[930] Tarantjew und Iwan Matwejewitsch trafen sich nach dem Iljatage wieder in der Kneipe.
»Tee!« bestellte Iwan Matwejewitsch düster, und als der Kellner Tee und Rum brachte, schob er ihm ärgerlich die Flasche hin. »Das ist kein Rum, sondern es sind Nelken!« sagte er, nahm aus der Manteltasche seinen eigenen Rum heraus und ließ den Kellner diesen riechen.
»Komm mir also nicht mehr mit deiner Flasche!« bemerkte er.
»Was, Gevatter, es steht schlecht!« sagte er, als der Kellner fort war.
»Ja, der Teufel hat ihn hergebracht!« entgegnete Tarantjew wütend. »Was für ein Schurke dieser Deutsche ist! Er hat die Vollmacht vernichtet und das Gut gepachtet! Das ist unerhört! Er wird sein Schäfchen aber gehörig ins trockene bringen.«
»Ich fürchte, Gevatter, daß, wenn er sich in der Sache auskennt, dabei etwas herauskommen kann. Wenn er erfährt, daß die Abgaben eingesammelt sind und daß wir das Geld erhalten haben, kann er womöglich noch einen Prozeß anfangen ...«
»Gleich einen Prozeß! Bist du aber ängstlich geworden, Gevatter! Es ist nicht das erstemal, daß Satjortij seine Finger nach fremdem Gelde ausstreckt, er versteht es, seine Spuren zu verwischen. Ich glaube, er gibt den Bauern keine Quittungen; er nimmt ihnen das Geld wohl unter vier Augen ab. Der Deutsche wird sich ärgern, wird schimpfen, und damit basta. Und du denkst gleich an einen Prozeß!«[931]
»Glaubst du wirklich?« fragte Muchojarow, Mut fassend, »nun wollen wir trinken.«
Er schenkte sich und Tarantjew Rum ein.
»Manchmal glaubt man, daß man auf der Welt gar nicht leben kann, wenn man aber trinkt, geht es doch noch weiter!« tröstete er sich.
»Mache unterdessen Folgendes, Gevatter«, fuhr Tarantjew fort, »stelle irgendwelche Rechnungen auf, welche du willst, für Holz, für Kraut, nur für irgend etwas, Oblomow hat ja jetzt die Wirtschaft deiner Schwester übergeben, und füge die Summe den übrigen Ausgaben an. Und wenn Satjortij kommt, werden wir sagen, daß er so und so viel Abgabegelder gebraucht hat und daß wir damit die Ausgaben für Oblomow gedeckt haben.«
»Wenn er aber die Rechnungen nimmt und sie dem Deutschen zeigt, dann könnte die Sache doch ans Licht kommen ...«
»Aber nein! Er steckt sie irgendwohin, und der Teufel selbst findet sie dann nicht. Und bis der Deutsche kommt, ist alles längst vergessen ...«
»Wirklich? Trinken wir, Gevatter«, sagte Iwan Matwejewitsch, den Rum in Weingläser einschenkend, »es ist schade, das mit Tee zu verdünnen. Rieche einmal; drei Rubel. Wollen wir uns nicht etwas zu essen bestellen?«
»Das könnte man.«
»Kellner!«
»Aber was das für ein Schurke ist! ›Ich nehm's in Pacht‹, sagt er«, begann Tarantjew wieder wütend, »uns Russen würde so etwas nie einfallen! Diese Einrichtung riecht gleich nach etwas Deutschem. Dort haben sie lauter Farmen und Pachtgüter. Wart nur, er wird ihm dann noch mit Aktien heimleuchten.«
»Was sind denn das, Aktien? Ich kenne mich damit gar nicht aus«, fragte Iwan Matwejewitsch.
