|
[405] In der Gorochowajastraße, in einem der großen Häuser, dessen Bevölkerung für eine ganze Kreisstadt ausgereicht hätte, lag des Morgens Ilja Iljitsch Oblomow in seiner Wohnung auf dem Sofa. Er war ein etwa zweiunddreißigjähriger Mann von mittlerem Wuchs und angenehmem Äußern, mit dunkelgrauen Augen, die über Wand und Zimmerdecke sorglos streiften und jenes unbestimmte Sinnen ausdrückten, welches darauf hinwies, daß ihn nichts beschäftigte und nichts beunruhigte. Die Sorglosigkeit ging vom Gesicht auf die Stellung des ganzen Körpers und selbst auf die Schlafrockfalten über. Manchmal trübte sich sein Blick durch einen Anflug von Müdigkeit oder Langeweile. Aber weder die Müdigkeit noch die Langeweile konnte von seinem Gesicht auch nur für einen Augenblick die Weichheit vertreiben, die der herrschende und grundlegende Ausdruck nicht nur seines Gesichtes, sondern seiner ganzen Seele war. Diese Seele leuchtete hell aus den Augen, dem Lächeln und einer jeden Kopf- und Handbewegung. Ein flüchtig beobachtender, teilnahmsloser Mensch würde Oblomow nur im Vorübergehen anblicken und sagen: »Das ist gewiß ein guter, einfacher Kerl!« Ein tieferer und teilnehmenderer Mensch würde sein Gesicht lange betrachten und dann lächelnd, in angenehmes Sinnen vertieft, weitergehen.
Ilja Iljitschs Gesichtsfarbe war weder rot noch dunkel, noch ausgesprochen blaß, sondern unbestimmt, und sie erschien vielleicht deswegen so, weil Oblomow, gar nicht im Verhältnis zu seinem Alter, aufgedunsen war: sei es aus[405] Mangel an Bewegung oder an Luft oder vielleicht an beidem. Überhaupt erschien sein Körper, nach der matten, zu weißen Färbung des Halses, den kleinen weichen Händen und den schlaffen Schultern zu urteilen, für einen Mann zu sehr verzärtelt. Seine Bewegungen wurden, selbst wenn er erregt war, durch eine gewisse Sanftheit und eine der Grazie nicht entbehrende Trägheit gedämpft. Wenn ihm eine Sorgenwolke aus der Seele aufs Antlitz glitt, umzog sich sein Blick, auf der Stirn erschienen Falten, und es begann ein Spiel des Zweifels, der Trauer, des Schreckens; doch diese Unruhe erstarrte selten in der Form einer bestimmten Idee und verwandelte sich noch seltener in ein Vorhaben. Die ganze Erregung löste sich in einen Seufzer auf und erstarb in Teilnahmslosigkeit und Hindämmern.
Wie gut paßte Oblomows Hausanzug zu seinen ruhigen Gesichtszügen und seinem verzärtelten Körper! Er trug einen Schlafrock aus persischem Stoff, einen echten morgenländischen Schlafrock – ohne die geringste Anlehnung an Europa, ohne Quasten, ohne Samt, ohne Taille –, der so weit war, daß Oblomow sich zweimal hineinwickeln konnte. Nach der unveränderlichen asiatischen Mode erweiterten sich die Ärmel von den Fingern zur Schulter immer mehr und mehr. Obwohl dieser Schlafrock seine ursprüngliche Frische eingebüßt hatte und seinen früheren, natürlichen Glanz stellenweise durch einen erworbenen ersetzt hatte, waren ihm doch noch die Lebhaftigkeit der morgenländischen Farbe und die Dauerhaftigkeit des Gewebes geblieben.
Der Schlafrock hatte in Oblomows Augen eine Menge unschätzbarer Eigenschaften: Er war weich und schmiegsam; man fühlte ihn kaum auf sich; er paßte sich, gleich einem gehorsamen Sklaven, den geringsten Bewegungen des Körpers an.
Oblomow ging zu Hause immer ohne Krawatte und ohne Weste herum; denn er liebte die Bequemlichkeit und Freiheit. Er trug lange, weiche und breite Pantoffeln; wenn er seine Füße vom Bett auf den Fußboden herabgleiten[406] ließ, schlüpfte er ohne hinzublicken mit unfehlbarer Sicherheit in beide Pantoffeln auf einmal.
Das Liegen war für Ilja Iljitsch weder eine Notwendigkeit, wie für einen Kranken oder einen Schläfrigen, noch eine Zufälligkeit, wie für einen Ermüdeten, noch ein Vergnügen, wie für einen Faulen: es war sein normaler Zustand. Wenn er zu Hause war – und er war fast immer zu Hause –, lag er stets in dem Raum, in welchem wir ihn angetroffen haben und der ihm als Schlaf-, Arbeits- und Empfangszimmer diente. Er besaß noch drei Zimmer; doch er blickte selten hinein, höchstens des Morgens – aber auch nicht jeden Tag –, wenn sein Diener das Arbeitszimmer fegte, was nicht täglich geschah. In jenen Zimmern steckten die Möbel in Überzügen, und die Storen waren herabgelassen. Das Zimmer, in welchem Ilja Iljitsch lag, erschien auf den ersten Blick sehr schön eingerichtet. Es standen darin zwei mit Seide überzogene Sofas, ein Sekretär aus Mahagoniholz und ein schöner Wandschirm mit gestickten, in der Natur nirgends vorkommenden Vögeln und Früchten. Auch gab es darin seidene Vorhänge, Teppiche, ein paar Bilder, Bronzen, Porzellan und eine Menge hübscher Kleinigkeiten. Doch hätte das erfahrene Auge eines Menschen von Geschmack auf den ersten flüchtigen Blick aus alledem nur den Wunsch herausgelesen, den unvermeidlichen Anstand, so gut es eben ging, zu wahren. Oblomow war bei der Einrichtung seines Arbeitszimmers sicherlich nur von dieser Absicht geleitet worden. Ein verfeinerter Geschmack hätte sich nicht mit solchen schweren, ungraziösen Mahagonisesseln und wackligen Etageren begnügt. Die Lehne des einen Sofas hatte sich gesenkt, und das aufgeklebte Holz stand stellenweise davon ab.
Die Bilder, Vasen und Kleinigkeiten trugen denselben Charakter.
Doch der Eigentümer selbst betrachtete die Einrichtung seines Arbeitszimmers so kalt und zerstreut, als fragte er mit den Augen: »Wer hat das alles hergeschleppt und hineingestellt?« Auf dieses kühle Verhalten Oblomows[407] seinem Eigentum gegenüber und vielleicht auch auf das noch kühlere Verhalten seines Dieners Sachar demselben Gegenstand gegenüber war es zurückzuführen, daß der Zustand des Arbeitszimmers bei genauerer Untersuchung durch die darin herrschende Nachlässigkeit und Verwahrlosung verblüffte. Auf den Wänden, bei den Bildern hing staubiges Spinngewebe in Form von Gewinden; statt die Gegenstände wiederzugeben, mochten die Spiegel eher als Tafeln dienen, auf deren Staub man irgendwelche Notizen aufzeichnen konnte. Die Teppiche waren fleckig. Auf dem Sofa lag ein vergessenes Handtuch; es kam selten vor, daß auf dem Tisch nicht ein Teller mit einem Salzfasse und einem abgenagten Knochen von dem letzten Abendbrot zurückgeblieben war und keine Brotkrumen herumlagen. Wäre dieser Teller und die am Bett lehnende, soeben zu Ende gerauchte Pfeife oder deren im Bett liegender Eigentümer nicht gewesen, so konnte man glauben, es wohne hier niemand – so verstaubt, verblichen und überhaupt so ohne jede lebendige Spur einer menschlichen Anwesenheit war alles. Auf den Etageren lagen zwar zwei, drei aufgeschlagene Bücher, hier trieb sich eine Zeitung herum, und dort auf dem Sekretär stand auch ein Tintenfaß mit Federn; aber die geöffneten Seiten der Bücher waren staubig und vergilbt; man sah, daß sie schon lange fortgeworfen waren; die Zeitung wies ein vorjähriges Datum auf, und wenn man die Feder ins Tintenfaß gesteckt hätte, so wären höchstens erschrockene, summende Fliegen herausgeschwirrt.
Ilja Iljitsch wachte gegen seine Gewohnheit sehr früh, um acht Uhr, auf. Er war durch irgend etwas sehr in Anspruch genommen. Auf seinem Gesicht drückten sich abwechselnd bald Angst, bald Traurigkeit, bald Ärger aus. Man sah, daß in seinem Innern sich ein Kampf abspielte und daß der Verstand ihm noch nicht zu Hilfe gekommen war.
Oblomow hatte nämlich am vorhergehenden Tage einen unangenehmen Brief von seinem Dorfschulzen erhalten. Man kann sich denken, von was für Unannehmlichkeiten[408] ein Dorfschulze schreiben kann: von Mißernte, Zahlungsrückständen, Verringerungen der Einnahmen usw. Obwohl der Dorfschulze im vorigen und vorvorigen Jahre seinem Herrn genau ebensolche Briefe geschrieben hatte, wirkte dieser letzte Brief ebenso stark wie jede unangenehme Überraschung.
War es denn auch etwas Leichtes? Galt es doch, über die Wege zur Anwendung irgendwelcher Maßregeln nachzudenken. Übrigens muß man der Aufmerksamkeit, die Ilja Iljitsch seinen Geschäften entgegenbrachte, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hatte unmittelbar nach dem ersten unangenehmen Brief seines Dorfschulzen vor ein paar Jahren damit begonnen, im Geiste den Plan verschiedener Änderungen und Verbesserungen in der Verwaltung seines Gutes auszuarbeiten. In diesem Plane wurden verschiedene neue ökonomische, polizeiliche und noch andere Maßregeln in Aussicht gestellt. Doch der Plan war noch lange nicht ganz ausgearbeitet, und die unangenehmen Briefe des Dorfschulzen wiederholten sich alljährlich, trieben ihn zur Tätigkeit an und störten folglich seine Ruhe. Oblomow erkannte die Notwendigkeit, etwas Entscheidendes zu beginnen.
Er hatte sich gleich beim Erwachen vorgenommen, aufzustehen, sich zu waschen und, nachdem er Tee getrunken haben würde, gründlich nachzudenken, manches in Erwägung zu ziehen, zu notieren, sich überhaupt der Sache ganz zu widmen. Er lag eine halbe Stunde lang da und quälte sich mit diesem Vorsatze ab; doch dann überlegte er sich, daß er dies alles auch nach dem Frühstück tun konnte und daß er den Tee, wie immer, liegend trinken könnte, um so mehr, als diese Stellung zum Nachdenken nicht minder geeignet war. So tat er denn auch. Nach dem Tee aber richtete er sich auf seinem Lager auf und wäre beinahe aufgestanden; ja, er hatte sogar begonnen, auf die Pantoffeln blickend, den einen Fuß vom Bette zu ihnen hinabgleiten zu lassen; doch gleich darauf zog er ihn wieder zurück.
Es schlug halb zehn, Ilja Iljitsch raffte sich auf.[409]
»Was soll denn das, wahrhaftig!« sagte er laut und ärgerlich. »Man muß doch ein Gewissen haben; es ist Zeit, mit der Arbeit zu beginnen! Wenn man sich gehen läßt, so ...«
»Sachar!« rief er.
In dem Zimmer, das nur durch einen kleinen Korridor von Ilja Iljitschs Arbeitszimmer getrennt war, hörte man zuerst etwas wie das Brummen eines Kettenhundes und dann das Geräusch von irgendwo herabspringender Füße. Das war Sachar, der von der Ofenbank herabsprang, auf welcher er gewöhnlich seine Zeit, vor sich hindösend, verbrachte.
Ins Zimmer trat ein älterer Mann in einem grauen Rock, mit einem Loch unter dem Arm und einem daraus hervorschauenden Hemdzipfel, in einer grauen Weste mit Messingknöpfen, mit einem Schädel, nackt wie ein Knie, und einem breiten, dichten, dunkelblond und grau melierten Backenbart, dessen jede Hälfte für drei Bärte ausgereicht haben würde.
Sachar machte keine Versuche, das ihm von Gott verliehene Äußere, auch die von ihm im Dorf getragene Kleidung zu ändern. Seine Anzüge wurden ihm nach dem Modell, das er sich aus dem Dorfe mitgebracht hatte, genäht. Der graue Rock und die Weste gefielen ihm auch darum, weil er in dieser halbmilitärischen Kleidung eine schwache Erinnerung an die Livree sah, die er einst trug, als er die verstorbenen Herrschaften in die Kirche oder bei Visiten begleitete; die Livree aber war in seiner Erinnerung das einzige Symbol der Würde des Hauses Oblomow. Nichts sonst erinnerte den Alten mehr an das wohlige, ruhige, herrschaftliche Leben im entlegenen Dorfe. Die alten Herrschaften waren gestorben, die Familienporträts waren zu Hause geblieben und lagen wohl irgendwo auf dem Dachboden herum; die Überlieferung von der alten Lebensweise und der Vornehmheit der Familie verschwand mit der Zeit oder lebte nur in der Erinnerung weniger im Dorfe zurückgebliebener Greise. Darum war der graue Rock Sachar so teuer; darin, wie auch in einigen im Gesichte und in den Manieren des Herrn erhaltenen[410] Merkmalen, die an seine Eltern erinnerten, und in seinen Launen, über die er zwar im Geiste und laut brummte, die er aber in seinem Innern als die Äußerung des herrschaftlichen Willens und Rechtes achtete, sah er schwache Überreste der dahingeschwundenen Majestät. Ohne diese Launen fühlte er keinen Herrn über sich; ohne sie machte nichts seine Jugend, das Dorf, das sie längst verlassen hatten, und die Erzählungen über diese alte Familie auferstehen. Das Haus Oblomow war einst reich und in seiner Heimat berühmt gewesen; doch dann verarmte es, Gott weiß weshalb, verkümmerte und verlor sich endlich unmerklich unter den jüngeren Adelsgeschlechtern. Nur die ergrauten Diener des Hauses verwahrten und übergaben einander das treue Angedenken an die Vergangenheit, das sie wie ein Heiligtum hochhielten. – Darum liebte Sachar so seinen grauen Rock. Vielleicht war ihm auch sein Backenbart darum so teuer, weil er in seiner Kindheit viele alte Diener mit dieser altertümlichen, aristokratischen Barttracht gesehen hatte.
In seine Gedanken versunken, bemerkte Ilja Iljitsch Sachar lange Zeit nicht. Sachar stand schweigend vor ihm. Endlich räusperte er sich.
»Was hast du?« fragte Ilja Iljitsch.
»Sie haben mich doch gerufen!«
»Ich habe dich gerufen? Warum habe ich dich denn gerufen – ich weiß es nicht mehr!« antwortete er und streckte sich. – »Geh vorläufig in dein Zimmer, ich werde mich schon erinnern.«
Sachar ging, und Ilja Iljitsch blieb liegen und dachte wieder über den verfluchten Brief nach.
Es verging eine Viertelstunde.
»Nun ist genug gelegen«, sagte er; »es muß aufgestanden werden ... Ich werde also den Brief des Dorfschulzen noch einmal aufmerksam durchlesen und dann aufstehen. Sachar!«
Wieder derselbe Sprung und ein heftigeres Brummen. Sachar kam herein, und Oblomow versenkte sich wieder in seine Gedanken. Sachar blieb etwa zwei Minuten stehen,[411] indem er den Herrn ungnädig ein wenig von der Seite anblickte, und trat endlich zur Türe.
»Wohin denn?« fragte plötzlich Oblomow.
»Sie sagen mir nichts, warum soll ich denn unnütz dastehen?« krächzte Sachar in Ermangelung einer anderen Stimme, die er, wie er sagte, als er mit dem alten Herrn auf die Jagd fuhr und ihm ein heftiger Wind in den Hals blies, verloren hatte. Er stand halb abgewendet in der Mitte des Zimmers und blickte Oblomow immer noch von der Seite an.
»Fallen dir denn deine Füße ab, wenn du stehenbleibst? Du siehst, ich habe Sorgen – warte also! Hast du etwa zu wenig gelegen? Suche den Brief, den ich gestern vom Dorfschulzen bekommen habe. Wo hast du ihn hingetan?«
»Was für einen Brief? Ich habe keinen Brief gesehen«, sagte Sachar.
»Du hast ihn ja selbst dem Briefträger abgenommen, es war ein ganz schmutziger Brief.«
»Woher soll ich wissen, wo Sie ihn hingelegt haben?« sprach Sachar, über die Papiere und die verschiedenen auf dem Tische liegenden Sachen mit der Hand fahrend.
»Du weißt nie etwas. Schau dort im Korb nach! Oder ist er vielleicht hinter das Sofa gefallen? Die Lehne da am Sofa ist noch immer nicht repariert; warum holst du nicht den Tischler und läßt es machen? Du hast sie zerbrochen.«
»Ich hab' sie nicht zerbrochen«, antwortete Sachar; »sie ist von selbst zerbrochen; sie kann nicht ewig halten, sie muß auch einmal zerbrechen.«
Ilja Iljitsch hielt es nicht für notwendig, das Gegenteil zu beweisen.
»Hast du ihn schon gefunden?« fragte er nur.
»Hier sind Briefe.«
»Das sind andere.«
»Dann gibt's keine mehr«, antwortete Sachar.
»Also gut, geh!« sagte Ilja Iljitsch ungeduldig; »ich werde aufstehen und ihn selbst suchen.«
Sachar ging in sein Zimmer; doch in dem Augenblick, da er sich mit den Händen gegen die Ofenbank stemmte,[412] um hinaufzuspringen, hörte er wieder die eiligen Rufe: »Sachar! Sachar!«
»Ach du mein Gott!« brummte Sachar, sich wieder ins Arbeitszimmer begebend; »was das für eine Qual ist! Wenn doch mein Tod bald käme!«
»Was wollen Sie?« sagte er, sich mit der einen Hand an der Zimmertür haltend, und blickte Oblomow zum Zeichen seiner Ungnade so sehr von der Seite an, daß er ihn nur mit dem halben Auge zu sehen bekam, während sein Herr schon die eine ungeheure Backenbarthälfte sah, welche erwarten ließ, es würden zwei, drei Vögel aus ihr herausfliegen.
»Das Taschentuch, geschwind! Das könntest du auch selbst wissen; hast du denn keine Augen!« bemerkte Ilja Iljitsch streng.
Sachar äußerte keine besondere Unzufriedenheit oder Verwunderung bei diesem Befehl und Vorwurf des Herrn, da er wohl von seinem Standpunkte aus beides sehr natürlich fand.
»Wer weiß, wo das Taschentuch ist!« brummte er, indem er eine Runde durch das Zimmer machte und jeden Stuhl betastete, obgleich man auch so sehen konnte, daß auf den Stühlen nichts lag.
»Sie verlieren alles!« bemerkte er, die Tür in den Salon öffnend, um nachzusehen, ob das Gesuchte sich nicht dort befand.
»Wohin? Suche hier; ich war seit vorgestern nicht drin. So beeile dich doch!« sagte Ilja Iljitsch.
»Wo ist das Taschentuch?« »Das Taschentuch ist nicht da!« erwiderte Sachar achselzuckend und in alle Winkel blickend. »Da ist es ja«, krächzte er plötzlich zornig; »unter Ihnen! Da schaut ein Zipfel heraus. Sie liegen selbst auf dem Taschentuch und fragen danach!«
Und Sachar wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, der Tür zu. Oblomow war ein wenig verlegen geworden. Er fand schnell einen neuen Vorwand, Sachar im Unrecht erscheinen zu lassen.
»Wie rein du hier alles hältst! Mein Gott, wie schmutzig[413] und staubig es ist! Da, da, schau mal in die Ecken hinein – du tust gar nichts!«
»Ich tu' nichts ...« begann Sachar mit gekränkter Stimme, »ich gebe mir so viel Mühe, mir ist es um mein Leben nicht zu schade, ich staube ab und fege fast jeden Tag ...«
Er zeigte auf die Mitte des Fußbodens und auf den Tisch hin, an dem Oblomow zu Mittag aß.
»Da, da«, sagte er. »Alles ist ausgefegt und zusammengeräumt, wie zu einer Hochzeit ... Was wollen Sie noch?«
»Und was ist das?« unterbrach ihn Ilja Iljitsch, auf die Wände und an den Plafond zeigend, »und das? und das?«
Er wies auf das seit gestern herumliegende Handtuch und auf den auf dem Tisch vergessenen Teller, worauf eine Brotschnitte lag.
»Nun gut, das werde ich abräumen«, sagte Sachar herablassend und nahm den Teller.
»Nur das! Und der Staub an den Wänden und das Spinngewebe?« fragte Oblomow.
»Das räume ich zu Ostern zusammen; dann putze ich die Heiligenbilder und nehme das Spinngewebe herab ...«
»Und wann staubst du die Bücher und die anderen Bilder ab? ...«
»Das mache ich vor Weihnachten: dann schaue ich mit Anissja alle Schränke durch. Wann soll ich denn jetzt zusammenräumen? Sie sitzen doch immer zu Hause.«
»Ich gehe manchmal ins Theater und auf Besuch; dann ...«
»Wie kann man denn bei Nacht zusammenräumen!«
Oblomow blickte ihn vorwurfsvoll an, schüttelte den Kopf und seufzte, während Sachar gleichgültig durch das Fenster blickte und gleichfalls seufzte. Der Herr schien zu denken: Bruder, in dir steckt ja noch mehr von einem Oblomow als in mir selbst, und Sachar dachte fast: du lügst! Du kannst hochtrabende und rührende Worte sagen; aber der Staub und das Spinngewebe kümmern dich im Grunde gar nicht.
»Verstehst du«, sagte Ilja Iljitsch, »daß durch den Staub[414] Motten entstehen? Ich sehe manchmal sogar eine Wanze an der Wand!«
»Ich habe auch Flöhe!« erwiderte Sachar gleichgültig.
»Ist denn das schön? Das ist ja Schmutz!«
Sachar schmunzelte über das ganze Gesicht, so daß das Grinsen selbst die Brauen und den Backenbart erfaßte, der sich seitwärts auseinanderschob, und ein roter Fleck sich über das ganze Gesicht vom Hals bis auf die Stirn hinauf ausdehnte.
»Ist es denn meine Schuld, daß es auf der Welt Wanzen gibt?« sagte er mit naivem Erstaunen; »hab' denn ich sie ausgedacht?«
»Das kommt durch die Unreinlichkeit«, unterbrach ihn Oblomow. »Was denkst du dir nur immer aus?«
»Ich habe auch die Unreinlichkeit nicht ausgedacht.«
»Bei dir laufen in der Nacht Mäuse herum, ich höre es.«
»Ich habe auch die Mäuse nicht ausgedacht. Solche Geschöpfe, wie Mäuse, Katzen und Wanzen, gibt es überall viel.«
»Warum gibt es denn bei anderen Leuten weder Motten noch Wanzen?«
Sachars Gesicht drückte Ungläubigkeit oder besser gesagt ruhige Zuversicht aus, daß so etwas nicht vorkommen könne.
»Bei mir gibt's immer viel davon«, sagte er eigensinnig, »man kann nicht auf jede Wanze aufpassen, man kann ihr in ihre Ritze nicht nachkriechen.«
Und dabei dachte er wohl im stillen: Was wäre das auch für ein Schlafen ohne Wanzen?
»Fege aus, nimm den Mist aus den Winkeln heraus, dann wird nichts da sein«, belehrte ihn Oblomow.
»Man räumt auf, und morgen ist alles wieder voll«, sagte Sachar.
»Es wird nicht voll sein«, unterbrach ihn der Herr, »das darf nicht sein.«
»Es wird voll sein, ich weiß es«, gab der Diener nicht nach.
»Und wenn es so ist, dann fege wieder aus!«[415]
»Was? Ich soll jeden Tag in alle Winkel hineinschauen?« fragte Sachar, »was ist denn das für ein Leben? Dann soll Gott lieber meine Seele holen!«
»Warum ist denn bei anderen Leuten rein?« entgegnete Oblomow. »Schau mal zum Klavierstimmer vis-à-vis hinüber: Es ist eine Freude, das zu sehen, und sie haben nur ein einziges Mädchen ...«
»Und wo sollen diese Deutschen auch Mist hernehmen?« erwiderte plötzlich Sachar. »Schauen Sie sich einmal an, wie sie leben! Die ganze Familie nagt die ganze Woche an einem einzigen Knochen. Der Rock geht von der Schulter des Vaters auf den Sohn über und vom Sohn wieder auf den Vater. Die Frau und die Töchter tragen kurze Kleider und verstecken immer ihre Füße wie die Gänse ... Wo sollen sie den Mist hernehmen? Bei ihnen gibt's das nicht, daß ganze Haufen von abgetragenen alten Kleidern jahrelang in den Schränken liegen oder sich im Winter eine ganze Ecke von Brotrinden ansammelt wie bei uns. Sie lassen nicht einmal eine Rinde unnütz herumliegen; sie machen sich daraus Zwieback und essen das zum Bier!«
Sachar spuckte sogar aus, während er von einer so knauserigen Lebensweise sprach.
»Du brauchst mir gar nichts zu erzählen!« antwortete Ilja Iljitsch, »räume lieber auf.«
»Ich würde ja manchmal aufräumen; aber Sie lassen es ja selbst nicht dazu kommen«, sagte Sachar.
»Jetzt fängst du wieder damit an! Ich bin immer im Wege!«
»Natürlich ist's so; Sie sitzen immer zu Hause; wie soll man da aufräumen? Gehen Sie den ganzen Tag fort, dann räume ich auf.«
»Was du dir da ausgedacht hast, ich soll fortgehen! Geh du lieber in dein Zimmer!«
»Nein, wirklich!«, Sachar gab nicht nach, »gehen Sie doch heute fort, dann würde ich mit Aniska alles aufräumen. Wir würden aber auch zu zweit nicht fertig werden; man müßte noch Frauen dazunehmen und alles aufwaschen.«[416]
»Aber, was das für Einfälle sind! Frauen dazunehmen! Geh in dein Zimmer!« sagte Ilja Iljitsch.
Er bereute schon, mit Sachar dieses Gespräch angefangen zu haben. Er vergaß immer, daß man bei der geringsten Berührung dieses zarten Gegenstandes in endlose Scherereien hineingeriet. Oblomow war ja für die Reinlichkeit; doch er wünschte, daß es unmerklich, von selbst geschehen solle; Sachar fing aber immer eine lange Diskussion an, sobald man von ihm verlangte, er solle den Staub ausfegen und die Fußböden waschen und so weiter. Er bewies in solchen Fällen die Notwendigkeit eines großen Rummels im Hause, da er sehr gut wußte, daß der bloße Gedanke daran seinem Herrn Entsetzen verursachte.
Sachar ging, und Oblomow versenkte sich in seine Gedanken. Nach ein paar Minuten schlug es wieder halb.
»Was ist das?« sagte Ilja Iljitsch erschrocken, »es ist gleich elf Uhr, und ich bin noch nicht aufgestanden und habe mich noch immer nicht gewaschen? Sachar, Sachar!«
»Ach du mein Gott! Was denn!« tönte es im Vorzimmer, und dann folgte der bekannte Sprung.
»Ist alles zum Waschen bereit?« fragte Oblomow.
»Schon längst!« antwortete Sachar. »Warum stehen Sie nicht auf?«
»Warum sagst du denn nicht, daß alles vorbereitet ist? Ich wäre schon längst aufgestanden. Geh, ich komme gleich nach. Ich habe zu tun, ich muß schreiben.«
Sachar ging hinaus, kam aber nach einer Weile mit einem ganz beschriebenen und fettigen Heft und mit ebensolchen Papierfetzen zurück.
»Da, wenn Sie schreiben werden, haben Sie die Güte, bei der Gelegenheit auch die Rechnungen durchzusehen; sie müssen bezahlt werden.«
»Was für Rechnungen? Was muß bezahlt werden?« fragte Ilja Iljitsch unzufrieden.
»Vom Fleischer, vom Gemüsehändler, von der Wäscherin, vom Bäcker; alle bitten um Geld.«
»Man hat immer Geldsorgen!« brummte Ilja Iljitsch.[417]
»Warum gibst du mir denn die Rechnungen nicht allmählich, sondern alle auf einmal?«
»Sie haben mich ja immer damit fortgejagt: Ich sollte nur morgen kommen ...«
»Nun, und kann man es denn nicht auch jetzt auf morgen verschieben?«
»Nein! Sie bestehen darauf und geben nichts mehr auf Borg. Heute ist der Erste.«
»Ach!« sagte Oblomow niedergeschlagen, »neue Sorgen! Nun, was stehst du da? Leg's auf den Tisch. Ich werde gleich aufstehen, mich waschen und sie durchsehen. Es ist also alles zum Waschen vorbereitet?«
»Ja!«
»Nun, und jetzt ...«
Er begann sich ächzend auf dem Bette aufzurichten, um aufzustehen.
»Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen«, begann Sachar, »vorhin, als Sie noch geschlafen haben, hat der Verwalter den Hausbesorger geschickt. Er sagt, daß wir durchaus ausziehen müssen ... Die Wohnung ist vergeben.«
»Nun also! Wenn sie vergeben ist, werden wir natürlich ausziehen. Warum läßt du mir keine Ruhe? Du sprichst nun schon das dritte Mal davon.«
»Man läßt auch mir keine Ruhe.«
»Sag, daß wir die Wohnung räumen werden.«
»Sie sagen, Sie haben es schon vor einem Monat versprochen, räumen aber noch immer nicht die Wohnung; sie sagen: ›Wir werden es der Polizei anzeigen.‹«
»Sollen sie's anzeigen!« sagte Oblomow entschlossen; »wir räumen die Wohnung von selbst, wenn es wärmer wird, so in drei Wochen.«
»Wieso in drei Wochen! Der Verwalter sagt, daß in zwei Wochen die Arbeiter kommen und alles niederreißen ... Er sagt: ›Ziehen Sie morgen aus oder übermorgen ...‹«
»Aber das ist zu schnell, morgen! Was ihnen alles einfällt; vielleicht werden sie es sofort befehlen! Untersteh dich nicht, mich an die Wohnung zu erinnern. Ich hab' es[418] dir schon einmal verboten, und du fängst wieder an. Nimm dich in acht.«
»Was soll ich denn tun?« erwiderte Sachar.
»Was du tun sollst? Solche Ausreden gebrauchst du!« antwortete Ilja Iljitsch. »Das fragst du mich! Was geht das mich an? Komm mir nicht damit, sondern richte alles, wie du willst, so ein, daß wir nur nicht auszuziehen brauchen. Kannst du das denn nicht für deinen Herrn tun!«
»Wie soll ich's denn einrichten, Väterchen, Ilja Iljitsch?« begann Sachar mit sanfterem Krächzen, »das Haus gehört ja nicht mir, wie sollte man denn nicht aus einem fremden Hause ausziehen, wenn man fortgejagt wird? Wenn es mein Haus wäre, würde ich mit dem größten Vergnügen ...«
»Kann man sie denn nicht irgendwie überreden? Du weist darauf hin, daß wir schon lange hier wohnen und pünktlich zahlen.«
»Das habe ich schon probiert«, sagte Sachar.
»Was haben sie denn geantwortet?«
»Was sie geantwortet haben? Sie wiederholen immer das eine: ›Ziehen Sie aus!‹ sagen sie, ›wir müssen die Wohnung ändern‹, sie wollen aus der Doktorwohnung und aus dieser da zur Hochzeit des Hausherrnsohnes eine einzige große Wohnung machen.«
»Ach du mein Gott!« sagte Oblomow ärgerlich, »es gibt solche Esel, welche heiraten!«
Er drehte sich auf den Rücken um.
»Sie sollten an den Hausherrn schreiben, gnädiger Herr«, sagte Sachar, »dann würde er Sie vielleicht in Ruhe lassen und würde zuerst jene Wohnung niederreißen lassen.«
Sachar zeigte dabei mit der Hand irgendwohin nach rechts.
»Nun gut, wenn ich aufgestanden bin, werde ich schreiben ... Geh in dein Zimmer, ich werde darüber nachdenken. Du kannst nichts übernehmen«, fügte er hinzu. »Ich muß mich auch um dieses ekelhafte Zeug selbst kümmern!«
Sachar ging, und Oblomow begann nachzudenken.[419]
Doch er war in Verlegenheit, worüber er nachdenken sollte: über den Brief des Dorfschulzen, über die Übersiedlung in eine neue Wohnung, oder sollte er mit den Rechnungen beginnen? Der Andrang der Sorgen machte ihn verwirrt, und er lag noch immer da, indem er sich von der einen Seite auf die andere wälzte. Man hörte nur ab und zu unzusammenhängende Ausrufe: »Ach du mein Gott! Das Leben macht sich fühlbar, es erreicht einen überall.«
Es ist unbestimmbar, wie lange er noch in dieser Unschlüssigkeit verharrt wäre; jetzt aber ertönte im Vorzimmer ein Läuten.
»Es kommt schon jemand!« sagte Oblomow, sich in den Schlafrock einwickelnd, »und ich bin noch nicht aufgestanden. Das ist eine Schande! Wer kommt denn so früh?«
Und er blieb liegen und blickte neugierig auf die Tür.
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
|
Buchempfehlung
Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.
142 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro