich schon ein Haufen ansammeln! Hier steht es drin, man hat es nicht gestohlen!«
»Und du willst nicht giftig sein?« sagte Oblomow. »Du hast für eine Million Fleisch gekauft! Wie kannst du so viel in dich hineinbringen? Wenn man wenigstens etwas davon hätte.«
»Ich hab's nicht aufgegessen!« gab Sachar barsch zur Antwort.
»Nein! Du hast's nicht gegessen!«
»Warum werfen Sie mir mein Essen vor? Da, sehen Sie!« Und er streckte ihm die Rechnungen hin.
»Nun, wem noch?« fragte Ilja Iljitsch, die fettigen Hefte ärgerlich von sich stoßend.
»Noch 121 Rubel 18 Kopeken dem Bäcker und Gemüsehändler.«
»Das ist ja der Ruin! Das ist unerhört!« sagte Oblomow ganz außer sich. »Bist du denn eine Kuh, daß du so viel Grünzeug zusammenkaufst ...«
»Nein! Ich bin ein giftiger Mensch!« bemerkte Sachar bitter, sich gänzlich vom Herrn abwendend. »Wenn Sie Michej Andreitsch nicht zu sich lassen würden, hätten wir weniger verbraucht!« fügte er hinzu.
»Nun, wieviel macht also das Ganze aus, rechne!« sagte Ilja Iljitsch und begann selbst zu rechnen.
Sachar zählte an seinen Fingern herum.[507]
»Zum Teufel, was für ein Unsinn herauskommt; jedesmal etwas anderes!« sagte Oblomow. »Nun, wieviel hast du herausgebracht, zweihundert?«
»Warten Sie, lassen Sie mir Zeit!« sagte Sachar, die Augen schließend und brummend, »acht Zehner und zehn Zehner sind achtzehn und zwei Zehner ...«
»Nun, du wirst so niemals fertig«, sagte Ilja Iljitsch, »geh in dein Zimmer und gib mir morgen die Rechnung, sorge auch für Papier und Tinte ... So ein Haufen Geld! Ich habe gesagt, man soll nach und nach zahlen, er geht aber immer darauf aus, alles auf einmal zu begleichen ... Ist das ein Volk!«
»Zweihundertfünfzig Rubel zweiundsiebzig Kopeken«, sagte Sachar, als er mit dem Zusammenrechnen fertig war. »Geben Sie mir das Geld.«
»Aber natürlich, sofort! Wart nur noch: Ich werde morgen nachrechnen ...«
»Wie Sie wollen, Ilja Iljitsch, aber man verlangt das Geld ...«
»Nun, laß mich nur in Ruh'! Wenn ich sage morgen, dann kriegst du's auch morgen. Geh in dein Zimmer, ich habe zu tun. Ich habe größere Sorgen ...«
Ilja Iljitsch setzte sich in den Sessel hinein, zog die Füße hinauf und wollte sich gerade in seine Gedanken versenken, als ein Läuten ertönte. Es erschien ein kleiner Mann mit einem mäßigen Bäuchlein, mit einem weißen Gesicht, roten Backen und einer Glatze, die im Nacken mit schwarzen, dichten Haaren wie mit Fransen verbrämt war. Die Glatze war rund, rein und glänzte so, als wäre sie aus Elfenbein geschnitzt. Das Gesicht des Gastes zeichnete sich durch einen besorgten, aufmerksamen Ausdruck allem gegenüber, was er anblickte, durch einen reservierten Blick, durch ein gemäßigtes Lächeln und einen bescheidenen, offiziellen Ausdruck aus. Er trug einen bequemen Frack, der sich beinahe bei einer bloßen Bewegung schon weit und behaglich öffnete wie ein Tor. Seine Wäsche war, wie um mit der Glatze zu harmonieren, von blendendem Weiß. Er trug auf dem Zeigefinger[508] der rechten Hand einen großen, massiven Ring mit irgendeinem dunklen Stein.
»Doktor! Durch welche Schicksalsfügung kommen Sie?« rief Oblomow aus, dem Gast die eine Hand hinstreckend und ihm mit der zweiten einen Sessel hinschiebend.
»Es dauert mir zu lange, daß Sie immer gesund sind und mich nicht holen lassen, darum komme ich selbst«, antwortete der Doktor scherzhaft. »Nein«, fügte er dann ernst hinzu, »ich war oben bei Ihrem Nachbarn und bin bei der Gelegenheit nachschauen gekommen, wie es Ihnen geht.«
»Danke. Und was ist mit dem Nachbar?«
»Was mit ihm ist? Die Sache wird sich drei, vier Wochen, vielleicht auch bis zum Herbst hinziehen, und dann ... dann steigt das Wasser in die Brust. Das bekannte Ende. Nun, und wie geht es Ihnen?«
Oblomow schüttelte traurig den Kopf.
»Schlecht, Doktor. Ich habe selbst daran gedacht, Sie um Rat zu fragen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Der Magen arbeitet fast gar nicht, ich fühle einen Druck unter der Herzgrube, mich quält Sodbrennen, ich atme schwer ...« zählte Oblomow mit kläglicher Stimme auf.
»Geben Sie mir die Hand«, sagte der Doktor, griff nach dem Puls und schloß für einen Augenblick die Augen. »Husten Sie?« fragte er.
»In der Nacht besonders, wenn ich soupiert habe.«
»Hm! Leiden Sie an Herzklopfen? An Kopfschmerzen?«
Der Doktor stellte noch ein paar ähnliche Fragen, neigte dann seine Glatze und versank in ein tiefes Nachdenken. Nach zwei Minuten hob er plötzlich den Kopf und sagte mit entschlossener Stimme:
»Wenn Sie noch zwei, drei Jahre in diesem Klima leben, immer liegen, Fettes und Schwerverdauliches essen – werden Sie an Schlagfluß sterben.«
Oblomow fuhr zusammen.
»Was soll ich denn tun? Helfen Sie mir, um Gottes willen!« sagte er.[509]
»Dasselbe, was die andern tun: ins Ausland reisen.«
»Ins Ausland!« wiederholte Oblomow erstaunt.
»Ja. Warum denn nicht?«
»Aber, ich bitte Sie, Doktor, ins Ausland! Wie kann man denn das?«
»Warum soll man denn nicht hinreisen?«
Oblomow richtete die Augen schweigend auf sich selbst, dann auf sein Arbeitszimmer und wiederholte mechanisch:
»Ins Ausland!«
»Was hindert Sie denn daran?«
»Was mich hindert? Alles ...«
»Wieso alles? Haben Sie denn kein Geld?«
»Ja, ja. Ich habe wirklich kein Geld«, sagte Oblomow lebhaft, durch dieses so natürliche Hindernis erfreut, hinter das er sich ganz, mit Haut und Haar, verstecken konnte. »Schauen Sie einmal, was der Dorfschulze mir schreibt ... Wo ist der Brief? Wo habe ich ihn hingelegt? Sachar!«
»Gut, gut«, sagte der Doktor, »das geht mich nichts an; meine Pflicht ist, Ihnen zu sagen, daß Sie die Lebensweise, den Ort, die Luft, die Beschäftigung, alles, alles verändern müssen.«
»Gut, ich werde es mir überlegen«, sagte Oblomow. »Wohin soll ich denn fahren, und was soll ich tun?«
»Fahren Sie nach Kissingen«, begann der Doktor, »verleben Sie dort den Juni und Juli. Trinken Sie den dortigen Brunnen. Dann begeben Sie sich in die Schweiz oder nach Tirol und machen eine Traubenkur durch. Dort verbringen Sie den September und Oktober ...«
»Zum Teufel auch, nach Tirol!« flüsterte Ilja Iljitsch kaum hörbar.
»Dann irgendwohin, in eine trockene Gegend, vielleicht nach Ägypten ...«
»Das auch noch!« flüsterte Oblomow.
»Beseitigen Sie die Sorgen und Unannehmlichkeiten ...«
»Sie haben gut reden«, bemerkte Oblomow, »Sie bekommen keine solchen Briefe vom Dorfschulzen ...«[510]
»Sie müssen auch die Gedanken verscheuchen«, fuhr der Doktor fort.
»Die Gedanken?«
»Ja, geistige Anstrengung.«
»Und der Plan der Gutseinrichtung? Ich bitte Sie, bin ich denn ein Holzklotz ...«
»Wie Sie wollen. Es ist meine Pflicht, Sie zu warnen. Sie müssen auch den Leidenschaften aus dem Wege gehen, sie sind der Kur hinderlich. Sie müssen sich bestreben, sich durch Reiten, Tanzen, durch mäßige Bewegung in der frischen Luft und durch angenehme Gespräche, besonders mit Damen, zu zerstreuen, damit das Herz nur von angenehmen Empfindungen und nicht zu stark zum Klopfen gebracht wird.«
Oblomow lauschte ihm mit gesenktem Kopfe.
»Dann?« fragte er.
»Dann vermeiden Sie es vor allem, zu lesen und zu schreiben! Mieten Sie eine Villa, deren Fenster nach dem Süden gerichtet sind, schaffen Sie sich viel Blumen an und bestreben Sie sich, Musik und Frauen in der Nähe zu haben ...«
»Und wie soll die Nahrung sein?«
»Meiden Sie das Fleisch und überhaupt jede tierische Nahrung, auch die mehligen und salzigen Speisen. Sie können eine leichte Bouillon und Gemüse essen; nehmen Sie sich aber in acht, jetzt droht fast überall die Cholera, so daß man vorsichtig sein muß ... Sie können acht Stunden täglich gehen. Kaufen Sie sich ein Gewehr ...«
»O Gott!« stöhnte Oblomow.
»Endlich«, schloß der Doktor, »reisen Sie für den Winter nach Paris und zerstreuen Sie sich dort ohne Bedenken im Wirbel des Lebens. Fahren Sie vom Theater zum Ball, in die Maskerade, aufs Land, auf Besuch, damit um Sie herum Freude, Lärm, Lachen sind ...«
»Brauche ich vielleicht noch etwas?« fragte Oblomow mit schlecht zurückgehaltenem Ärger.
Der Doktor sann nach.
»Vielleicht sollten Sie noch Meerluft einatmen. Schiffen[511] Sie sich in England ein und fahren Sie bis nach Amerika ...«
Er erhob sich und verabschiedete sich.
»Gut, gut, ich befolge es sicher«, antwortete Oblomow sarkastisch, ihn hinausbegleitend.
Der Doktor ließ Oblomow in einem jammervollen Zustande zurück. Er schloß die Augen, legte beide Hände auf den Kopf, kauerte sich auf dem Sessel zu einem Knäuel zusammen und blieb so sitzen, ohne irgendwo hinzublicken und ohne etwas zu fühlen.
Hinter ihm ertönte der schüchterne Ruf:
»Ilja Iljitsch! Was soll ich denn dem Verwalter sagen?«
»Was denn?«
»Wegen des Ausziehens!«
»Du fängst wieder davon an?« fragte Oblomow erstaunt.
»Was soll ich denn tun, Väterchen Ilja Iljitsch? Sagen Sie selbst, mein Leben ist auch so nicht süß, ich schaue schon ins Grab ...«
»Nein, es scheint, daß du mit deinem Umzug mich ins Grab jagen willst«, sagte Oblomow. »Hör einmal, was der Doktor sagt!«
Sachar fand nichts zu erwidern, er seufzte nur so auf, daß die Zipfel seines Halstuches auf seiner Brust erbebten.
»Du hast beschlossen, mich umzubringen?« fragte Oblomow wieder, »du bist meiner überdrüssig, ja? Nun, so sprich doch!«
»Aber Gott sei mit Ihnen! Leben Sie, solange Sie wollen! Wer wünscht Ihnen Böses?« brummte Sachar, durch die tragische Wendung, die das Gespräch annahm, ganz verlegen gemacht.
»Du!« sagte Ilja Iljitsch, »ich habe dir verboten, auch nur ein Wort vom Umzug zu sagen, und du läßt keinen Tag vorübergehen, ohne mich fünfmal daran zu erinnern. Das verstimmt mich doch, begreife das doch. Meine Gesundheit taugt auch so nicht viel.«
»Ich hab' mir gedacht, Herr ... ich hab' gedacht, warum[512] wir denn eigentlich nicht ausziehen sollen?« sagte Sachar mit vor innerer Erregung bebender Stimme.
»Warum wir nicht ausziehen sollen! Du beurteilst das so leichtfertig!« antwortete Oblomow, sich zusammen mit dem Sessel zu Sachar umwendend. »Hast du's dir ordentlich überlegt, was es heißt, auszuziehen, he? Du hast dir das gewiß nicht überlegt!«
»Nein, ich hab' mir's nicht überlegt!« antwortete Sachar demütig, bereit, dem Herrn in allem beizustimmen, um die Sache nur nicht zu pathetischen Szenen kommen zu lassen, die er wie die Pest fürchtete.
»Wenn du's dir nicht überlegt hast, dann höre zu und sage, ob wir umziehen können oder nicht. Was heißt das, umziehen? Das heißt, der Herr soll für den ganzen Tag fortgehen und vom Morgen ab angekleidet herumgehen ...«
»Nun, und wenn es so ist?« bemerkte Sachar, »warum sollten Sie nicht für den ganzen Tag fortgehen? Es ist ja doch nur ungesund, zu Hause zu sitzen. Wie schlecht Sie jetzt aussehen! Früher waren Sie so frisch wie eine Gurke, und jetzt, seit Sie zu Hause sitzen, sehen Sie Gott weiß wie aus. Sie sollten durch die Straßen gehen, sich die Leute oder sonst was anschauen ...«
»Sprich keinen Unsinn und höre zu«, sagte Oblomow. »Durch die Straßen gehen!«
»Ja, wirklich«, fuhr Sachar mit großem Eifer fort. »Man erzählt, daß jetzt ein unerhörtes Ungeheuer gezeigt wird. Sie sollten es sich ansehen. Sie können ja ins Theater oder zum Maskenball gehen, und wir würden hier unterdessen umziehen.«
»Was du für Dummheiten sagst! Du sorgst dich sehr um die Ruhe deines Herrn! Ich soll mich, deiner Meinung nach, den ganzen Tag irgendwo herumtreiben, es macht dir nichts, daß ich Gott weiß wo und wie essen werde und nach dem Mittagessen mich nicht ausruhen kann! ... Sie sollen da ohne mich alles einpacken! Wenn man nicht aufpaßt, kommen nur Scherben an. Ich weiß«, sagte Oblomow mit wachsender Überzeugung, »was ein[513] Umzug bedeutet! Das bedeutet Wirrwarr und Lärm; man wirft alle Sachen auf einen Haufen auf den Fußboden. Da ist der Koffer, die Sofalehne, da sind Bilder, Pfeifen, allerlei Flaschen dabei, die man fast niemals sieht, die aber dann, der Teufel weiß woher, auftauchen! Man muß auf alles aufpassen, damit es nicht verloren und zerschlagen wird ... Die eine Hälfte ist hier, die zweite auf der Fuhre oder in der neuen Wohnung; man will rauchen, greift nach der Pfeife, der Tabak ist aber schon fort ... Man will sich niedersetzen, weiß aber nicht wohin; wenn man etwas anrührt, macht man sich schmutzig; alles ist staubig; man kann sich nicht waschen und muß mit solchen Händen herumgehen, wie du sie hast ...«
»Ich habe reine Hände«, bemerkte Sachar, und zeigte statt der Hände etwas, das wie zwei Schuhsohlen aussah.
»Zeig sie mir lieber nicht!« sagte Ilja Iljitsch, sich abwendend. »Und wenn man trinken will«, sprach er weiter, »und nach der Karaffe greift, ist kein Glas da ...«
»Man kann auch aus der Karaffe trinken!« bemerkte Sachar gutmütig.
»Ihr haltet's mit allem so: man kann auch nicht fegen und nicht abstauben und keine Teppiche klopfen. Und in der neuen Wohnung«, fuhr Ilja Iljitsch fort, von dem seiner Vorstellung lebhaft erscheinenden Bild des Umzuges selbst hingerissen, »wird man in drei Tagen nicht fertig, alles liegt nicht auf seinem Platze, die Bilder stehen an der Wand und liegen auf dem Fußboden, die Galoschen befinden sich auf dem Bett, die Stiefel sind mit dem Tee und der Pomade in einem Bündel. Bald bemerkt man, daß der Fuß des Sessels abgebrochen ist, bald, daß das Glas auf dem Bilde zerbrochen ist oder daß das Sofa voller Flecken ist. Es ist nichts da; wenn man nach etwas frägt, weiß niemand, wo es ist, man hat es entweder verloren oder in der alten Wohnung zurückgelassen; dann muß man hinlaufen ...«
»Manchmal läuft man zehnmal hin und her«, unterbrach Sachar.[514]
»Ja, siehst du!« sprach Oblomow weiter. »Und wenn man in der neuen Wohnung des Morgens aufsteht, was ist das dann für eine Qual! Es gibt weder Wasser noch Kohlen, und im Winter muß man in der Kälte sitzen, die Zimmer sind ausgefroren, man hat aber kein Holz; dann muß man herumlaufen und sich welches borgen ...«
»Und was für Nachbarn Gott einem noch schickt«, bemerkte Sachar wieder, »bei manchen kann man sich nicht nur kein Bündel Holz, sondern auch nicht einmal einen Krug Wasser ausbitten.«
»Na also!« sagte Ilja Iljitsch, »man könnte glauben, daß die Schererei ein Ende hat, wenn man bis zum Abend umgezogen ist, man hat aber noch zwei Wochen lang zu tun. Man meint, alles ist geordnet ... Wenn man aber hinsieht, ist richtig etwas noch zurückgeblieben. Die Stores müssen aufgehängt, die Bilder angenagelt werden, man ist ganz erschöpft und möchte gar nicht weiterleben ... Und die Ausgaben, die Ausgaben ...«
»Voriges Mal, vor acht Jahren, hat's zweihundert Rubel ausgemacht, ich erinnere mich noch ganz genau«, bestätigte Sachar.
»Nun, ist das vielleicht ein Spaß!« sagte Ilja Iljitsch. »Und wie unbehaglich man sich anfangs in der neuen Wohnung fühlt! Man gewöhnt sich ja nicht so bald daran. Ich werde an dem neuen Ort fünf Nächte nicht schlafen können; ich werde traurig sein, wenn ich des Morgens aufstehe und statt des Aushängeschildes des Drechslers mir gegenüber etwas anderes sehe oder wenn jene geschorene Alte nicht vormittags aus dem Fenster herausschaut ...
Siehst du jetzt selbst ein, wozu du deinen Herrn bringen wolltest?« fragte Ilja Iljitsch vorwurfsvoll.
»Ich sehe es ein«, flüsterte Sachar demütig.
»Warum hast du mir also vorgeschlagen, umzuziehen? Können denn menschliche Kräfte das alles ertragen?«
»Ich habe geglaubt, daß es andere gibt, die nicht schlechter sind als wir und die umziehen, daß also auch wir es tun könnten ...« sagte Sachar.[515]
»Was? Was?« fragte Ilja Iljitsch, sich erstaunt auf seinem Sessel aufrichtend. »Was hast du gesagt?«
Sachar wurde plötzlich verlegen, da er nicht wußte, wodurch er seinem Herrn Anlaß zu dem pathetischen Ausrufe und zu der Bewegung gegeben hatte. Er schwieg.
»Andere sind nicht schlechter!« wiederholte Ilja Iljitsch entsetzt, »so weit bist du also gekommen! Nun weiß ich also, daß ich für dich ebensogut wie ein ›anderer‹ bin.«
Oblomow verneigte sich ironisch vor Sachar und machte ein höchst beleidigtes Gesicht.
»Aber ich bitte, Ilja Iljitsch, stelle ich Sie denn mit irgendwem gleich? ...«
»Geh mir aus den Augen!« sagte Oblomow befehlend und wies mit der Hand auf die Tür hin, »ich kann dich nicht sehen. Ah! Die ›anderen‹! Gut!«
Sachar zog sich mit einem tiefen Seufzer zurück.
»Ist das ein Leben!« brummte er, sich auf die Ofenbank setzend.
»Mein Gott!« stöhnte auch Oblomow, »ich hatte vor, den Morgen nützlicher Arbeit zu widmen, man hat mich aber für den ganzen Tag verstimmt. Und wer denn? Der eigene, ergebene, erprobte Diener! Was er da gesagt hat! Wie konnte er das nur?«
Es gelang Oblomow lange nicht, sich zu beruhigen; er legte sich hin, stand auf, ging im Zimmer herum und legte sich dann wieder hin. In dem Umstande, daß Sachar ihn bis auf die Stufe der »andern« herabsteigen ließ, sah er einen Eingriff in seine Rechte auf Sachars ausschließliche Bevorzugung der Person des Herrn allen Menschen gegenüber. Er drang in die Tiefe dieses Vergleiches ein und untersuchte, was die »andern« seien und was er sei, in welchem Grade eine solche Parallele möglich und gerecht erscheine und wie groß die ihm durch Sachar zugefügte Beleidigung sei; endlich ob Sachar ihn bewußt gekränkt habe, ob es seine Überzeugung sei, daß man Ilja Iljitsch einem »andern« gleichstellen könne,[516] oder ob das seiner Zunge nur so, ohne Anteilnahme seines Kopfes entschlüpft sei. Das alles hatte Oblomows Eitelkeit verletzt, und er beschloß, Sachar den Unterschied zwischen sich selbst und jenen, die er unter der Benennung »andere« meinte, zu zeigen und ihn auf die ganze Niedertracht seiner Handlung hinzuweisen.
»Sachar!« rief er gedehnt und feierlich.
Als Sachar diesen Ruf hörte, sprang er nicht wie sonst mit den Füßen klopfend von der Ofenbank herab und brummte nicht; er kroch langsam vom Ofen herunter und ging, alles mit den Händen und den Seiten streifend, langsam und ungern hin, wie ein Hund, welcher der Stimme des Herrn anhört, daß sein Streich entdeckt worden ist und daß man ihn ruft, um ihn zu bestrafen. Sachar öffnete halb die Tür, wagte es aber nicht, einzutreten.
»Komm herein!« sagte Ilja Iljitsch.
Obschon die Tür sich leicht öffnen ließ, machte Sachar sie so auf, als könne er nicht durchkriechen, blieb deshalb in der Tür stecken und kam nicht herein.
Oblomow saß auf dem Sofarand.
»Komm her!« Er gab nicht nach.
Sachar befreite sich mit Mühe aus der Tür, schloß sie aber gleich hinter sich und lehnte seinen Rücken fest an sie an.
»Hierher!« sagte Ilja Iljitsch, mit dem Finger auf den Platz neben sich hinweisend. Sachar machte einen halben Schritt nach vorwärts und blieb zwei Klafter von der bezeichneten Stelle entfernt stehen.
»Noch näher!« sagte Oblomow.
Sachar gab sich den Anschein, als schreite er weiter, er bewegte sich aber nur, stampfte mit dem Fuße und blieb auf derselben Stelle. Da Ilja Iljitsch sah, es würde ihm diesmal nicht gelingen, Sachar näher zu locken, ließ er ihn dort stehen und blickte ihn eine Zeitlang schweigend und vorwurfsvoll an. Sachar, der sich bei dieser lautlosen Betrachtung seiner Person unbehaglich fühlte, gab sich den Anschein, daß er den Herrn nicht beachte,[517] wandte ihm mehr als jemals seine Seite zu und warf Ilja Iljitsch in diesem Augenblicke nicht einmal seinen einseitigen Blick zu. Er schaute beharrlich nach links, nach der entgegengesetzten Seite hin. Dort erblickte er einen ihm längst bekannten Gegenstand – die Spinnwebenfransen um die Bilder herum, und sah in der Spinne einen lebendigen Vorwurf seiner Nachlässigkeit.
»Sachar!« sagte Ilja Iljitsch leise und würdevoll.
Sachar antwortete nicht; er schien zu denken: Nun, was willst du? Einen andern Sachar? Ich stehe ja hier! und richtete seinen Blick an seinem Herrn vorbei von links nach rechts; er wurde auch dort durch den Spiegel, der mit dichtem Staub wie mit einem Schleier bedeckt war, an sich selbst erinnert; durch diesen Staub hindurch blickte ihn wild und düster, wie durch einen Nebel hindurch, sein eigenes unfreundliches, häßliches Gesicht an. Er wandte seinen Blick unzufrieden von diesem traurigen, ihm nur zu gut bekannten Gegenstand ab und entschloß sich, ihn für einen Augenblick auf Ilja Iljitsch haften zu lassen. Ihre Blicke begegneten sich. Sachar ertrug den Vorwurf nicht, der sich in den Augen des Herrn ausdrückte, und senkte die seinigen zu seinen Füßen herab. Hier sah er wieder im Teppich, der von Staub und Flecken durchsetzt war, ein trauriges Zeugnis für den Eifer, den er im herrschaftlichen Dienst äußerte.
»Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch ausdrucksvoll.
»Was wünschen Sie?« flüsterte Sachar kaum hörbar und fuhr in der Vorahnung einer pathetischen Rede ein wenig zusammen.
»Gib mir Kwaß!«
Sachar fiel ein Stein vom Herzen; in seiner Freude stürzte er rasch wie ein Knabe zur Kredenz hin und brachte Kwaß.
»Nun, wie fühlst du dich?« fragte Ilja Iljitsch sanft, nachdem er aus dem Glas getrunken hatte und es in der Hand hielt, »gewiß nicht gut?«
Der wilde Ausdruck in Sachars Gesicht milderte sich augenblicklich durch den in seinen Zügen aufflammenden[518] Strahl von Reue. Sachar fühlte die ersten Anzeichen des in seiner Brust erwachten und sein Herz erfüllenden Gefühls der Ehrfurcht dem Herrn gegenüber und begann ihm plötzlich gerade in die Augen zu blicken.
»Fühlst du dein Vergehen?« fragte Ilja Iljitsch wieder.
Was ist das für ein »Vergehen«? dachte Sachar betrübt. Irgend etwas Trauriges; man muß ja gegen seinen Willen weinen, wenn er so zu reden anfängt.
»Ilja Iljitsch«, begann Sachar mit dem tiefsten Ton, über den seine Stimme zu gebieten hatte, »ich habe nur gesagt, daß ...«
»Nein, warte!« unterbrach ihn Oblomow, »verstehst du, was du getan hast? Da, stelle das Glas auf den Tisch und antworte!«
Sachar antwortete nicht und begriff gar nicht, was er verbrochen hatte, doch das hinderte ihn nicht daran, den Herrn ehrfurchtsvoll anzublicken; er senkte sogar ein wenig den Kopf, im Bewußtsein seiner Schuld.
»Wie, willst du denn kein giftiger Mensch sein?« sagte Oblomow.
Sachar schwieg immer und blinzelte nur ein paarmal heftig.
»Du hast deinen Herrn gekränkt!« sprach Ilja Iljitsch langsam und sah Sachar starr an, dessen Verlegenheit genießend. Sachar wußte nicht, wo er vor Bangigkeit hin sollte.
»Du hast mich doch gekränkt?« fragte Ilja Iljitsch.
»Ich habe Sie gekränkt!« flüsterte Sachar, durch dieses neue traurige Wort ganz verwirrt. Er richtete seine Blicke nach rechts, nach links und geradeaus, indem er irgendwo nach Rettung suchte, und an ihm huschte wieder das Spinngewebe, der Staub, sein eigenes Spiegelbild und das Gesicht des Herrn vorüber. Wenn ich in die Erde sinken könnte! Ach, warum nur der Tod nicht kommt! dachte er, als er sah, daß er, was er auch beginnen mochte, der pathetischen Szene nicht ausweichen könne. Und er fühlte, daß er immer häufiger und häufiger blinzelte und daß ihm gleich Tränen entströmen würden.[519] Endlich antwortete er dem Herrn mit den Worten eines bekannten Liedes, das er in Prosa gesetzt hatte:
»Wodurch hab' ich Sie denn gekränkt, Ilja Iljitsch?« fragte er fast weinend.
»Wodurch?« wiederholte Oblomow. »Hast du denn darüber nachgedacht, was das heißt: die ›andern‹?«
Er schwieg und blickte Sachar noch immer an.
»Soll ich dir sagen, was das ist?«
Sachar bewegte sich wie ein Bär in seiner Höhle und seufzte so auf, daß man es im ganzen Zimmer hörte.
»Der ›andere‹, den du meinst, ist ein elender, armer, grober, ungebildeter Mensch, er lebt schmutzig und armselig auf dem Dachboden; oder er schläft auf irgendeinem Lumpen auf dem Hof. Was kann einem solchen Menschen geschehen? Gar nichts. Er frißt Kartoffeln und Hering. Die Not schleudert ihn aus einer Ecke in die andere, und er läuft den ganzen Tag herum. Er wird also auch in eine neue Wohnung ziehen. Zum Beispiel Ljagajew, er nimmt sein Lineal unter den Arm, bindet seine zwei Hemden in ein Taschentuch ein und geht ... ›Wohin gehst du?‹ ›Ich ziehe um‹, antwortet er. So macht es der ›andere‹! Und ich bin deiner Meinung nach auch ein ›anderer‹, he?«
Sachar blickte den Herrn an, trat von einem Fuß auf den andern und schwieg.
»Was ist der ›andere‹?« sprach Oblomow weiter. »Der ›andere‹ ist ein Mensch, der sich selbst die Stiefel putzt, sich selbst ankleidet, wenn er auch wie ein gnädiger Herr aussieht; das ist aber nicht wahr, er weiß nicht einmal, was Dienstboten sind; er hat niemand, den er hinschicken kann, er holt sich selbst, was er braucht; er schürt selbst das Holz im Ofen, staubt manchmal selbst ab ...«
»Es gibt viele solche Deutsche«, sagte Sachar düster.
»Na also! Und ich? Wie, glaubst du, bin ich der ›andere‹?«
»Sie sind ein ganz anderer!« sagte Sachar weinerlich, da er immer noch nicht begriff, was der Herr sagen wollte. »Gott weiß, was Sie haben ...«[520]
»Ich bin ein ganz anderer, ja? Warte, sieh einmal zu, was du sagst! Denke einmal darüber nach, wie der ›andere‹ lebt! Der ›andere‹ arbeitet ohne auszuruhen, läuft herum, müht sich ab«, sprach Oblomow weiter, »wenn er nicht arbeitet, ißt er auch nicht. Der ›andere‹ macht Bücklinge, der ›andere‹ bittet und erniedrigt sich ... Und ich? Nun, sage einmal: Was glaubst du, bin ich der ›andere‹, was?«
»Aber Väterchen, quälen Sie mich nicht so mit traurigen Worten!« flehte Sachar. »Ach du mein Gott!«
»Ich bin der ›andere‹! Renne ich denn herum, arbeite ich denn? Esse ich denn wenig? Sehe ich denn mager und ärmlich aus? Fehlt es mir denn an etwas? Ich glaube, ich habe jemand, der mich bedient und für mich arbeitet! Ich habe mir, Gott sei Dank, seitdem ich lebe, noch kein einziges Mal selbst einen Strumpf angezogen! Warum soll ich mir denn die Mühe machen? Aus welchem Grunde? Und wem muß ich das sagen? Hast du mich denn nicht seit meiner Kindheit bedient? Du weißt das alles, du hast gesehen, daß ich verwöhnt worden bin, daß ich niemals Hunger und Kälte gelitten habe, daß ich keine Not gekannt, mir mein Brot nicht selbst verdient und mich überhaupt nicht mit schwerer Arbeit befaßt habe. Wie konntest du es also wagen, mich mit anderen zu vergleichen? Besitze ich denn eine solche Gesundheit, wie diese ›andern‹? Kann ich denn das alles tun und ertragen?«
Sachar hatte endgültig jede Fähigkeit verloren, Oblomows Rede zu verstehen; aber seine Lippen bliesen sich vor innerer Erregung auf; die pathetische Szene donnerte wie ein Gewitter über seinem Haupt. Er schwieg.
»Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch.
»Was wünschen Sie?« zischte Sachar kaum hörbar.
»Gib noch Kwaß her.«
Sachar brachte Kwaß, und als Ilja Iljitsch, nachdem er getrunken hatte, ihm das Glas zurückgab, wollte er schnell in sein Zimmer gehen.
»Nein, nein, warte!« sagte Oblomow, »ich frage dich:[521] Wie konntest du deinen Herrn so bitter kränken, den du als Kind auf dem Arme getragen hast, dem du dein ganzes Leben dienst und der dein Wohltäter ist?«
Sachar hielt es nicht länger aus. Das Wort Wohltäter gab ihm den Rest! Er begann immer häufiger zu blinzeln. Je weniger er begriff, was Ilja Iljitsch ihm in seiner pathetischen Rede mitteilte, desto trauriger wurde er.
»Verzeihen Sie, Ilja Iljitsch«, begann er reuevoll zu krächzen, »das habe ich aus Dummheit, wirklich nur aus Dummheit ...«
Und da Sachar nicht begriff, was er getan hatte, wußte er nicht, welches Zeitwort er hinzufügen sollte.
»Und ich«, fuhr Oblomow im Ton eines gekränkten und nicht nach seinem Verdienst gewürdigten Menschen fort, »sorge mich noch Tag und Nacht und mühe mich ab, manchmal flammt mir der Kopf und das Herz stockt; ich schlafe in der Nacht nicht, wälze mich herum und denke immer darüber nach, wie ich es am besten einrichten soll ... und über wen grüble ich? Für wen? Nur für euch, für die Bauern; folglich auch für dich. Du glaubst vielleicht, wenn du siehst, daß ich manchmal ganz unter die Decke krieche, daß ich wie ein Klotz daliege und schlafe; nein, ich schlafe nicht, ich denke immer an das eine, wie es einzurichten ist, daß die Bauern an nichts Not leiden, daß sie ihre Nachbarn nicht beneiden, daß sie beim Strafgericht mich vor Gott nicht anklagen, sondern daß sie für mich beten und mir nur Gutes nachsagen. Die Undankbaren!« schloß Oblomow mit bitterem Vorwurf.
Die letzten traurigen Worte rührten Sachar endgültig. Er begann allmählich zu schluchzen.
»Väterchen, Ilja Iljitsch!« flehte er. »Hören Sie auf! Was sagen Sie da, Gott sei mit Ihnen! Ach du heilige Gottesmutter! Was für ein Unglück hat uns denn so unerwartet betroffen ...«
»Und du«, fuhr Oblomow, ohne auf ihn zu hören, fort, »du solltest dich schämen, so etwas auszusprechen! Was für eine Schlange ich an meiner Brust gewärmt habe!«[522]
»Eine Schlange!« rief Sachar aus, schlug die Hände zusammen und zuckte so geräuschvoll mit der Schulter, als wären zwanzig Käfer ins Zimmer hereingeflogen und summten drin. »Wann habe ich denn von einer Schlange gesprochen?« fragte er schluchzend, »ich sehe nicht einmal im Traum so etwas Häßliches!«
Sie hatten beide aufgehört, einander und zum Schluß auch sich selbst zu verstehen.
»Wie hat deine Zunge nur so etwas aussprechen können?« sprach Ilja Iljitsch weiter, »und ich habe noch für ihn auf meinem Plan ein besonderes Haus, einen Gemüsegarten und Pachtkorn bestimmt und ein Gehalt festgesetzt! Du solltest mein Verwalter, mein Majordomus und meine Vertrauensperson sein! Die Bauern sollten sich bis zur Erde vor dir verneigen; alle sollten dich immer nur Sachar Trofimitsch nennen! Und er ist immer noch unzufrieden und hat mich unter die ›andern‹ eingereiht! Das ist der Lohn! Wie du deinen Herrn ehrst!«
Sachar schluchzte noch immer, und auch Ilja Iljitsch selbst war aufgeregt. Indem er Sachar ins Gewissen redete, erfüllte er sich tief mit dem Bewußtsein der Wohltaten, die er den Bauern erwiesen hatte, und sprach die letzten Vorwürfe mit zitternder Stimme und mit Tränen in den Augen zu Ende.
»Nun, und jetzt geh mit Gott!« sagte er mit versöhnender Stimme zu Sachar. »Wart, gib mir noch Kwaß! Meine Kehle ist mir ganz ausgetrocknet, du könntest selbst darauf kommen, du hörst doch, daß dein Herr heiser ist? So weit hast du mich gebracht! Ich hoffe, du hast dein Vergehen begriffen«, sagte Ilja Iljitsch, als Sachar den Kwaß gebracht hatte, »und wirst in Zukunft deinen Herrn nicht mit andern vergleichen. Um deine Schuld gutzumachen, richte es irgendwie mit dem Hausherrn ein, damit ich nicht umzuziehen brauche. So sorgst du für die Ruhe deines Herrn. Du hast mich ganz verstimmt und mich eines jeden neuen, nützlichen Gedankens beraubt. Und wem hast du das geraubt? Dir selbst; ich habe mich ganz euch gewidmet, ich habe[523] mich euretwegen pensionieren lassen und sitze hier eingeschlossen. Nun, Gott verzeih es dir! Jetzt schlägt es drei! Es bleiben nur zwei Stunden bis zum Essen; was kann man in zwei Stunden fertigbringen – gar nichts. Und ich habe eine Menge zu tun. Ich werde also den Brief bis zur nächsten Post verschieben und den Plan morgen entwerfen. Nun, und jetzt lege ich mich ein wenig nieder. Ich bin ganz ermattet; laß die Stores herab und schließe fest die Türen, damit man mich nicht stört; ich werde vielleicht eine Stunde lang schlafen; und wecke mich um halb fünf ...«
Sachar begann seinen Herrn im Arbeitszimmer von der ganzen Welt abzuschließen; zuerst deckte er ihn selbst zu und steckte die Decke unter ihn, dann ließ er die Stores herab, schloß alle Türen fest ab und ging in sein Zimmer.
»Daß dich der Teufel hol'!« brummte er, sich die Tränenspuren abwischend und auf die Ofenbank steigend. »Ein besonderes Haus, ein Gemüsegarten, ein Gehalt!« sagte Sachar, der nur die letzten Worte verstanden hatte. »Er versteht es, traurige Worte zu sagen. Er schneidet damit wie mit einem Messer ins Herz! Hier ist mein Haus und mein Gemüsegarten, hier werde ich auch sterben!« sagte er, wütend auf die Ofenbank schlagend. »Ein Gehalt! Wenn ich die Zehner und Kupfermünzen nicht sammeln würde, könnte ich mir keinen Tabak kaufen und meine Gevatterin nicht bewirten! Zum Kuckuck auch! ... Warum nur der Tod nicht kommt!«
Ilja Iljitsch legte sich auf den Rücken, schlief aber nicht gleich ein. Er dachte und dachte und wurde ganz aufgeregt.
»Ein zweifaches Unglück auf einmal!« sagte er und wickelte sich ganz mit dem Kopf in die Decke ein, »wie soll man dem widerstehen!«
Aber in Wirklichkeit hatte das zweifache Unglück, das heißt der unheilverkündende Brief des Dorfschulzen und die Übersiedlung in die neue Wohnung, Oblomow zu[524] erregen aufgehört und war nur mehr unter die unangenehmen Erinnerungen gereiht worden. Die Unannehmlichkeiten, mit denen der Dorfschulze droht, sind noch in weiter Ferne, dachte er, bis dahin kann sich vieles ändern. Ein Regen könnte das Getreide in besseren Stand setzen; vielleicht ergänzt der Dorfschulze die Zahlungsrückstände, die flüchtigen Bauern werden »wieder in ihren früheren Wohnort eingesetzt werden«, wie er schreibt. Wohin sind diese Bauern geflüchtet? dachte er und vertiefte sich schon vom künstlerischen Standpunkt aus in die Betrachtung dieses Umstandes. Sie sind wohl in der Nacht, ohne Brot, in der Nässe fortgelaufen. Wo haben sie denn geschlafen? Doch nicht im Wald? Da kann man doch gar nicht sitzen! Im Bauernhaus stinkt es zwar, aber es ist wenigstens warm ... Warum rege ich mich denn auf? dachte er. Der Plan ist ja bald fertig – warum mache ich mir denn jetzt schon Angst? Ach, wie ich doch bin ... Der Gedanke an den Umzug beunruhigte ihn etwas mehr. Das war das neuere, spätere Unglück; doch in Oblomows ruhigem Geiste war auch dieses Faktum in das Stadium der Geschichte übergegangen. Obwohl er die Unvermeidlichkeit dieses Umzuges dunkel ahnte, um so mehr, als jetzt Tarantjew sich mit dieser Angelegenheit befaßte, schob er im Geiste dieses aufregende Ereignis seines Lebens doch wenigstens um eine Woche hinaus und hatte auf diese Weise volle acht Tage der Ruhe gewonnen! Und vielleicht würde Sachar alles noch so einzurichten versuchen, daß der Umzug überhaupt unnötig wurde; möglicherweise würde es auch so gehen. Der Umbau könnte auf den nächsten Sommer verschoben oder auch ganz aufgegeben werden. Die Sache würde sich schon irgendwie einrichten lassen! ... Man konnte doch nicht tatsächlich umziehen! ... So regte er sich abwechselnd auf und beschwichtigte sich selbst und fand endlich in diesen versöhnenden und beruhigenden Worten: vielleicht, möglicherweise, irgendwie auch diesmal, was er stets gefunden hatte, ein ganzes Arsenal von Hoffnungen und Tröstungen,[525] wie sie in der Bundeslade unserer Väter eingeschlossen waren; es gelang ihm auch im gegenwärtigen Augenblick, sich damit vor dem zweifachen Unglück zu schützen. Schon umfing eine angenehme, leichte Starrheit seine Glieder und begann seine Gefühle ganz leicht mit Schlaf zu umnebeln, wie die ersten, schüchternen Fröste die Oberfläche der Gewässer trüben; noch ein Augenblick, und sein Bewußtsein wäre Gott weiß wohin fortgeflogen, aber plötzlich erwachte Ilja Iljitsch und öffnete die Augen.
»Ich habe mich ja noch nicht gewaschen! Das geht doch nicht! Ich habe ja auch noch nichts getan«, flüsterte er. »Ich wollte den Plan zu Papier bringen, habe es aber nicht getan, habe weder dem Kreisrichter noch dem Gouverneur geschrieben, habe einen Brief an den Hausherrn angefangen und ihn nicht beendigt, habe die Rechnungen nicht durchgesehen und kein Geld herausgegeben – der ganze Morgen ist verlorengegangen!«
Er sann nach ...
»Was ist denn das? Und der ›andere‹ würde das alles getan haben!« tauchte es in seinem Kopfe auf. »Der andere ... Was ist denn das, der ›andere‹?«
Er vertiefte sich in das Vergleichen seiner selbst mit dem »anderen«. Er dachte und dachte, und jetzt begann er sich über den »anderen« eine Vorstellung zu bilden, die derjenigen, die er Sachar beigebracht hatte, ganz entgegengesetzt war. Er mußte zugeben, daß der andere alle Briefe fertiggebracht hätte, ohne daß welcher und daß aufeinandergestoßen wären; der andere würde auch in die neue Wohnung übergesiedelt sein, hätte den Plan verwirklicht und wäre aufs Gut gefahren.
Auch ich könnte ja alles das tun ... dachte er. Mir scheint, ich sollte auch schreiben; ich habe doch früher kompliziertere Sachen als Briefe geschrieben! Wohin ist denn mein ganzes Wissen verschwunden? Und was ist es denn für eine Kunst umzuziehen? Man braucht nur zu wollen! Der »andere« trägt auch nie einen Schlafrock, ergänzte er noch die Charakteristik des anderen; »der[526] ›andere‹« ... hier gähnte er ... »schläft fast gar nicht ... Der ›andere‹ genießt das Leben, kommt überallhin, sieht alles, ihn interessiert alles ... Und ich! ich ... bin nicht der ›andere‹!« – sagte er traurig und versank in tiefe Nachdenklichkeit. Er zog sogar den Kopf aus der Decke heraus.
Es kam einer der klaren, bewußten Momente in Oblomows Leben. Entsetzen erfaßte ihn, als in seiner Seele plötzlich eine lebendige, klare Vorstellung von dem Schicksal und der Bestimmung der Menschen erstand, als er zwischen dieser Bestimmung und seinem eigenen Leben eine flüchtige Parallele zog und als in seinem Kopfe verschiedene Lebensfragen eine nach der andern erwachten und furchtsam im Durcheinander aufwirbelten wie Vögel, die ein plötzlicher Sonnenstrahl in der schlummernden Ruine erweckt hat. Sein Mangel an geistiger Regsamkeit, das geringe Wachstum seiner sittlichen Kräfte und die Schwere, die ihm in allem hinderlich war, kränkten ihn und stimmten ihn traurig; an ihm fraß der Neid, daß andere so voll und ganz leben, während auf den schmalen, armseligen Pfad seiner Existenz ein schwerer Stein geworfen zu sein schien. In seiner schüchternen Seele erstand das qualvolle Bewußtsein, daß viele Saiten seiner Natur gar nicht geweckt worden waren, daß einige nur sehr leise berührt worden und keine einzige ganz ausgeklungen war. Und dabei fühlte er schmerzlich, daß in ihm wie in einem Grab etwas Schönes, Lichtes eingeschlossen war, das jetzt vielleicht schon tot war oder wie Gold in dem Schoß des Berges eingeschlossen lag und daß es schon längst Zeit war, dieses Gold in Scheidemünzen zu verwandeln. Aber dieser Schatz war schwer und tief mit Unrat und angeschwemmtem Schutt belastet. Jemand schien die ihm vom Leben und von der Welt zugedachten Schätze gestohlen und in seiner eigenen Seele vergraben zu haben. Etwas hinderte ihn daran, sich ins Leben zu stürzen und mit vollen Segeln des Verstandes und des Willens hinzufliegen. Ein heimlicher Feind hatte ihn beim Beginn[527] seines Weges mit seiner schweren Hand belastet und ihn vom geraden Pfad der menschlichen Bestimmung weit fortgeschleudert ... Und ihm schien, er könnte aus dem Dickicht und der Wildnis niemals herausfinden. Der Wald um ihn herum und in seiner Seele wird immer dichter und dunkler; der Pfad verwildert immer mehr und mehr; das klare Bewußtsein erwacht immer seltener und weckt die schlummernden Kräfte nur für Augenblicke auf. Der Verstand und der Wille sind längst paralysiert und, wie es scheint, für immer. Die Ereignisse seines Lebens haben einen mikroskopischen Umfang angenommen, er wird aber auch damit nicht fertig; er geht nicht von einem Ereignis zum andern über, sondern wird von ihnen wie von einer Welle auf die andere geschleudert; er hat nicht die Macht, dem einen seine Willenskraft entgegenzustemmen oder sich von einem zweiten vernünftig hinreißen zu lassen. Diese heimliche Selbstbeichte erweckte in ihm ein bitteres Gefühl. Fruchtloses Bedauern der Vergangenheit, brennende Gewissensbisse verwundeten ihn wie Nadeln, und er bot alle seine Kräfte auf, um die Last dieser Vorwürfe von sich abzuschütteln, außerhalb seiner Person einen Schuldigen zu finden und auf ihn seinen Stachel zu richten. Aber auf wen? ... »Das alles ist ... Sachars Schuld!« flüsterte er. Er erinnerte sich an die Details der Szene mit Sachar, und sein Gesicht erglühte vor Scham. Wenn das jemand gehört hätte! ... dachte er, bei diesem Gedanken erstarrend. Gott sei Dank, daß Sachar es niemand wiedergeben kann; man würde es ihm auch nicht glauben; Gott sei Dank!
Er seufzte, verfluchte sich, wälzte sich von einer Seite auf die andere, suchte nach dem Schuldigen und fand ihn nicht. Sein Ächzen und Seufzen drang sogar Sachar zu Ohren.
»Wie der Kwaß ihn aufbläst!« brummte Sachar zornig.
»Warum bin ich denn so?« fragte Oblomow fast weinend und steckte den Kopf wieder unter die Decke. »Warum?« Nachdem er erfolglos nach einem Feind gesucht[528] hatte, der ihn daran hinderte, wie es sich gehörte, wie die »andern« zu leben, seufzte er, schloß die Augen, und nach ein paar Minuten begann wieder der Schlummer seine Empfindungen allmählich zu fesseln. »Ich möchte ... auch ...« sagte er, mit Anstrengung blinzelnd, »irgend etwas tun ... Hat die Natur mich denn so stiefmütterlich behandelt ... Aber nein, ich kann mich, Gott sei Dank, nicht beklagen ...« Dann folgte ein versöhnender Seufzer. Er kehrte von der Erregung zu seinem normalen Zustand, zu dem der Ruhe und Apathie zurück. »Das ist mein Schicksal ... Was soll ich denn tun? ...« flüsterte er mit Mühe, vom Schlaf überwältigt. »Um zweitausend weniger ...« sagte er plötzlich laut im Schlaf. »Gleich, gleich, warte ...« und wachte halb auf. »Es wäre aber ... interessant zu erfahren ... warum ich ... so bin ...?« flüsterte er wieder. Seine Lider schlossen sich ganz. »Ja, warum? ... Wahrscheinlich ... darum ...« bestrebte er sich zu sagen, doch es gelang ihm nicht.
Er kam also nicht auf die Ursache. Die Zunge und die Lippen erstarrten augenblicklich auf dem halben Satz und blieben halb geöffnet. Anstatt eines Wortes ertönte wieder ein Seufzer, und dann hörte man das gleichmäßige Schnarchen eines ruhig schlafenden Menschen.
Der Schlaf hielt den langsamen, trägen Gang seiner Gedanken auf und versetzte ihn in einem einzigen Augenblick in eine andere Epoche, zu andern Menschen, an einen andern Ort, wohin der Leser und wir ihm im nächsten Kapitel folgen werden.
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