»Eine deutsche Erfindung!« sagte Tarantjew zornig, »das ist so: Ein Schwindler erfindet, wie man feuersichere Häuser baut, und übernimmt es, eine Stadt zu[932] bauen; er braucht Geld, da läßt er Papiere, sagen wir zu je fünfhundert Rubel, erscheinen, und die Dummköpfe kaufen und verkaufen sie einander. Wenn Gerüchte entstehen, daß das Unternehmen gut geht, steigen die Papiere im Preise, wenn es schlecht geht, kracht das Ganze. Man behält dann die Papiere, aber kein Geld. Wenn man frägt, wo die Stadt ist, bekommt man zur Antwort, daß sie verbrannt ist und nicht fertig gebaut wurde, und der Erfinder hat sich unterdessen mit dem Geld aus dem Staube gemacht. Das sind Aktien! Der Deutsche wird ihn schon hineinverwickeln! Ich wundere mich nur, daß er das noch bis jetzt nicht getan hat! Ich hab' ihn immer daran gehindert und habe dem Landsmann Wohltaten erwiesen!«
»Ja, jetzt ist's aus; die Sache ist zu Ende und dem Archiv übergeben worden, jetzt haben wir zum letztenmal Geld aus Oblomowka bekommen ...« sagte Muchojarow ein wenig benebelt.
»Daß ihn der Teufel hol! Du hast ja so viel Geld, daß man darin mit einer Schaufel wühlen kann«, entgegnete Tarantjew, auch ein wenig im Dusel; »du hast eine sichere Quelle, schöpfe daraus, solange du nicht müde bist. Trinken wir!«
»Was ist das für eine Quelle, Gevatter? Man sammelt das ganze Leben und kann nur immer einen Rubel oder einen Dreirubelschein einstecken ...«
»Du sammelst doch aber schon zwanzig Jahre, Gevatter, versündige dich nicht!«
»Aber was fällt dir ein!« entgegnete Iwan Matwejewitsch mit lallender Stimme, »du vergißt, daß ich erst seit zehn Jahren Sekretär bin. Und früher haben nur Zehn- und Zwanzigkopekenstücke in meiner Tasche geklimpert, und manchmal mußte ich, ich schäme mich, es zu sagen, Kupfermünzen sammeln. Was ist das für ein Leben! Ach, Gevatter! Was für glückliche Menschen es auf der Welt gibt, die dafür, daß sie nur ein Wort ins Ohr flüstern oder eine Zeile diktieren oder einfach ihren Namen auf ein Papier schreiben, plötzlich eine Geschwulst wie ein Kissen in[933] ihrer Tasche bekommen, so daß sie sich darauf schlafen legen könnten! Ja, wenn man so arbeiten könnte«, träumte er, immer betrunkener werdend, »die Bittsteller sehen solche Leute gar nicht persönlich und wagen es nicht, an sie heranzutreten. Er steigt in den Wagen und ruft ›in den Klub!‹, dort drücken ihm ganz mit Orden behängte Leute die Hand, das Spiel dreht sich nicht um fünf Kopeken. Und wie er zu Mittag speist – ach! Er würde sich schämen, über unsere Gerichte zu sprechen; da würde er die Stirn furchen und ausspucken. Im Winter essen sie junge Hühner, im April werden Erdbeeren gereicht! Zu Hause geht die Frau in Spitzen herum, die Kinder haben eine Gouvernante, sind schön gekleidet und frisiert. Ach, Gevatter, es gibt ein Paradies, doch die Sünden sind zu groß! Trinken wir. Da bringt man das Essen!«
»Klage nicht, Gevatter, versündige dich nicht; du hast ein schönes Kapital ...« sagte der gänzlich betrunkene Tarantjew mit blutroten Augen, »fünfunddreißig Tausend in Silber, das ist kein Spaß!«
»Still, still, Gevatter!« unterbrach ihn Iwan Matwejewitsch, »was hat man von fünfunddreißig Tausend, wann bringt man es aber bis auf fünfzig Tausend? Man kommt auch mit fünfzig Tausend noch nicht ins Paradies. Wenn man heiratet, muß man vorsichtig leben, jeden Rubel zählen, den Rum ganz vergessen, was ist das für ein Leben!«
»Dafür lebt man ruhig, Gevatter; bald ist's ein Rubel, bald sind's zwei, und ehe man sich's versieht, hat man im Tag sieben Rubel zurückgelegt. Wenn man aber manchmal seinen Namen unter etwas Großes setzt, kann man ihn dann sein Leben lang mit seinen Seiten fortwetzen. Nein, Bruder, versündige dich nicht!«
Iwan Matwejewitsch hörte nicht zu und überlegte sich längst etwas.
»Hör einmal«, begann er plötzlich, die Augen weit aufreißend und sich so freuend, daß sein Rausch fast verging, »oder nein, ich fürchte mich und sage es nicht, ich werde[934] einen solchen Vogel nicht aus meinem Kopf fortfliegen lassen. Das ist ja ein wahrer Schatz ... Trinken wir, Gevatter, trinken wir schnell!«
»Ich werde nicht trinken, bevor du es mir nicht erzählst«, sagte Tarantjew, das Glas fortschiebend.
»Es ist eine wichtige Sache, Gevatter ...« flüsterte Muchojarow, auf die Tür schauend.
»Nun? ...« fragte Tarantjew ungeduldig.
»Was mir da eingefallen ist. Weißt du was, Gevatter, das ist dasselbe, wie wenn man irgend etwas Großes unterschreibt, bei Gott, es ist so!«
»Aber was denn, wirst du es mir sagen?«
»Und was man da zurücklegen kann!«
»Nun?« trieb Tarantjew ihn an.
»Wart, laß mich noch nachdenken. Ja, da braucht man aber nichts zu streichen, das ist gesetzlich. Also gut, Gevatter, ich sage es dir nur darum, weil ich dich dabei brauche; ohne dich geht es schlecht. Sonst hätte ich's dir, bei Gott, nicht gesagt; das ist nicht so etwas, das man anderen anvertraut.«
»Bin ich denn für dich ein anderer, Gevatter? Mir scheint, ich habe dir mehr als einmal Gefälligkeiten erwiesen, ich bin dein Zeuge gewesen und habe dir die Kopien geschrieben ... weißt du's nicht mehr, du Schwein!«
»Gevatter, Gevatter, halte deine Zunge im Zaum. Was du für einer bist, du läßt ja alles wie aus einer Kanone herausschießen!«
»Wer hört es denn hier? Weiß ich denn nicht, was ich tue?« sagte Tarantjew ärgerlich. »Warum quälst du mich? Also sprich.«
»Nun, höre zu, Ilja Iljitsch ist ja sehr ängstlich und kennt gar keine Gesetze, damals beim Kontrakt hatte er ganz den Kopf verloren, als man die Vollmacht geschickt hat, wußte er nicht, was er beginnen sollte, er hatte sogar vergessen, wieviel er an Abgaben zu bekommen hat, er sagte selbst, ›ich weiß nichts‹ ...«
»Nun?« fragte Tarantjew ungeduldig.[935]
»Also er hat es sich angewöhnt, sehr oft zur Schwester zu kommen. Neulich ist er bis ein Uhr dort sitzen geblieben, und als er dann im Vorzimmer mit mir zusammengestoßen ist, hat er sich den Anschein gegeben, mich nicht zu sehen. Wir wollen also noch abwarten, was geschieht, und dann ... Sag ihm gelegentlich, daß es häßlich ist, Schande ins Haus zu bringen, daß sie eine Witwe ist, sag, daß man es erfahren hat und daß sie jetzt nicht heiraten kann, ein reicher Kaufmann hätte um sie angehalten, jetzt wüßte er aber, daß er des Abends bei ihr sitzt, und wolle nicht mehr.«
»Nun, was kommt denn dabei heraus? Er wird erschrecken, sich aufs Bett legen und sich wie ein Eber darin herumwälzen und seufzen, das ist alles!« sagte Tarantjew. »Was werden wir denn davon haben, was kann man sich dabei zurücklegen?«
»Bist du aber einer! Du wirst ihm sagen, daß ich ihn verklagen will, daß man ihm aufgelauert hat, daß Zeugen da sind ...«
»Nun?«
»Und wenn er sehr erschrickt, dann sage ihm, daß ich auf einen Ausgleich eingehen würde, wenn er ein kleines Kapital hergibt.«
»Wo ist denn sein Geld?« fragte Tarantjew, »er verspricht ja alles vor lauter Angst, sogar zehntausend ...«
»Blinzle mir nur zu, dann stelle ich einen Schuldschein aus ... auf den Namen der Schwester: ›Ich, Oblomow, habe bei der Witwe Soundso zehntausend Rubel geliehen bis zu dem und dem Datum usw.‹«
»Was haben wir denn davon, Gevatter? Ich verstehe dich nicht, das Geld geht dann zu der Schwester und den Kindern über. Wo ist dann unser Verdienst?«
»Und die Schwester gibt mir einen Schuldschein auf dieselbe Summe; ich laß ihn von ihr unterschreiben.«
»Wenn sie aber darauf besteht und nicht unterschreibt?«
»Die Schwester?«
Und Iwan Matwejewitsch brach in ein dünnes Gelächter aus.[936]
»Sie unterschreibt schon, Gevatter, sie würde sogar ihr Todesurteil unterschreiben, ohne zu fragen, was es sei, und nur lächeln. Sie setzt schief ›Agafja Pschenizin‹ darunter und wird nie erfahren, was sie unterschrieben hat. Siehst du, wir sind also gar nicht bloßgestellt; die Schwester hat den Kollegiensekretär Oblomow und ich die Frau des Kollegiensekretärs Pschenizin zum Schuldner. Der Deutsche kann wüten, soviel er will, die Sache ist gesetzlich!« sagte er, die zitternden Hände in die Höhe haltend.
»Trinken wir, Gevatter!«
»Die Sache ist gesetzlich!« sagte Tarantjew entzückt, »trinken wir.«
»Und wenn alles gut geht, kann man es in zwei Jahren wiederholen; es ist eine gesetzliche Sache!«
»Eine ganz gesetzliche!« erklärte Tarantjew, beifällig nickend, »wollen wir auch dann wiederholen!«
»Wiederholen!«
Und sie tranken.
»Wenn dein Landsmann sich nur nicht wehrt und dem Deutschen schreibt«, bemerkte Muchojarow ängstlich, »dann steht es schlimm, Bruder! Man kann keine Klage gegen ihn erheben, sie ist eine Witwe und kein Mädchen!«
»Er wird schreiben! Gewiß wird er schreiben!« sagte Tarantjew. »So in zwei Jahren. Und wenn er sich wehrt, dann schimpfe ich ...«
»Nein, nein, Gott behüte! Dann verdirbst du alles, Gevatter. Er wird sagen, man hätte ihn gezwungen, wird vielleicht noch etwas von Schlägen erwähnen, dann ist es ein Kriminalprozeß. Nein, das taugt nicht! Man kann es aber anders machen. Zuerst mit ihm essen und trinken; er liebt Johannisbeerschnaps. Sowie er ein wenig benebelt ist, gibst du mir ein Zeichen, und ich komme mit dem Schein herein. Er wird sich die Summe gar nicht anschauen und wird wie damals den Kontrakt unterschreiben; wenn die Sache dann aber vom Notar bestätigt ist, kann er nichts mehr machen! Dieser Edelmann wird sich schämen einzugestehen, daß er in betrunkenem Zustand unterschrieben hat; eine gesetzliche Sache!«[937]
»Eine gesetzliche Sache!« wiederholte Tarantjew.
»Oblomowka wird dann den Erben zufallen.«
»Gewiß! Trinken wir, Gevatter.«
»Auf das Wohl der Tölpel!« sagte Iwan Matwejewitsch.
Sie tranken.
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
|
Buchempfehlung
Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica
746 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro