Achtes Kapitel

[693] Dieser ganze Tag war ein Tag der Enttäuschungen für Oblomow. Er verbrachte ihn in der Gesellschaft von Oljgas Tante, einer sehr klugen, anständigen Frau, die stets sehr gut gekleidet war, stets ein neues Seidenkleid trug, das ausgezeichnet saß und einen sehr eleganten Spitzenkragen hatte; ihre Haube war auch geschmackvoll gemacht, und das Band war kokett ihrem fast fünfzigjährigen, aber noch frischen Gesicht angepaßt. An einer Kette hing ein goldenes Lorgnon. Ihre Bewegungen waren voller Würde; sie drapierte sich sehr geschickt in einen kostbaren Schal, stützte sich in einem passenden Moment auf das gestickte Kissen und streckte sich so majestätisch auf dem Sofa aus. Man sah sie niemals bei einer Arbeit; sich bücken, nähen, sich mit einer Nichtigkeit abgeben, paßte nicht zu ihrem Gesicht, zu ihrer würdevollen Gestalt. Sie erteilte den Dienstboten die Befehle in einem nachlässigen Tone, kurz und trocken. Sie las manchmal, schrieb niemals, sprach aber gut, übrigens meistens französisch. Doch hatte sie sofort bemerkt, daß Oblomow der französischen Sprache nicht ganz mächtig war, und ging gleich am nächsten Tage zum Russischen über. Im Gespräche gab sie sich keinen Träumereien hin und räsonnierte nicht; sie schien im Geiste einen genauen Strich gezogen zu haben, den ihr Verstand nie überschritt. Man sah aus allem, daß das Gefühl, jede Sympathie und auch die Liebe zugleich mit allen anderen Elementen in ihr Leben eingriffen oder eingegriffen hatten, während man bei anderen Frauen auf den ersten Blick sieht, daß die Liebe, wenn nicht tatsächlich, so doch[694] in ihren Gesprächen, an allen Lebensfragen teilnimmt und daß alles andere nur nebenbei in Betracht gezogen wird, wenn die Liebe noch Raum übrigläßt. Bei dieser Frage ging die Kunst zu leben, sich zu beherrschen, den Gedanken, den Vorsatz und die Ausübung ins Gleichgewicht zu bringen, allem voran.

Man konnte sie nie unvorbereitet antreffen, sie überrumpeln, sie war wie ein wachsamer Feind, dessen erwartungsvollen Blick man trotz jeden Auflauerns stets auf sich gerichtet fühlt. Ihr Element war die große Welt, und darum gingen bei ihr der Takt und die Vorsicht jedem Gedanken, jedem Worte und jeder Bewegung voran. Sie eröffnete nie jemand die verborgenen Regungen ihres Herzens, vertraute niemand irgendwelche Geheimnisse an, man traf sie niemals mit einer guten Freundin an, mit irgendeiner Alten, mit der sie bei einer Tasse Kaffee flüsterte. Sie blieb nur mit dem Baron von Langwangen oft unter vier Augen; abends saß sie manchmal bis Mitternacht mit ihm, aber fast immer in Oljgas Anwesenheit; und dabei schwiegen sie meistens, aber dieses Schweigen war so klug und bedeutsam, als wüßten sie etwas, was anderen unbekannt war, und das war alles. Sie liebten es wohl, beisammen zu sein, das war der einzige Schluß, den man ziehen konnte, wenn man ihnen zusah; sie behandelte ihn ebenso wie die anderen: wohlwollend gütig, aber ebenso gleichmäßig und ruhig. Böse Zungen nahmen die Gelegenheit wahr und deuteten auf eine sehr alte Freundschaft und eine gemeinsame Reise ins Ausland hin; doch in ihren Beziehungen zu ihm brach niemals auch nur der Schatten irgendeiner verborgenen Sympathie durch, und das hätte sich doch äußern müssen. Er war unter anderem Oljgas Vormund und verwaltete ihr kleines Gut, das bei irgendeinem Unternehmen verpfändet worden und nicht wieder frei zu bekommen war. Der Baron führte den Prozeß, das heißt, er beauftragte einen Beamten, die Papiere zu schreiben, die er durch sein Lorgnon las, unterschrieb und schickte dann denselben Beamten zu den Behörden und gab dem Prozesse durch[695] seine Beziehungen in höheren Kreisen eine befriedigende Wendung. Er machte Hoffnungen, daß ein baldiges glückliches Ende bevorstehe. Dieser Umstand bereitete den boshaften Gerüchten ein Ende, und man gewöhnte sich daran, den Baron im Hause als einen Verwandten zu betrachten. Er war ein Fünfziger, hatte sich aber sehr gut konserviert, färbte sich nur den Schnurrbart und hinkte ein wenig auf einem Fuße. Er war äußerst höflich, rauchte nicht und verschränkte nicht die Füße in Damengesellschaft und tadelte strenge die jungen Leute, die so unerzogen waren, sich in Gesellschaft zurückzulehnen und die Knie und Stiefel ebenso hoch wie die Nase zu heben. Er saß auch im Zimmer in Handschuhen, die er nur beim Mittagessen auszog. Er war nach der letzten Mode gekleidet und trug im Knopfloch seines Fracks viele Orden. Er fuhr stets in einer Kutsche und schonte die Pferde sehr; bevor er in den Wagen stieg, sah er sich das Geschirr und sogar die Hufe der Pferde an, zog manchmal sein weißes Taschentuch hervor und rieb damit über die Schulter oder den Rücken der Pferde, um zu sehen, ob sie gut gereinigt waren. Er begrüßte die Bekannten mit einem wohlwollenden, höflichen Lächeln, die Unbekannten zuerst kühl; wenn man ihm aber jemand vorstellte, ging die Kälte in ein Lächeln über, und der Vorgestellte konnte schon immer darauf rechnen. Er sprach über alles: über die Tugend, die Teuerung, die Wissenschaften und die Gesellschaft gleich präzise; er äußerte seine Meinung in klaren, abgerundeten Sätzen, als spräche er schon in fertigen und in irgendeinen Kursus eingetragenen Sentenzen, die als ein allgemeiner Leitfaden herausgegeben werden konnten.

Das Verhältnis zwischen Oljga und ihrer Tante war bis jetzt sehr einfach und ruhig gewesen; in der Zärtlichkeit überschritt es nie die Grenzen der Mäßigkeit, und zwischen ihnen machte sich niemals auch nur der Schatten eines Mißvergnügens bemerkbar. Das hatte teils in Marja Michailownas Charakter, teils im vollkommenen Mangel irgendeines Anlasses für sie beide, sich anders zu benehmen,[696] seinen Grund. Es fiel der Tante nicht ein, von Oljga irgend etwas zu verlangen, das ihren Neigungen direkt widersprochen hätte; und Oljga würde nicht im Traume daran gedacht haben, die Wünsche der Tante nicht zu erfüllen oder ihren Rat nicht zu befolgen. Und worin äußerten sich diese Wünsche? In der Wahl eines Kleides oder einer Frisur, oder zum Beispiel darin, ob man ins französische Theater oder in die Oper fahren sollte. Oljga gehorchte insofern, als die Tante ihre Wünsche oder Ratschläge äußerte, aber nicht mehr, und diese sprach sich bis zur Trockenheit gemäßigt aus und nur insofern, als alle Rechte der Tante es zuließen, aber nie mehr. Dieses Verhältnis war so farblos, daß man unmöglich entscheiden konnte, ob die Tante irgendwelche Ansprüche auf Oljgas Gehorsam, auf ihre besondere Zärtlichkeit machte, oder ob Oljga der Tante Gehorsam und irgendeine besondere Zärtlichkeit entgegenbrachte. Man konnte aber auf den ersten Blick sagen, wenn man sie zusammen sah, daß sie Tante und Nichte, aber nicht Mutter und Tochter waren.

»Ich fahre ins Geschäft; brauchst du nicht etwas?« fragte die Tante.

»Ja, ma tante, ich muß mein Lilakleid umtauschen«, sagte Oljga, und sie fuhren zusammen, oder sie sagte: »Nein, ma tante, ich war erst vor kurzem dort.«

Die Tante faßte sie mit zwei Fingern an den Wangen, küßte sie auf die Stirn, die Nichte küßte der Tante die Hand, und die eine fuhr fort, während die andere zu Hause blieb.

»Wir mieten wieder dieselbe Landwohnung«, sagte die Tante weder fragend noch bejahend, sondern als überlege sie es mit sich selbst und könne keinen Entschluß fassen.

»Ja, es ist dort sehr schön«, sagte Oljga.

Und die Landwohnung wurde gemietet.

Oder Oljga sagte: »Ach, ma tante, langweilt Sie denn der Wald und der Sand noch nicht? Sollte man lieber nicht in einer anderen Gegend suchen?«

»Wollen wir suchen«, sagte die Tante. »Oljenka, wollen[697] wir nicht ins Theater fahren?« fragte die Tante. »Man spricht schon so lange von dem Stück.«

»Mit Vergnügen«, antwortete Oljga; es war in ihrem Tone aber kein eiliger Wunsch, es recht zu machen, und kein Ausdruck von Unterwürfigkeit enthalten.

Manchmal stritten sie auch ein wenig.

»Aber ich bitte dich, ma chère, das grüne Band steht dir ja nicht«, sagte die Tante, »nimm doch das paillefarbige.«

»Ach, ma tante! Ich habe es jetzt schon sechsmal getragen; man kriegt es doch endlich satt!«

»Dann nimm das penseefarbige.«

»Und gefällt Ihnen dieses nicht?«

Die Tante sah hin und schüttelte langsam den Kopf.

»Wie du willst, ma chère, ich hätte aber an deiner Stelle pensee- oder paillefarbige genommen.«

»Nein, ma tante, ich nehme lieber dieses«, sagte Oljga sanft und tat, was sie wollte.

Oljga fragte ihre Tante nicht wie eine Autoritätsperson um Rat, deren Worte für sie Gesetz sein mußten, sondern ebenso wie sie jede andere Frau, die mehr Erfahrung als sie selbst besaß, gefragt hätte.

»Ma tante, haben Sie dieses Buch gelesen – was ist das?« fragte sie.

»Ach, das ist Schund!« antwortete die Tante und schob das Buch beiseite, versteckte es aber nicht und tat nichts, damit Oljga es nicht lesen sollte.

Und es wäre Oljga niemals eingefallen, es zu lesen. Wenn sie beide im Zweifel waren, wurde dieselbe Frage an den Baron von Langwangen oder an Stolz gerichtet, wenn er da war, und das Buch wurde gelesen oder nicht, je nachdem das gefällte Urteil lautete.

»Ma chère Oljga!« sagte manchmal die Tante, »man hat mir über den jungen Mann, der dich bei Sawadskys oft anspricht, gestern etwas erzählt, eine dumme Geschichte.«

Und das war alles. Und Oljga konnte dann tun, was sie wollte; mit ihm sprechen oder nicht.

Oblomows Erscheinen im Hause hatte weder irgendwelche Fragen noch besondere Beachtung von seiten der[698] Tante, des Barons und nicht einmal bei Stolz hervorgerufen. Letzterer wollte seinen Freund in ein Haus einführen, in dem alles ein wenig steif war, wo man nicht nur keine Aufforderung erhielt, nach dem Essen zu schlafen, sondern wo man nicht einmal die Beine übereinanderschlagen durfte, wo man elegant gekleidet sein und darüber, was man sagte, nachdenken mußte – wo man, mit einem Worte, weder hindämmern noch sich gehen lassen konnte und wo immer ein lebhaftes, alles Neue berührendes Gespräch geführt wurde. Außerdem dachte Stolz, daß das Zusammensein mit einem jungen, sympathischen, gescheiten, lebhaften und teilweise spöttischen Mädchen auf Oblomows schläfriges Leben dieselbe Wirkung ausüben würde wie das Anzünden einer Lampe in einem düsteren Zimmer, wobei sich ein gleichmäßiges Licht in allen dunklen Ecken verbreitet, die Temperatur um ein paar Grade steigt und das Zimmer heiterer erscheint. Das war das Resultat, das er anstrebte, als er Oblomow mit Oljga bekannt machte. Er hatte nicht vorausgesehen, daß dabei ein Feuerwerk entstehen würde, Oljga und Oblomow erst recht nicht.

Ilja Iljitsch blieb zwei Stunden lang steif mit der Tante sitzen, ohne ein einziges Mal ein Bein auf das andere zu legen, und unterhielt sich auf eine sehr anständige Weise über alles mögliche mit ihr; er rückte ihr sogar ein paarmal geschickt den Schemel unter die Füße. Dann kam der Baron, lächelte höflich und drückte ihm freundlich die Hand. Oblomow benahm sich noch steifer, und alle drei waren miteinander höchst zufrieden. Die Tante beobachtete Oblomows Gespräche mit Oljga unter vier Augen und ihre Spaziergänge ... oder besser gesagt, sie beobachtete sie gar nicht. Das Spazierengehen mit einem jungen Manne, mit einem Gecken, wäre etwas anderes gewesen; sie hätte auch dann nichts gesagt, hätte die Sache aber mit dem ihr eigenen Takt unmerklich wieder ins Gleichgewicht gebracht; sie würde ein- oder zweimal selbst mitgegangen sein oder irgend jemand anderen mitgeschickt haben, und die Spaziergänge hätten von selbst[699] aufgehört. Aber mit »Herrn Oblomow« spazierenzugehen, mit ihm in einer Ecke des Salons und auf dem Balkon zu sitzen, was war denn dabei? Er war im dreißigsten Jahre, da würde er ihr doch keine Dummheiten sagen oder unpassende Bücher geben ... Das würde wohl niemand einfallen. Außerdem hatte die Tante gehört, wie Stolz am Tage vor seiner Abreise zu Oljga sagte, sie möchte ihn nicht hindämmern lassen, sie sollte ihm das Schlafen verbieten, ihn quälen, tyrannisieren, ihm verschiedene Aufträge übergeben, mit einem Worte, über ihn verfügen. Er hatte auch die Tante gebeten, Oblomow nicht aus den Augen zu lassen, ihn öfters einzuladen, an Spaziergängen und Ausflügen teilnehmen zu lassen und ihn auf jede erdenkliche Weise aufzurütteln, wenn er nicht ins Ausland reiste.

Oljga zeigte sich nicht, solange er bei der Tante saß, und die Zeit zog sich langsam hin. Oblomow überlief es wieder bald heiß und bald kalt. Er ahnte bereits die Ursache der Veränderung in Oljga. Dieser Umschlag in ihrem Benehmen war für ihn noch bedrückender als der frühere. Sein erster Fehltritt hatte in ihm nur Scham und Furcht hervorgerufen; jetzt war es ihm aber schwer, unbehaglich, kalt und traurig ums Herz, wie bei nassem, regnerischem Wetter. Er hatte ihr zu verstehen gegeben, daß er von ihrer Liebe zu ihm wußte; aber vielleicht war diese Vermutung falsch. Dann wäre es tatsächlich eine Kränkung gewesen, und vielleicht eine, die nicht mehr gutzumachen war. Wenn er aber richtig erraten hatte, wie plump hatte er es angefangen! Er war einfach ein Narr gewesen. Er konnte das Gefühl, das schüchtern an das junge, jungfräuliche Herz pochte, das sich leicht und vorsichtig wie ein Vogel auf einen Zweig setzte, verscheucht haben; ein Laut, ein Rascheln, und es war davongeflogen. Er wartete mit bebendem Herzen auf Oljgas Kommen – was würde sie sagen und wie würde sie ihn anblicken ...

Sie kam, und er konnte sich bei ihrem Anblicke nicht genug wundern; er erkannte sie kaum. Sie hatte ein anderes Gesicht, sogar eine andere Stimme. Das junge,[700] naive, fast kindliche Lächeln erschien kein einziges Mal auf ihren Lippen, sie blickte ihn kein einziges Mal mit weit offenen Augen an, in denen sich eine Frage, ein Zweifel oder einfach Neugierde ausdrückte, als hätte sie nichts mehr zu fragen, zu erfahren, als setzte sie nichts mehr in Erstaunen! Ihr Blick folgte ihm nicht mehr wie früher. Sie sah ihn an, als kenne sie ihn lange, als bedeute er für sie nichts, dasselbe wie der Baron – mit einem Wort, es war, als hätte er sie ein Jahr lang nicht gesehen, und als wäre sie während der Zeit gereift. Es war in ihr weder Strenge noch Ärger, sie scherzte und lachte sogar und beantwortete eingehend Fragen, die sie früher gar nicht beachtet hätte. Man sah, daß sie beschlossen hatte, sich dazu zu zwingen, was andere taten, und was sie früher nicht getan hatte. Die Freiheit und Unabhängigkeit, die ihr das, was sie dachte, zu äußern erlaubten, waren verschwunden. Wohin war das alles geraten? Nach dem Essen trat er auf sie zu und fragte, ob sie Spazierengehen wolle. Sie wandte sich, ohne ihm zu antworten, an die Tante mit der Frage:

»Gehen wir spazieren?«

»Wenn's nicht weit ist«, sagte die Tante. »Laß mir den Schirm geben.«

Und alle gingen mit. Man ging träge, blickte in die Ferne, auf Petersburg hin, kam bis zum Wald und kehrte auf den Balkon zurück.

»Mir scheint, Sie sind heute nicht aufgelegt zu singen? Ich fürchte mich sogar zu bitten«, sagte Oblomow, in der Erwartung, die Steifheit würde ein Ende nehmen, ihre Fröhlichkeit würde zurückkehren, und in der Hoffnung, wenigstens in einem einzigen Wort ein Lächeln und endlich im Gesang einen Strahl ihrer Aufrichtigkeit, Naivität und Zutraulichkeit aufzufangen.

»Es ist heiß!« bemerkte die Tante.

»Ich werde versuchen«, sagte Oljga und sang eine Romanze.

Er lauschte und traute seinen Ohren nicht. Das war sie nicht; wo war der frühere, leidenschaftliche Ton? Sie[701] sang so rein, so korrekt und dabei so ... so wie alle Mädchen, wenn man sie in Gesellschaft vorzusingen bittet. Ohne Begeisterung. Sie hatte den Gesang ihrer Seele beraubt, und im Zubehör bewegte sich kein einziger Nerv. Spielte sie mit ihm? Heuchelte sie? Zürnte sie? Man konnte nichts erraten; sie blickte ihn freundlich an, sprach gerne, tat es aber ebenso wie sie sang, wie alle ... Was war das?

Oblomow ergriff noch vor dem Tee seinen Hut und verabschiedete sich.

»Kommen Sie öfters«, sagte die Tante, »wenn Ihnen unsere Gesellschaft genügt, wir sind an Wochentagen immer allein, am Sonntag ist gewöhnlich irgend jemand da. Sie werden sich also nicht langweilen.«

Der Baron erhob sich höflich und verbeugte sich.

Oljga nickte ihm wie einem guten Bekannten zu, wandte sich, als er gegangen war, zum Fenster hin und lauschte gleichgültig Oblomows sich entfernenden Schritten.

Diese zwei Stunden und die folgenden drei, vier Tage, höchstens eine Woche, hatten sie tief beeinflußt und sie um vieles weitergebracht. Nur Frauen sind einer so schnellen Entfaltung der Kräfte und Entwicklung aller Gebiete ihres Geistes fähig. Sie nahm gleichsam den Kursus des Lebens nicht tage-, sondern stundenweise durch. Und jede Stunde der geringsten, kaum merkbaren Erkenntnis, eines Zufalles, der wie ein Vogel an der Nase eines Mannes vorbeihuscht, wird vom Mädchen unaussprechlich schnell aufgefangen; sie folgt seinem Fluge in die Ferne, und die Linie, die er umschrieben hat, gräbt sich unauslöschlich, als eine Lehre und Offenbarung, in ihr Gedächtnis ein. Dort, wo der Mann einen Wegweiser mit einer Aufschrift braucht, genügt ihr der vorübersausende Wind, die bebende, mit dem Ohre kaum aufzufangende Erschütterung der Luft. Warum, infolge welcher Ursachen, wird das Gesicht des Mädchens, das noch vorige Woche so sorglos, so lächerlich naiv war, plötzlich von einem strengen Gedanken[702] umschattet? Und was ist das für ein Gedanke? Woran? In diesem Gedanken ist wohl alles enthalten, die ganze Logik, die metaphysische und praktische Philosophie des Mannes, das ganze System des Lebens! Der Cousin, der sie noch vor kurzem als kleines Mädchen zurückgelassen hat, und der jetzt mit dem Lernen fertig geworden ist und Epauletten trägt, läuft, sie erblickend, fröhlich auf sie zu, mit der Absicht, sie wie früher auf die Schulter zu klopfen, sie bei den Händen zu fassen, sich mit ihr zu drehen, über die Stühle und Sofas zu springen; aber nachdem er ihr forschend ins Gesicht geblickt hat, wird er schüchtern, tritt verlegen zurück und begreift, daß er noch ein grüner Junge ist, während sie schon ein Weib ist! Woher kommt das? Was ist geschehen? Ein Drama? Ein bedeutsames Ereignis? Eine Neuigkeit, die der ganzen Stadt bekannt ist? Nichts, weder maman noch mon oncle noch ma tante noch die Kinderfrau noch das Stubenmädchen wissen etwas. Wann sollte auch etwas geschehen sein; sie hat zwei Mazurkas und ein paar Quadrillen getanzt, hat Kopfweh bekommen und in der Nacht nicht geschlafen ... Und dann ist's wieder vergangen, aber in ihrem Gesichte ist etwas Neues erschienen; sie blickt anders an, lacht nicht mehr laut, ißt nicht eine ganze Birne auf einmal, erzählt nicht, »wie es bei uns im Pensionat war« ... Auch sie hat den Kursus beendet.

Oblomow konnte am zweiten und dritten Tag, gleich jenem Cousin, Oljga kaum wiedererkennen und blickte sie schüchtern an, während sie ihn einfach, nur ohne Neugierde, ohne Zärtlichkeit, ganz so wie die anderen ansah. »Was ist mit ihr? Woran denkt sie jetzt, was fühlt sie?« quälte er sich mit Fragen ab. »Bei Gott, ich begreife nichts!« Und wie hätte er darauf kommen sollen, daß in ihr dasjenige vorging, was in einem Manne im Alter von fünfundzwanzig Jahren, mit Hilfe von fünfundzwanzig Professoren, von Bibliotheken, nach dem Durchwandern der Welt, manchmal sogar erst nach einigem Verlust des moralischen Aromas der Seele, der[703] Frische der Gedanken und der Haare vorgeht, das heißt, daß sie die Sphäre der Erkenntnis betreten hatte? Das Erklimmen dieser Stufe hatte sich für sie so einfach und leicht erwiesen.

»Nein, das ist bedrückend und langweilig!« entschied er. »Ich werde auf die Wiborgskajastraße übersiedeln, werde arbeiten und lesen und werde dann ... allein nach Oblomowka fahren!« – fügte er mit tiefer Traurigkeit hinzu: »Ohne sie! Lebe wohl, mein Paradies, mein lichtes, stilles Lebensideal!«

Er ging weder am vierten noch am fünften Tag zu Oljga, las nicht und schrieb nicht, versuchte einen Spaziergang zu unternehmen und begab sich auf die staubige Straße hinaus, von dort aus ging es bergauf. »Was ist das für ein Vergnügen, sich in der Hitze herumzuschleppen!« sprach er zu sich selbst, gähnte, kehrte zurück, legte sich aufs Sofa und schlief ein, wie er es in der Gorochowajastraße bei herabgelassenen Jalousien zu tun pflegte. Er hatte nebelhafte Träume. Als er erwachte, sah er vor sich einen gedeckten Tisch, mit Suppe und gehacktem Fleisch. Sachar stand da und blickte schläfrig durchs Fenster, während Anissja im Nebenzimmer mit den Tellern klapperte. Er aß und setzte sich ans Fenster. Es ist langweilig und sinnlos, immer allein zu sein! Er hatte wieder keine Wünsche!

»Schauen Sie, gnädiger Herr, man hat von den Nachbarn ein Kätzchen gebracht; wollen Sie es nicht behalten? Sie haben gestern nach einem Kater gefragt«, sagte Anissja, die ihn dadurch zerstreuen wollte, und legte das Kätzchen auf seinen Schoß.

Er begann es zu streicheln, aber er langweilte sich auch mit dem Kätzchen.

»Sachar!« sagte er.

»Was wünschen Siegab Sachar träge zur Antwort.

»Ich werde vielleicht in die Stadt übersiedeln.«

»Wohin denn? Wir haben ja keine Wohnung!«

»In die Wiborgskajastraße.«

»Da würden wir ja aus einer Landwohnung in eine[704] andere übersiedeln! Wozu denn? Vielleicht um Michej Andreitsch wiederzusehen?«

»Hier ist es unbequem ...«

»Wir sollen wieder umziehen? Mein Gott! Wir sind noch vom vorigen Mal müde; ich kann noch immer die zwei Schalen und den Kehrbesen nicht finden; wenn Michej Andreitsch sie nicht mitgenommen hat, dann sind sie verlorengegangen.«

Oblomow schwieg. Sachar ging und kam gleich wieder, indem er den Koffer und den Reisesack hereinschleppte.

»Was soll man damit anfangen? Wollen wir ihn nicht verkaufen?« sagte er, den Koffer mit dem Fuß stoßend.

»Was hast du? Bist du verrückt? Ich fahre dieser Tage ins Ausland«, unterbrach Oblomow ihn zornig.

»Ins Ausland!« sagte Sachar grinsend, »wenn Sie noch was anderes gesagt hätten, aber ins Ausland!«

»Warum wundert dich das so? Ich fahre hin und basta ... Ich habe ja schon einen Paß

»Und wer wird Ihnen dort die Stiefel ausziehen!« bemerkte Sachar ironisch, »vielleicht die Dienstmädchen? Sie werden doch dort ohne mich nicht auskommen!«

Er grinste wieder, so daß der Backenbart und die Brauen sich nach den Seiten auseinanderschoben.

»Du sprichst immer Unsinn! Trag das hinaus und geh!« antwortete Oblomow ärgerlich.

Sowie Oblomow am nächsten Tag gegen zehn Uhr morgens erwachte, sagte ihm Sachar, als er den Tee brachte, daß er auf dem Weg zum Bäcker dem Fräulein begegnet wäre.

»Welchem Fräulein?«

»Welchem? Fräulein Iljinskaja, Oljga Sjergejewna.«

»Nun?« fragte Oblomow ungeduldig.

»Nun, sie hat Sie grüßen lassen und hat gefragt, ob Sie wohlauf sind, und was Sie machen.«

»Was hast du denn gesagt?«

»Ich habe gesagt, daß Sie wohlauf sind, was sollte ihm denn geschehen sein, hab' ich gesagt.«[705]

»Warum fügst du deine dummen Bemerkungen hinzu?« fragte Oblomow. »›Was sollte ihm denn geschehen sein!‹ Woher weißt du, was mit mir geschieht. Nun, was noch?«

»Sie hat gefragt, wo Sie gestern zu Mittag gegessen haben.«

»Nun? ...«

»Ich hab' gesagt, daß Sie zu Mittag und abends zu Hause gegessen haben. ›Ißt er denn auch abends?‹ hat das Fräulein gesagt. ›Ja, aber er hat nur zwei junge Hühner gegessen‹, hab' ich gesagt...«

»Dummkopf!« sagte Oblomow zornig.

»Warum bin ich ein Dummkopf! Ist denn das nicht wahr?« sagte Sachar, »ich kann ja noch die Knochen zeigen ...«

»Du bist wirklich ein Dummkopf!« wiederholte Oblomow. »Nun, und was hat sie dazu gesagt?«

»Sie hat gelacht. ›Warum denn so wenig?‹ hat sie dann noch gesagt.«

»So ein Dummkopf!« wiederholte Oblomow. »Du hättest ihr noch sagen sollen, daß du mir das Hemd verkehrt anziehst.«

»Sie hat nicht gefragt, darum hab' ich's nicht gesagt«, antwortete Sachar.

»Was hat sie noch gefragt?«

»Sie hat gefragt, was Sie diese Tage gemacht haben.«

»Nun, und was hast du geantwortet?«

»Daß Sie nichts tun und immer nur liegen.«

»Ach! ...« rief Oblomow mit heftigem Ärger aus, indem er die Fäuste an die Schläfen preßte. »Geh hinaus!« fügte er drohend hinzu. »Wenn du es noch einmal wagst, über mich solche Dummheiten zu erzählen, dann erlebst du was! Wieviel Gift in diesem Menschen steckt!«

»Soll ich vielleicht auf meine alten Jahre lügen?« rechtfertigte sich Sachar.

»Geh hinaus!« wiederholte Ilja Iljitsch.

Sachar fürchtete das Schimpfen nicht, wenn der Herr nur keine »traurigen Worte« gebrauchte.

»Ich hab' gesagt, daß Sie auf die Wiborgskajastraße übersiedeln wollen«, schloß Sachar.[706]

»Geh!« rief Oblomow befehlend aus. Sachar ging und seufzte so, daß es durchs ganze Wohnzimmer tönte, und Oblomow begann Tee zu trinken. Als er damit fertig war, aß er von dem großen Vorrat der Semmeln und Kringeln nur eine einzige Semmel, da er sich vor Sachars Unbescheidenheit fürchtete. Dann zündete er sich eine Zigarre an und setzte sich an den Tisch, er öffnete ein Buch, las darin eine Seite und wollte sie umwenden, das Buch war aber nicht aufgeschnitten. Oblomow riß die Seiten mit dem Finger auf, so daß sich an den Rändern Zacken bildeten, aber das Buch gehörte nicht ihm, sondern Stolz, der besonders bei seinen Büchern auf eine so strenge und langweilige Ordnung hielt, daß es unerträglich war. Die Papiere, die Bleistifte, alle Kleinigkeiten mußten so liegenbleiben, wie er sie hingelegt hatte. Er konnte ja ein Papiermesser nehmen, es war aber keins da; er konnte natürlich auch ein Tischmesser verlangen, doch Oblomow zog es vor, das Buch auf seinen Platz hinzulegen und sich auf das Sofa zu legen; doch kaum hatte er sich mit der Hand auf das gestickte Kissen gestützt, um es sich bequemer zu machen, als Sachar ins Zimmer trat.

»Das Fräulein hat noch gebeten, Sie möchten in diesen ... ach, wie heißt er doch ... kommen! ...« meldete er.

»Warum hast du mir es nicht früher, vor zwei Stunden, gesagt?« fragte Oblomow eilig.

»Sie haben mir ja befohlen hinauszugehen und haben mich nicht ausreden lassen ...« entgegnete Sachar.

»Du richtest mich zugrunde, Sachar!« sprach Oblomow pathetisch.

Er fängt schon wieder an! dachte Sachar, dem Herrn seinen linken Backenbart zuwendend und auf die Mauer blickend, immer muß er ein solches Wort dazwischensetzen!

»Wohin soll ich kommen?« fragte Oblomow.

»In diesen, wie heißt er denn? In den Garten, so was wird's sein ...«

»In den Park?« fragte Oblomow.[707]

»Ja, in den Park, so ist's, ›er soll hinkommen, wenn er will; ich werde dort sein‹, hat sie gesagt ...«

»Ankleiden!«

Oblomow lief im ganzen Park herum, blickte zwischen die Beete und in die Lauben hinein – Oljga war nicht da. Er ging durch die Allee, in der die Erklärung stattgefunden hatte, und traf sie dort auf einer Bank, nicht weit von der Stelle, wo sie den Zweig gepflückt und fortgeworfen hatte.

»Ich dachte, Sie kommen nicht mehr«, sagte sie freundlich.

»Ich suche Sie schon lange im ganzen Park«, antwortete er.

»Ich wußte, daß Sie suchen würden, und habe mich absichtlich in diese Allee gesetzt; ich glaubte, daß Sie sicher hier vorübergehen würden.«

Er wollte fragen: Warum glaubten Sie das?, blickte sie aber an und fragte nicht. Sie hatte ein anderes Gesicht, nicht dasjenige, das sie gehabt hatte, als sie hier spazierengingen, sondern das vom letztenmal, das ihm eine solche Unruhe eingeflößt hatte. Auch ihre Freundlichkeit war so zurückhaltend, der ganze Gesichtsausdruck war so in sich gekehrt, so bestimmt; er sah, daß man mit ihr nicht mehr mit Vermutungen, Anspielungen und naiven Fragen spielen konnte, daß dieser kindliche, fröhliche Augenblick schon vorüber war. Vieles, was nicht zu Ende gesprochen war, und an das man mit einer schelmischen Frage herantreten konnte, war zwischen ihnen schon ohne Worte, ohne Erklärungen entschieden; Gott weiß, wieso das geschehen war, man konnte darauf aber nicht mehr zurückkommen.

»Warum lassen Sie sich so lange nicht sehen?« fragte sie.

Er schwieg. Er wollte sie wieder irgendwie indirekt verstehen lassen, daß der heimliche Zauber ihrer Beziehungen verschwunden sei, daß diese Abgeschlossenheit, mit der sie sich wie mit einer Wolke umgeben hatte, auf ihm laste, es war, als hätte sie sich in sich selbst[708] zurückgezogen, und er wußte nicht, was er zu tun und wie er sich ihr gegenüber zu benehmen hatte. Doch er fühlte, daß die geringste Andeutung darauf in ihr einen erstaunten Blick hervorrufen würde, dann würde ihr Benehmen noch kälter werden und jener Funke von Teilnahme, den er gleich am Anfang so unvorsichtig ausgelöscht hatte, würde vielleicht endgültig verschwinden. Er mußte ihn still und unmerklich anfachen, doch er wußte nicht im entferntesten, wie er das anfangen sollte. Er begriff dunkel, daß sie gewachsen und jetzt größer war als er, daß es von jetzt ab zur kindlichen Vertraulichkeit keine Rückkehr mehr gab, daß sie vor dem Rubikon standen, daß das verlorene Glück sich schon auf dem andern Ufer befand; man mußte ihn überschreiten. Aber wie? Und was, wenn er diesen Schritt allein machte? Sie begriff klarer als er, was in ihm vorging, und war darum im Vorteil. Sie blickte offen in seine Seele, sah, wie darin ein Gefühl aufkeimte, wie es sich entwickelte und äußerte; sie sah, daß weibliche List, Schelmerei und Koketterie – Sonitschkas Waffen – hier überflüssig waren, da kein Kampf bevorstand. Sie sah sogar, daß ihr trotz ihrer Jugend in dieser Sympathie die erste und wichtigste Rolle zufiel, daß von ihm nur tiefe Eindrücke, leidenschaftlich träge Fügsamkeit und ewige Harmonie mit jedem ihrer Pulsschläge, aber keine Regung des Willens, kein aktiver Gedanke zu erwarten war. Sie hatte ihre Macht über ihn im Augenblick abgeschätzt, und ihr gefiel diese Rolle eines Leitsterns, eines Lichtstrahls, den sie über diesen stehenden See ausströmte, um sich darin widerzuspiegeln. Sie hatte in diesem Zweikampf verschiedenartige Triumphe errungen. In dieser Komödie oder Tragödie, je nach den Umständen, erscheinen die beiden Hauptpersonen fast immer mit dem gleichen Charakter des Quälers oder der Quälenden und des Opfers. Wie jede Frau in der Hauptrolle, das ist in der Rolle der Quälenden, konnte sich auch Oljga, nur im geringeren Maße und unbewußt, nicht das Vergnügen versagen, mit ihm ein wenig katzenhaft[709] zu spielen; manchmal entströmte ihr wie ein Blitz, wie eine unerwartete Laune die Äußerung des Gefühls, und dann zog sie sich plötzlich wieder zurück und vertiefte sich in sich selbst. Aber noch häufiger stieß sie ihn vorwärts, da sie wußte, daß er selbst keinen Schritt machen und unbeweglich dort bleiben würde, wo sie ihn zurückließ.

»Hatten Sie zu tun?« fragte sie, an einem Kanevasstreifen stickend.

Ich würde sagen, daß ich zu tun hatte, aber dieser Sachar! stöhnte es in seiner Brust.

»Ja, ich habe einiges gelesen«, gab er nachlässig zur Antwort.

»Was denn, einen Roman?« fragte sie und richtete auf ihn die Augen, um zu sehen, mit welchem Gesichte er lügen würde.

»Nein, ich lese fast gar keine Romane«, antwortete er sehr ruhig, »ich habe ›Die Geschichte der Entdeckungen und Erfindungen‹ gelesen.«

Gott sei Dank, daß ich heute eine Seite überflogen habe! dachte er.

»Russisch?« fragte sie.

»Nein, englisch.«

»Sie lesen englisch?«

»Mit Mühe, aber ich lese doch. – Waren Sie nicht irgendwo in der Stadt?« fragte er, hauptsächlich, um das Gespräch über die Bücher abzubrechen.

»Nein, ich war die ganze Zeit zu Hause. Ich arbeite immer hier, in dieser Allee.«

»Immer hier?«

»Ja, diese Allee gefällt mir sehr; ich danke Ihnen dafür, daß Sie sie mir gezeigt haben; es geht hier fast niemand vorüber ...«

»Ich habe sie Ihnen nicht gezeigt«, unterbrach er sie, »erinnern Sie sich noch? Wir sind hier einander zufällig begegnet.«

»Ja, in der Tat

Sie schwiegen.[710]

»Ist Ihr Gerstenkorn ganz vergangen?« fragte sie, ihm geradeaus ins rechte Auge blickend.

Er errötete.

»Jetzt ist es, Gott sei Dank, vergangen.«

»Netzen Sie das Auge mit einfachem Wein, wenn es zu jucken beginnt, dann vergeht das Gerstenkorn. Meine Kinderfrau hat es mich gelehrt.«

Warum spricht sie immer von den Gerstenkörnern? dachte Oblomow.

»Und essen Sie abends nicht?« fügte sie ernst hinzu.

Sachar! stieg in seiner Kehle ein wütender Ausruf auf.

»Sowie man abends viel ißt«, fuhr sie fort, ohne die Augen von der Arbeit zu heben, »und drei Tage liegt, besonders auf dem Rücken, dann kommt sicher ein Gerstenkorn.«

Dummkopf! rief Oblomow in seinem Innern Sachar zu.

»Was arbeiten Sie?« fragte er, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

»Einen Klingelzug für den Baron«, sagte sie, den Kanevasstreifen aufrollend und ihm das Muster zeigend. »Ist es schön?«

»Ja, sehr schön, das Muster ist sehr hübsch. Das ist ein Fliederzweig?«

»Ich glaube ... ja«, sagte sie nachlässig. »Ich habe das Muster aufs Geratewohl gewählt, es ist mir zufällig unter die Hand gekommen ...« Sie errötete ein wenig und rollte den Streifen schnell wieder zusammen.

Das wird aber sehr langweilig, wenn es so weitergeht und man aus ihr nichts herauskriegen kann, dachte er, ein anderer, zum Beispiel Stolz, würde es herauskriegen, ich aber kann's nicht.

Er runzelte die Stirn und blickte schläfrig um sich. Sie blickte ihn an und legte dann ihre Arbeit ins Körbchen.

»Gehen wir bis zum Hain«, sagte sie, gab ihm das Körbchen zu tragen, öffnete selbst ihren Schirm, richtete sich das Kleid und ging.[711]

»Warum sind Sie traurig?« fragte sie.

»Ich weiß nicht, Oljga Sjergejewna. Warum soll ich fröhlich sein, und wie

»Arbeiten Sie, kommen Sie öfter mit Menschen zusammen!«

»Man kann nur dann arbeiten, wenn man ein Ziel hat. Was hab' ich für ein Ziel? Ich hab' keins.«

»Ist leben kein Ziel?«

»Wenn man nicht weiß, wozu man lebt, lebt man nur irgendwie, einen Tag wie den anderen; man freut sich, daß ein Tag vergangen ist, daß die Nacht angebrochen ist und daß man die langweilige Frage, wozu man diesen Tag gelebt hat und wozu man morgen leben wird, im Schlaf vergessen kann.«

Sie hörte schweigend und streng blickend zu; in den gerunzelten Brauen verbarg sich etwas Düsteres, um die Linien des Mundes glitt halb Mißtrauen und halb Verachtung, wie eine Schlange ...

»Wozu man gelebt hat!« wiederholte sie. »Kann denn irgendeine Existenz überflüssig sein?«

»Ja. Zum Beispiel die meinige.«

»Wissen Sie noch immer nicht, worin das Ziel Ihres Lebens liegt?« fragte sie, stehenbleibend. »Ich glaube nicht daran; Sie verleumden sich; sonst würden Sie nicht würdig sein zu leben ...«

»Ich habe die Stelle schon versäumt, wo das Leben sich befinden soll, und vor mir gibt es nichts mehr.«

Er seufzte und sie lächelte.

»Nichts mehr?« wiederholte sie, aber jetzt lebhaft, lustig, lachend, als glaubte sie ihm nicht und als sähe sie etwas vor ihm.

»Lachen Sie«, fuhr er fort, »es ist aber so!«

Sie ging langsam, mit gesenktem Kopf weiter.

»Wofür, für wen werde ich leben?« sprach er, ihr folgend, »was soll ich suchen, worauf soll ich meine Gedanken und Wünsche richten? Die Blüte des Lebens ist verwelkt, es sind nur die Dornen geblieben.«

Sie gingen langsam; sie hörte zerstreut zu, pflückte[712] im Vorübergehen einen Fliederzweig und reichte ihn ihm, ohne ihn anzublicken.

»Was ist das?« fragte er verblüfft.

»Sie sehen ja, ein Zweig.«

»Was für ein Zweig?« fragte er, sie mit weit offenen Augen anblickend.

»Ein Fliederzweig.«

»Ich weiß ... aber was bedeutet er?«

»Die Blüte des Lebens ... und ...«

Er blieb stehen, sie auch.

»Und? ...« wiederholte er fragend.

»Meinen Ärger«, sagte sie, ihm mit ernsten Augen geradeaus ins Gesicht blickend, und ihr Lächeln sagte, daß sie wußte, was sie tat.

Die Wolke der Unnahbarkeit hatte sie verlassen. Ihr Blick war beredt und verständlich. Es war, als hätte sie absichtlich eine bestimmte Seite des Buches aufgeschlagen und als erlaubte sie ihm, die geheimgehaltene Stelle zu lesen.

»Ich darf also hoffen ...«, sagte er plötzlich, freudig aufflammend.

»Auf alles! Aber ...«

Sie schwieg. Er war plötzlich wie ausgewechselt. Und jetzt erkannte sie ihrerseits Oblomow nicht wieder; sein gleichgültiges, umflortes Gesicht verwandelte sich plötzlich, die Augen öffneten sich; Röte stieg in seine Wangen; die Gedanken kamen in Bewegung; in den Augen leuchteten Wünsche und Wollen auf. Sie las deutlich in diesem stummen Mienenspiel, daß Oblomow jetzt plötzlich ein Lebensziel erlangt hatte.

»Das Leben, das Leben steht mir wieder offen!« sprach er wie im Fieber, »hier ist es, in Ihren Augen, in Ihrem Lächeln, in diesem Zweig, in Casta diva ... alles ist darin ...«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht alles ... nur die Hälfte.«

»Die beste.«

»Vielleicht«, sagte sie.[713]

»Wo wäre denn das andere? Was bliebe denn noch übrig?«

»Suchen Sie

»Wozu?«

»Um die erste nicht zu verlieren«, sprach sie zu Ende, reichte ihm die Hand, und sie gingen nach Hause.

Er warf entzückte und heimliche Blicke auf ihr Köpfchen, auf ihre Gestalt und ihre Haare und preßte den Zweig krampfhaft zusammen.

»Ein neues Leben, neue Hoffnungen«, sprach er sinnend und glaubte sich selbst nicht.

»Übersiedeln Sie nicht auf die Wiborgskajastraße?« fragte sie, als er sich seinem Hause zuwandte.

Er lachte und nannte Sachar nicht einmal einen Tölpel.

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 693-714.
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