Erstes Kapitel

[602] Stolz war nur zur Hälfte, dem Vater nach, ein Deutscher; seine Mutter war eine Russin; auch war er griechisch-katholischer Konfession; seine Muttersprache war Russisch; er hatte sie von der Mutter und aus Büchern, im Hörsaal der Universität und während der Spiele mit Dorfjungen, im Gespräche mit deren Vätern und auf den Moskauer Märkten gelernt. Die deutsche Sprache hatte er teilweise vom Vater geerbt und teilweise sich auch aus Büchern angeeignet. Stolz wuchs im Flecken Werchljowo auf, in dem sein Vater Verwalter war, und wurde dort erzogen. Mit acht Jahren saß er mit dem Vater über eine geographische Karte gebeugt, buchstabierte an Wieland, an Herder, an biblischen Versen herum und addierte die unorthographischen Rechnungen der Bauern, Kleinbürger und Fabrikarbeiter. Mit der Mutter las er die Heilige Schrift, lernte die Fabeln von Krilow und buchstabierte den »Telemak«. Wenn er vom Buche loskam, lief er mit Dorfjungen Vogelnester zerstören, und manchmal ertönte während des Unterrichtes oder des Betens aus seiner Tasche das Piepsen von jungen Dohlen. Es kam auch vor, daß, wenn der Vater nachmittags im Garten unter einem Baume saß und seine Pfeife rauchte und die Mutter an irgendeiner Jacke nähte oder auch Kanevas stickte, von der Straße plötzlich Lärm und Geschrei hereindrang und ein ganzer Volkshaufen ins Haus stürzte.

»Was ist los?« fragte die erschrockene Mutter.

»Wahrscheinlich bringt man wieder Andrej«, antwortete kaltblütig der Vater.

Die Tür wird aufgerissen, und eine ganze Menge, aus[602] Bauern, Bäuerinnen und Dorfjungen bestehend, dringt in den Garten ein. Sie haben wirklich Andrej gebracht – aber in welchem Zustande! Ohne Stiefel, in zerrissenen Kleidern, und entweder hat er oder irgendein anderer Knabe eine zerschlagene Nase. Die Mutter war immer voller Unruhe, wenn sie Andrjuscha für einen halben Tag verschwinden sah, und hätte der Vater ihr nicht ausdrücklich verboten, ihn irgendwie daran zu hindern, würde sie ihn immer um sich gehabt haben. Sie wusch ihn, wechselte ihm Wäsche und Kleider, und Andrjuscha ging einen halben Tag lang als ein reiner, wohlerzogener Knabe herum, aber gegen Abend oder auch gegen Morgen brachte ihn wieder irgend jemand verschmiert, zerzaust und unkenntlich zurück, oder die Bauern führten ihn auf einem Heuwagen nach Hause, oder er kam endlich mit den Fischern in einem Boote, auf einem Netze schlafend. Die Mutter brach in Tränen aus, aber der Vater lachte nur.

»Das wird ein tüchtiger Bursch, ein tüchtiger Bursch!« sagte er manchmal.

»Hab doch ein Einsehen, Iwan Bogdanitsch«, klagte sie, »es vergeht kein Tag, ohne daß er mit einem blauen Fleck zurückkehrt, und neulich hat er sich die Nase blutig geschlagen.«

»Was wäre er denn für ein Kind, wenn er weder sich noch andern jemals die Nase zerschlagen hätte?« sagte der Vater lachend.

Die Mutter weint und weint, setzt sich dann ans Klavier und sucht in Herzschen Kompositionen Vergessenheit. Ihre Tränen tropfen eine nach der anderen auf die Tasten. Doch jetzt kommt Andrjuscha oder wird von anderen geführt; er beginnt so lebhaft, so lustig zu erzählen, daß er auch sie zum Lachen bringt, und außerdem ist er so verständig! Er wird den »Telemak« bald ebenso wie sie lesen und wird mit ihr vierhändig spielen.

Einmal verschwand er für eine ganze Woche; die Mutter weinte sich die Augen aus, der Vater aber blieb ruhig, ging im Garten herum und rauchte.[603]

»Wenn Oblomows Sohn verschwunden wäre«, beantwortete er den Vorschlag der Frau, Andrej zu suchen, »würde ich das ganze Dorf und die Polizei auf die Beine gebracht haben, Andrej aber kommt wieder. O, er ist ein tüchtiger Bursch!«

Am nächsten Tage fand man Andrej ruhig schlafend in seinem Bette, und auf dem Fußboden lagen ein fremdes Gewehr und ein Pfund Pulver und Schrot.

»Wohin bist du verschwunden? Woher hast du das Gewehr genommen?« bestürmte ihn die Mutter mit Fragen. »Warum schweigst du denn?«

»So!« war die einzige Antwort.

Der Vater fragte, ob er die Übersetzung von Cornelius Nepos ins Deutsche fertig habe.

»Nein«, antwortete er.

Der Vater packte ihn mit der einen Hand beim Kragen, führte ihn zum Tore hinaus, setzte ihm seinen Hut auf und stieß ihn von rückwärts so mit dem Fuße, daß er ihn zum Fallen brachte.

»Geh zurück, woher du kamst«, fügte er hinzu, »und kehre mit der Übersetzung, jetzt nicht mehr von einem, sondern von zwei Kapiteln zurück, und lerne außerdem für die Mutter die Rolle aus der französischen Komödie, die sie dir aufgegeben hat; ohne alles das darfst du dich nicht wieder zeigen!«

Andrej kam in einer Woche zurück, brachte die Übersetzung mit und konnte die Rolle.

Als er größer wurde, setzte ihn der Vater zu sich auf seinen kleinen Wagen, gab ihm die Leine und befahl ihm, in die Fabrik, dann in die Felder, in die Stadt zu den Kaufleuten und zu den Amtsgebäuden zu fahren, oder er gab ihm irgendeinen Lehm zu riechen, den er auf den Finger streute, roch, manchmal leckte und auch den Sohn riechen ließ, und dabei erklärte er ihm, was für eine Sorte es sei und wozu man sie verwenden könne. Oder sie gingen sich ansehen, wie Pottasche oder Teer gewonnen und wie Schmalz zerlassen wird. Mit vierzehn, fünfzehn Jahren begab sich der Knabe oft allein zu[604] Wagen oder zu Pferd, mit einer Tasche am Sattel, im Auftrage des Vaters in die Stadt, und es kam nie vor, daß er irgend etwas vergaß, anders ausrichtete, übersah oder einen Fehler beging. »Recht gut, mein lieber Junge!« sagte der Vater, nachdem er seinen Bericht angehört hatte, und gab ihm, ihn mit der breiten Handfläche auf die Schulter klopfend, zwei, drei Rubel, je nach der Wichtigkeit des Auftrages. Die Mutter wusch dann lange den Ruß, den Schmutz, den Lehm und das Schmalz von Andrjuscha herunter.

Sie war mit dieser praktischen Erziehung zur Arbeit nicht ganz einverstanden. Sie fürchtete, ihr Sohn würde ein ebensolcher deutscher Bürger werden wie die, von denen sein Vater abstammte. Sie sah die ganze deutsche Nation für einen Haufen von Kleinbürgern an und liebte nicht die Grobheit, Selbständigkeit und den Hochmut, mit denen die deutsche Menge überall ihre durch ein Jahrtausend ausgearbeiteten Bürgerrechte vorzeigte, ebenso wie eine Kuh Hörner trägt, die sie nicht rechtzeitig zu verstecken weiß. Ihrer Ansicht nach gab es in der ganzen deutschen Nation keinen einzigen Gentleman und konnte es auch keinen geben. Sie kannte im deutschen Charakter keine Weichheit, kein Zartgefühl und keine Nachsicht, nichts, was das Leben in besseren Kreisen so angenehm macht, womit man irgendeine Regel umgehen, eine herrschende Sitte aufheben und sich dem allgemeinen Gesetze widersetzen kann. Nein, diese Flegel stürmen auf einen los und berufen sich darauf, was sie einmal abgemacht und was sie sich in den Kopf gesetzt haben, und sind bereit, die Mauer mit dem Kopfe einzurennen, um nur nach ihren Regeln zu handeln. Sie hatte in einem reichen Hause als Erzieherin gelebt und Gelegenheit gehabt, im Auslande zu sein und ganz Deutschland zu durchreisen; sie reihte alle Deutschen in ein Heer von Kommis, Handwerkern, Kaufleuten, kerzengeraden Offizieren mit Soldatengesichtern und Beamten mit Alltagsgesichtern ein, die alle kurze Pfeifen rauchten und durch die Zähne ausspuckten, die[605] nur für schwere Arbeit, für mühsamen Gelderwerb, für die schablonenhafte Ordnung, für die langweilige Regelmäßigkeit des Lebens und die pedantische Erfüllung der Pflichten taugten; all diese Bürger mit den eckigen Manieren, mit den großen, groben Händen, mit der vulgären Frische des Gesichtes und mit der groben Rede. Wie man den Deutschen auch aufputzen mag, dachte sie, – was für ein feines und weißes Hemd er auch anzieht: wenn er Lackschuhe und sogar gelbe Handschuhe trägt, scheint er doch aus Schusterleder geschnitten zu sein; aus den weißen Manschetten schauen immer die rauhen und rötlichen Hände hervor, und in dem eleganten Anzuge steckt, wenn nicht ein Bäcker, so doch zumindest ein Büfettier. Diese rauhen Hände scheinen nach einem Pfriemen oder höchstens nach einem Bogen im Orchester zu verlangen. Und ihr schwebt für ihren Sohn das Ideal eines Aristokraten vor; obwohl er ein Parvenü, der Abkömmling eines Bürgers ist, ist er doch auch der Sohn einer russischen Edelfrau und ist ein weißer, wunderschön gebauter Knabe, mit so kleinen Händen und Füßen, mit reinem Teint, mit einem klaren, klugen Blicke, wie sie es in reichen, russischen Häusern und auch im Auslande, aber natürlich nicht bei Deutschen, gesehen hat. Und plötzlich sollte er fast selbst Mühlsteine drehen, von den Fabriken und Feldern, ebenso wie sein Vater, voller Fett und Dünger, mit roten, schmutzigen, schwieligen Händen und einem Wolfshunger zurückkehren! Sie schnitt Andrjuscha schnell die Nägel, brannte ihm die Locken, nähte ihm elegante Kragen und Vorhemden, bestellte für ihn in der Stadt Röcke, lehrte ihn, den sinnenden Tönen von Herz zu lauschen, sang ihm von Blumen, von der Poesie des Lebens, flüsterte ihm von einer glänzenden Laufbahn bald eines Kriegers, bald eines Schriftstellers zu, träumte mit ihm von dem hohen Beruf, der manchem zuteil wird ... Und diese ganze Perspektive sollte durch das Klappern des Rechenbrettes, durch das Entziffern der schmierigen Bauernrechnungen, durch den Umgang mit[606] Fabrikarbeitern zerstört werden! Sie begann sogar den Wagen, in dem Andrjuscha in die Stadt fuhr, den Gummimantel, den der Vater ihm geschenkt hatte, und die grünen Handschuhe aus rauhem Leder zu hassen – alle diese groben Attribute eines der Arbeit gewidmeten Lebens. Unglücklicherweise lernte Andrjuscha vorzüglich, und der Vater machte ihn zum Hilfslehrer in seinem kleinen Pensionat. Das wäre noch das wenigste gewesen; aber er setzte ihm, wie einem Handwerksburschen, nach echt deutscher Art ein Gehalt fest: er bekam zehn Rubel monatlich und mußte das durch seine Unterschrift bestätigen.

Tröste dich, gute Mutter, dein Sohn ist auf russischem Boden aufgewachsen – nicht in der Alltagsmenge mit bürgerlichen Kuhhörnern, mit Mühlsteine bewegenden Händen. In der Nähe war Oblomowka. Dort war ein ewiger Feiertag! Dort wurde die Arbeit wie ein Joch von den Schultern abgeschüttelt; dort stand der gnädige Herr nicht beim Morgengrauen auf und ging nicht in die Fabriken an den mit Fett beschmierten Rädern und Federn vorbei. Und in Werchljowo selbst stand ein den größten Teil des Jahres geschlossenes, leeres Haus, doch der lebhafte Knabe ging oft hinein und sah dort lange Säle, Galerien und an den Wänden dunkle Porträte, auf denen keine vulgäre Frische und keine großen, rauhen Hände abgebildet waren, er sah dunkelblaue Augen, gepudertes Haar, verzärtelte weiße Gesichter, volle Busen, zarte, blaugeäderte Hände in flatternden Manschetten, die stolz auf dem Griff des Degens ruhten; er sah eine Reihe von Geschlechtern, die in Brokat, Sammet und Spitzen, in edlem Nichtstun und in Wohlleben einander abgelöst hatten. Er studierte in diesen Gesichtern die Geschichte der ruhmvollen Zeiten, die Schlachten und Namen; er las darin von den alten Zeiten, aber ganz anders, als der Vater ihm, die Pfeife rauchend und spuckend, hundertmal vom Leben in Sachsen zwischen Rüben und Kartoffeln, zwischen Markt und Gemüsegarten erzählt hatte.[607]

Einmal in drei Jahren füllte sich dieses Schloß plötzlich mit Menschen; dann herrschte darin sprühendes Leben, es gab Feste und Bälle, und in den langen Galerien funkelten des Abends Lichter. Es kamen der Fürst, die Fürstin und ihre Familie. Der Fürst war ein grauhaariger Greis mit einem verblichenen, pergamentfarbigen Gesicht, mit trüben Glotzaugen und einer großen Glatze, er hatte drei Orden, eine goldene Tabatiere, eine Gerte mit einem Saphirgriff und Sammetstiefel. Die Fürstin flößte durch ihre Schönheit, ihren Wuchs und Umfang Ehrfurcht ein, es schien, niemand wäre jemals nahe an sie herangetreten und hätte sie umarmt und geküßt, nicht einmal der Fürst, trotzdem sie fünf Kinder hatte. Sie schien über jener Welt zu stehen, in welche sie einmal in drei Jahren herabstieg; sie sprach mit niemand und fuhr nirgends hin, sondern saß mit drei alten Frauen im grünen Eckzimmer und ging zu Fuß durch den Garten über die gedeckte Galerie in die Kirche hinein und setzte sich dort hinter einem Wandschirm auf einen Sessel.

Dafür gab es im Hause außer dem Fürsten und der Fürstin eine ganze, so lustige und lebendige Welt, daß Andrjuscha mit seinen grünen Kinderaugen in drei, vier verschiedene Sphären auf einmal blickte und mit seinem wachen Verstande gierig und unbewußt die Typen dieser verschiedenartigen Menge, die an die bunten Erscheinungen eines Maskenballes erinnerten, beobachtete. Da gab es die Fürsten Pierre und Michel, von denen der erstere Andrjuscha sofort darüber belehrte, wie der Zapfenstreich bei der Infanterie und bei der Kavallerie geblasen würde, welche Säbel und Sporen die Husaren und die Dragoner hatten, welche Farbe die Pferde jedes Regimentes haben mußten und wohin man nach dem Lernen eintreten konnte, ohne sich Schande zu machen. Der zweite, Michel, stellte Andrjuscha, sowie er mit ihm bekannt geworden war, in Positur und begann sonderbare Sachen mit den Fäusten zu machen, mit denen er ihn bald in die Nase und bald in den Bauch traf, was, wie er[608] dann sagte, englisches Boxen hieß. Nach drei Tagen hatte Andrej ihm nur auf Grund seiner ländlichen Frische und mit Hilfe seiner muskulösen Hände, ohne jede Wissenschaft, nach der englischen und russischen Methode die Nase zerschlagen, was ihm in den Augen beider Fürsten zu großer Autorität verhalf. Es gab noch zwei Komtessen, große, schlanke, elegant gekleidete Mädchen von elf und zwölf Jahren, die mit niemand sprachen, niemand grüßten und die sich vor den Bauern fürchteten. Sie hatten eine Gouvernante, Mademoiselle Ernestine, welche zu Andrjuschas Mutter Kaffee trinken kam und sie lehrte, ihm Locken zu machen. Sie ergriff manchmal seinen Kopf, legte ihn auf ihren Schoß und wickelte das Haar auf Papier, so daß es heftig schmerzte; oft faßte sie ihn mit ihren weißen Händen an beiden Wangen und küßte ihn so freundlich! Dann gab es dort einen Deutschen, der Tabatieren und Knöpfe auf einer Drehbank drechselte, außerdem einen Musiklehrer, der von einem Sonntag bis zum andern trank, dann ein ganzes Regiment von Stubenmädchen und endlich ein Rudel von großen und kleinen Hunden. Das alles erfüllte das Haus und das Dorf mit Lärm, Trubel, Schreien, Klopfen und Musik.

Einerseits Oblomowka, andererseits das Fürstenschloß mit dem breiten Fluß des herrschaftlichen Lebens stießen mit dem deutschen Element zusammen, und Andrjuscha wurde nicht zu einem deutschen Burschen und nicht einmal zu einem Philister.

Andrjuschas Vater war Agronom, Technologe und Lehrer. Bei seinem Vater nahm er praktischen Unterricht in der Landwirtschaft, studierte in sächsischen Fabriken Technik und erwarb sich auf der nächsten Universität, wo es an vierzig Professoren gab, das Recht, das zu unterrichten, was die vierzig Weisen ihm, so gut es ging, auseinandergesetzt hatten. Er ging aber nicht weiter, sondern kehrte eigensinnig um, nachdem er beschlossen hatte, daß er etwas leisten müsse, und kam zum Vater zurück. Dieser gab ihm hundert Taler und eine neue[609] Reisetasche und schickte ihn in die weite Welt. Seitdem hatte Iwan Bogdanitsch weder die Heimat noch den Vater wiedergesehen. Er wanderte sechs Jahre lang in der Schweiz und Österreich herum, und jetzt lebte er seit zwanzig Jahren in Rußland und segnete sein Schicksal.

Er hatte die Universität besucht und infolgedessen beschlossen, auch sein Sohn müsse sie besuchen, wenn es auch keine deutsche Universität war, und obwohl eine russische Universität im Leben seines Sohnes eine Umwälzung hervorbringen und ihn von jenem Pfad, den der Vater im Geiste dem Sohne bahnen wollte, weit entfernen mußte. Er war dabei sehr einfach vorgegangen; er hatte den Lebensweg des Großvaters genommen und ihn wie mit einem Lineal bis zum Enkel verlängert, ohne zu ahnen, daß die Variationen von Herz, die Träume und Erzählungen der Mutter, die Galerie und das Boudoir im fürstlichen Schlosse den schmalen deutschen Pfad in eine so große Straße verwandeln würden, wie sie weder sein Großvater, sein Vater, noch er selbst je auch nur im Traume geschaut hatten. Übrigens war er in dieser Beziehung kein Pedant und würde auf seinem Plan nicht bestanden haben; er vermochte nur eben seinem Sohne keinen anderen Weg vorzuzeichnen.

Er kümmerte sich wenig darum. Als sein Sohn von der Universität zurückgekehrt war und drei Monate zu Hause gelebt hatte, sagte er ihm, es wäre für ihn in Werchljowo nichts mehr zu tun, man hätte sogar Oblomow nach Petersburg geschickt, es wäre folglich auch für ihn Zeit, hinzufahren. Der Alte gab sich keine Rechenschaft darüber, warum er nach Petersburg mußte und nicht in Werchljowo bleiben konnte, um ihm bei der Gutsverwaltung zu helfen; er erinnerte sich nur daran, daß, als er selbst mit dem Lernen fertig war, der Vater ihn von sich fortgeschickt hatte. Auch er schickte den Sohn fort, so war es in Deutschland Sitte. Die Mutter war nicht mehr auf der Welt, und niemand widersprach ihm.[610]

Am Tage der Abreise gab Iwan Bogdanitsch dem Sohn hundert Rubel.

»Reite in die Gouvernementsstadt«, sagte er, »dort bekommst du von Kalinnikow dreihundertfünfzig Rubel und läßt ihm das Pferd. Sollte er aber kein Geld haben, dann verkaufe das Pferd; es ist dort bald Jahrmarkt, da gibt man dir sofort vierhundert Rubel dafür. Um nach Moskau zu kommen, brauchst du vierzig Rubel, von dort aus nach Petersburg fünfundsiebzig; es bleibt dir noch genug. Dann tu, was du willst. Du hast mit mir gearbeitet, du weißt folglich, daß ich ein kleines Kapital besitze; rechne aber vor meinem Tode nicht darauf, und ich werde wohl noch zwanzig Jahre leben, wenn mir nicht zufällig ein Stein auf den Kopf fällt. Das Lämpchen brennt noch hell, und es ist viel Öl darin. Du hast eine gute Bildung genossen, dir steht alles offen, du kannst dem Staate dienen, Kaufmann werden oder sogar dichten; ich weiß nicht, was du dir wählst und wozu du die meiste Lust fühlst ...«

»Ich werde sehen, ob ich das alles nicht auf einmal tun kann«, sagte Andrej.

Der Vater lachte, so laut er konnte, und begann den Sohn so auf die Schulter zu schlagen, daß selbst ein Pferd es nicht ausgehalten hätte. Andrej machte sich aber nichts daraus.

»Nun, und wenn du selbst nicht fertig wirst, wenn du dir deinen Weg nicht gleich finden kannst, einen guten Rat brauchst und jemand fragen willst, dann geh zu Reinhold hin; er wird dir helfen. Oh!« fügte er hinzu, indem er die Finger in die Höhe hob und mit dem Kopf wackelte, »das ... das ist ...« (er wollte loben und fand keinen Ausdruck). »Wir sind zusammen aus Sachsen gekommen. Er hat ein vierstöckiges Haus. Ich werde dir die Adresse nennen ...«

»Das ist nicht nötig, nenne sie mir nicht«, unterbrach ihn Andrej, »ich gehe dann zu ihm hin, wenn ich selbst ein vierstöckiges Haus besitze, und jetzt werde ich auch ohne ihn auskommen.«[611]

Ein erneutes Klopfen auf die Schulter.

Andrej sprang aufs Pferd. Am Sattel hingen zwei Taschen, in der einen lag der Gummimantel und waren schwere mit Nägeln beschlagene Stiefel und ein paar Hemden aus Werchljower Leinwand zu sehen – lauter Sachen, die er auf Wunsch des Vaters hin gekauft und mitgenommen hatte; in der zweiten Tasche lagen ein eleganter Frack aus feinem Tuch, ein haariger Überzieher, ein Dutzend feiner Hemden und Schuhe, die er zur Erinnerung an die Ratschläge der Mutter in Moskau bestellt hatte.

»Nun!« sagte der Vater.

»Nun!« sagte der Sohn.

»Hast du alles?« fragte der Vater.

»Alles!« antwortete der Sohn.

Sie blickten einander schweigend an, als wollten sie sich gegenseitig mit den Augen durchdringen.

Unterdessen hatte sich ein Häufchen neugieriger Nachbarn angesammelt, die mit offenem Munde zusahen, wie der Verwalter seinen Sohn in die Fremde fortschickte. Vater und Sohn drückten einander die Hand. Andrej ritt in schnellem Schritte fort. »Wie der junge Hund ist; er hat keine einzige Träne vergossen!« sagten die Nachbarn. »Da sitzen zwei Krähen auf dem Zaun und krächzen, soviel sie können; sie bringen ihm Unglück, wart nur!« – »Was können ihm die Krähen anhaben? Er treibt sich in der Johannisnacht allein im Walde herum; ihnen macht das alles nichts, Brüder. Bei einem Russen würde das nicht so gut ablaufen!« – »Und der alte Heide macht's auch gut!« bemerkte eine Mutter, »er hat ihn wie eine junge Katz auf die Straße hinausgeworfen, hat ihn nicht umarmt und hat nicht geweint!«

»Halt, halt! Andrej!« schrie der Alte.

Andrej hielt das Pferd auf.

»Ah! Das Herz hat wohl gesprochen!« sagte man beifällig in der Menge.

»Nun?« fragte Andrej.

»Der Sattelgurt ist zu lose, du mußt ihn fester zusammenziehen.«[612]

»Ich werde ihn in Ordnung bringen, wenn ich nach Schamschewka komme. Ich darf jetzt keine Zeit verlieren, ich muß, bevor es dunkel wird, ankommen.«

»Nun!« sagte der Vater, die Hand schwenkend.

»Nun!« wiederholte der Sohn, mit dem Kopfe nickend, neigte sich nach vorne und gab dem Pferde die Sporen.

»Ach, die Hunde, das sind wahre Hunde! Wie Fremde!« sagten die Nachbarn.

Plötzlich ertönte in der Menge ein lautes Weinen; irgendeine Frau hatte nicht länger an sich halten können.

»Ach, du mein Väterchen!« jammerte sie, sich mit einem Zipfel ihres Kopftuches die Augen wischend, »du arme Waise! Du hast keine Mutter, es ist niemand da, der dich segnet ... Laß mich, ich werde dich bekreuzigen, du mein Lieber! ...«

Andrej ritt an sie heran, sprang vom Pferde herab, umarmte die Alte, wollte dann weiterreiten – und weinte plötzlich auf, während sie ihn bekreuzigte und küßte. Er glaubte in diesen Worten die Stimme der Mutter zu hören, und ihr zartes Bild erstand auf einen Augenblick vor ihm. Er umarmte noch einmal fest die Frau, wischte sich schnell die Tränen ab und sprang aufs Pferd. Er schlug es auf die Seiten und verschwand in einer Staubwolke; ihm stürzten verzweifelt drei Hofhunde von zwei verschiedenen Richtungen nach und bellten lange.

Quelle:
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Zürich 1960, S. 602-613.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Oblomow
Oblomow

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.

112 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon