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[670] Oblomow hatte inmitten seines trägen Liegens in bequemen Stellungen, inmitten des dumpfen Hindämmerns und des begeisterten Aufschwunges seiner Seele immer von der Frau als der Gattin, niemals aber als der Geliebten geträumt. In seiner Phantasie schwebte die Gestalt einer großen, schlanken Frau, mit ruhig auf der Brust gekreuzten Armen, mit einem stillen, aber stolzen Blick, sie saß nachlässig inmitten von Schlingpflanzen in der Allee oder schritt leicht über den Teppich oder den Sand der Allee hin mit sich wiegender Taille, mit einem graziös auf den Schultern sitzenden Kopf, mit sinnendem Ausdruck – als ein Ideal, als eine Verkörperung des ganzen Lebens, das von Zärtlichkeit und feierlicher Ruhe erfüllt ist, als die Ruhe selbst. Er sah sie im Traume zuerst ganz in Blumen, mit einem langen Schleier am Altar, dann mit schamhaft gesenkten Augen am Kopfende des Ehebettes, endlich als Mutter, inmitten einer Kindergruppe. Er sah auf ihren Lippen ein leidenschaftsloses Lächeln, das für ihn, ihren Gatten, Sympathie bedeutete und allen anderen gegenüber Nachsicht ausdrückte; ihr Blick war nicht feucht von Wünschen, er war nur dann wohlwollend, wenn er sich ihm zuwandte, allen anderen gegenüber aber war er schamhaft und selbst streng. Er wollte in ihr niemals ein Beben sehen, sie niemals bei einem heißen Traum, bei plötzlichem Weinen, Sehnen, bei Ermattung und dann bei einem wilden Übergang zur Freude überraschen. Sie durfte nicht plötzlich erbleichen, in Ohnmacht fallen, erschütternde Gefühlsausbrüche erleiden ... »Solche[671] Frauen haben Liebhaber«, sagte er, »und sie verursachen große Unannehmlichkeiten; man muß den Arzt holen, sie ins Bad schicken und eine Menge verschiedener Launen erfüllen. Man kann nicht ruhig schlafen! Aber man schläft ruhig neben einer stolzen, schamhaften, ruhigen Gefährtin. Man schläft ruhig mit der Gewißheit ein, beim Erwachen demselben sanften, sympathischen Blick zu begegnen.« Und sein warmer Blick würde auch nach zwanzig, dreißig Jahren demselben sanften, still leuchtenden Strahl der Sympathie in ihren Augen begegnen. Und so bis zum Grab! Ist es denn nicht das heimliche Ziel eines jeden, im geliebten Menschen den unwandelbaren Ausdruck von Ruhe, das ewige, gleichmäßige Strömen des Gefühls zu sehen? Das ist ja die Norm der Liebe, und sowie wir von ihr abweichen, sie verändern und sie abkühlen, leiden wir, folglich ist mein Ideal das allgemein menschliche! dachte er. Ist das nicht die Vollendung, die Klarlegung der Beziehungen der Geschlechter? Der Leidenschaft einen gesetzmäßigen Ausgang zu eröffnen; ihr wie einem Fluß zum besten eines ganzen Landes den Lauf vorzuzeichnen, das ist eine Aufgabe, welche die allgemeine Wohlfahrt zum Ziele hat, das ist der Gipfel des Fortschrittes, dem alle Vordermänner zustreben, aber den sie nicht zu erreichen vermögen. Wenn diese Aufgabe gelöst ist, gibt es keinen Verrat, keine Abkühlung mehr, dann beginnt das ewig gleichmäßige Schlagen des ruhigen, glücklichen Herzens, folglich auch ein wenig inhaltreiches Leben, das einen ewigen Zufluß an Säften erhält, und eine ewige moralische Gesundheit. Es gibt Beispiele eines solchen Glückes, sie sind aber selten, und man weist auf dieselben als auf ein Phänomen hin. Man sagt, man muß dazu geboren sein. Und wer weiß, ob man dazu nicht erzogen werden und es nicht bewußt anstreben kann? ... Die Leidenschaft! Das alles ist nur in Gedichten und auf der Bühne schön, wo die Schauspieler in Gewändern mit Dolchen herumspazieren, und wo dann die Gemordeten und die Mörder zusammen Abendbrot essen ... Es wäre gut, wenn auch[672] die Leidenschaften so endeten, es bleibt aber gewöhnlich Rauch und Gestank zurück, und das Glück kommt nicht! Und bei den Erinnerungen daran schämt man sich nur und möchte sich das Haar ausreißen. Wenn man aber doch von einem solchen Unglück, von der Leidenschaft, betroffen wird, ist es, wie wenn man auf eine schlechte, bergige, unfahrbare Straße gerät, auf der die Pferde fallen und der Insasse ermattet, während der Heimatort schon in Sicht ist; man darf ihn nicht aus dem Auge lassen und muß so schnell als möglich aus der gefährlichen Stelle herauszukommen suchen ... »Ja, die Leidenschaft muß in der Heimat eingedämmt, erstickt und ertränkt werden.«
Er wäre entsetzt vor der Frau geflohen, die ihn mit dem Blick versengt hätte oder die aufgestöhnt hätte und mit geschlossenen Augen auf seine Schulter gesunken wäre, um dann nach Wiedererlangung der Besinnung seinen Hals zum Ersticken mit den Armen zu umschlingen ... Das ist ein Feuerwerk, die Explosion eines Pulverfasses; und was folgt dann? Betäubung, Verblendung und versengtes Haar!
Wollen wir uns aber betrachten, was für ein Wesen Oljga war.
Lange Zeit, nachdem ihm das Bekenntnis entschlüpft war, blieben sie nicht mehr unter vier Augen. Er versteckte sich wie ein Schulknabe, sowie er Oljga erblickte. Sie hatte ihr Benehmen ihm gegenüber verändert, mied ihn aber nicht und war auch nicht kalt, sie erschien nur nachdenklicher. Es hatte den Anschein, als bedauerte sie, daß etwas vorgefallen war, das sie daran hinderte, Oblomow durch den auf ihn gerichteten neugierigen Blick zu quälen und gutmütig über sein Liegen, seine Trägheit und Ungeschicklichkeit zu spotten ... In ihr erwachte die Lust zu necken; das war aber die Neckerei einer Mutter, die beim Anblicke einer komischen Kleidung ihres Sohnes ein Lächeln nicht unterdrücken kann. Stolz war verreist, und sie langweilte sich, weil sie niemand vorsingen konnte; ihr Klavier blieb geschlossen,[673] mit einem Worte, sie waren beide befangen, von Fesseln belastet und fühlten sich unbehaglich. Und wie schön es anfangs gewesen war. Wie einfach sie Bekanntschaft geschlossen, wie frei sie sich einander genähert hatten! Oblomow war einfacher und gutmütiger als Stolz, wenn er sie auch nicht so zum Lachen brachte, oder er tat es durch seine eigene Person und verzieh so leicht ihren Spott. Außerdem übergab Stolz beim Abreisen Oblomow ihrer Obhut und bat sie, ihn zu beaufsichtigen und am Zuhausesitzen verhindern. In ihrem klugen, hübschen Köpfchen hatte sich schon ein eingehender Plan entwickelt, wie sie Oblomow den Nachmittagsschlaf abgewöhnen würde; sie würde ihm nicht nur das Schlafen, sondern sogar das Liegen auf dem Sofa bei Tag verbieten; sie wollte ihm das Versprechen abnehmen. Sie malte sich aus, wie sie ihm die Bücher, die Stolz zurückgelassen hatte, zu lesen befehlen würde, dann müßte er täglich die Zeitungen lesen und ihr die Neuigkeiten erzählen, in das Dorf Briefe schicken, den Plan der Einrichtung des Gutes zu Ende schreiben, sich zur Reise ins Ausland vorbereiten – mit einem Worte, sie würde ihn nicht einschlafen lassen; sie wollte ihn auf ein Ziel hinweisen, alles das, was er zu lieben aufgehört hatte, wieder lieben machen, und Stolz würde ihn bei der Rückkehr nicht wiedererkennen. Und das ganze Wunder würde sie vollziehen, die so schüchtern und schweigsam war, der bis jetzt niemand gehorcht hatte und die erst zu leben begann! Sie würde die Urheberin einer solchen Verwandlung sein! Diese hatte schon begonnen; sie hatte nur zu singen gebraucht, und Oblomow war schon ganz anders ... Er würde leben, arbeiten und das Leben und sie segnen. Einen Menschen dem Leben zurückgeben! Welcher Ruhm erwartet den Arzt, wenn er einen hoffnungslosen Kranken rettet! Und sie würde einen Geist und eine Seele, die zugrunde gingen, retten! ... Sie erbebte vor Stolz und Freude und hielt es für eine Aufgabe, die ihr vom Himmel bestimmt war. Sie hatte ihn in Gedanken schon zu ihrem Sekretär und Bibliothekar[674] gemacht. Und das alles sollte plötzlich aufhören! Sie wußte nicht, was sie tun sollte, und schwieg darum, wenn sie mit Oblomow zusammenkam.
Oblomow quälte sich mit dem Gedanken ab, daß er sie erschreckt und beleidigt hatte, erwartete drohende Blicke und kühle Strenge, zitterte, wenn er sie sah, und ging ihr aus dem Wege. Unterdessen war er schon aufs Land übergesiedelt und irrte drei Tage lang allein über die Hügel, durch den Sumpf und im Walde herum, oder er ging ins Dorf, saß träge an einem Bauernhaus und sah zu, wie die Kinder und die Kälber herumliefen und wie die Enten im Teich herumplätscherten. Neben dem Landhaus befanden sich ein See und ein großer Park, doch er fürchtete sich hinzugehen, um Oljga nicht allein anzutreffen. Wie ich nur so herausplatzen konnte! dachte er und fragte sich gar nicht, ob er die Wahrheit gesagt hatte oder ob das nur die momentane Wirkung der Musik auf seine Nerven war. Das Gefühl der Unbehaglichkeit und Beschämung, die von ihm begangene »Schandtat«, wie er sich ausdrückte, hinderte ihn daran, zu analysieren, was für ein Gefühlsausbruch das war und was Oljga überhaupt für ihn bedeutete. Er versuchte es nicht mehr, sich klarzumachen, daß in sein Herz etwas Neues hineingekommen war, ein Klümpchen, das sich früher nicht darin befunden hatte. Alle seine Gefühle hatten sich in ein einziges Gefühl, das der Scham, verwandelt. Wenn sie aber für Augenblicke seiner Phantasie erschien, erstand darin auch die andere Gestalt, jenes Ideal der verkörperten Ruhe und des Lebensglückes: Dieses Ideal war genau wie Oljga! Beide Gestalten näherten sich einander immer mehr und verschmolzen in eine einzige. »Ach, was ich angestellt habe!« sagte er, »ich habe alles zerstört! Gott sei Dank, daß Stolz verreist ist; sie hat nicht Zeit gehabt, es ihm zu erzählen, sonst müßte ich in die Erde sinken! Liebe, Tränen – wie paßt denn das zu mir! Auch Oljgas Tante schickt niemand zu mir herüber und ladet mich nicht ein; sie hat es ihr gewiß gesagt ... O Gott! ...« So dachte[675] er, sich in die Tiefe des Parkes, in irgendeine Seitenallee versteckend.
Oljga kam nur bei dem Gedanken an die Begegnung in Verlegenheit, wie dieses Ereignis ablaufen würde. Würden sie schweigen, als ob nichts geschehen wäre, oder mußte sie ihm etwas sagen? Und was sollte sie sagen? Sollte sie eine strenge Miene annehmen, ihn stolz anblicken oder auch gar nicht anblicken und hochmütig und trocken bemerken, daß sie »ihm eine solche Handlungsweise niemals zugemutet hätte! Für wen er sie wohl halte, da er sich eine solche Frechheit erlaubt habe? ...« So hatte Sonitschka während der Mazurka irgendeinem Fähnrich geantwortet, trotzdem sie sich selbst mit allen Kräften bestrebt hatte, ihm den Kopf zu verdrehen. Warum ist denn das frech? fragte sie sich. Und wenn er wirklich so fühlt, warum soll er es dann nicht sagen? ... Aber wie war es möglich, so plötzlich, kaum daß er sie kennengelernt hatte ... Das würde sonst niemand gesagt haben, nachdem er ein Mädchen zum zweiten- oder drittenmal gesehen hat; auch niemand würde so schnell Liebe empfinden. Das war nur Oblomow imstande ... Doch sie dachte daran, daß sie gehört und gelesen hatte, die Liebe käme manchmal plötzlich. Das war bei ihm eine Aufwallung, ein Ausbruch; er läßt sich jetzt nicht blicken; er schämt sich; folglich ist es keine Frechheit. Und wessen Schuld war es? dachte sie weiter. Natürlich Andrej Iwanowitschs, denn er hatte sie zum Singen gebracht. Aber Oblomow hatte anfangs nicht zuhören wollen – sie ärgerte sich und sie ... gab sich Mühe ... (sie errötete heftig) – ja sie wendete ihre ganze Kraft an, um ihn aufzurütteln. Stolz hatte ihr gesagt, er wäre apathisch, nichts interessiere ihn und alles in ihm wäre erloschen. Da wollte sie sehen, ob alles erloschen wäre, und sie sang, sie sang ... wie noch nie ... »Mein Gott! es ist ja meine Schuld; ich werde ihn um Verzeihung bitten ... Was soll er mir aber verzeihen?« fragte sie sich dann, »was werde ich ihm sagen: Herr Oblomow, ich bin schuldig, ich habe Sie verführt ...[676] Welche Schande! Das ist nicht wahr!« sagte sie errötend und mit dem Fuße stampfend. »Wer wagt das zu denken? ... Habe ich denn gewußt, was dabei herauskommen wird? Und wenn das nicht geschehen, wenn es ihm nicht entschlüpft wäre ... was dann? ...« fragte sie. Ich weiß nicht ... dachte sie. Seit dem Tage ist es ihr so seltsam ums Herz ... sie ist wohl sehr gekränkt ... es wird ihr sogar ganz heiß, und auf ihren Wangen glühen zwei rosige Flecken ... »Gereiztheit ... leichtes Fieber«, sagt der Arzt. Was dieser Oblomow angestellt hat! Oh, er muß eine ordentliche Lehre bekommen, damit das in Zukunft nicht mehr vorkommt! Ich werde ma tante ersuchen, ihm das Haus zu verbieten; er darf sich nicht vergessen ... wie er es nur gewagt hat! dachte sie, im Park herumgehend; ihre Augen leuchteten.
Plötzlich hörte sie jemand kommen.
Jemand kommt ... dachte Oblomow.
Und sie stießen aufeinander.
»Oljga Sjergejewna!« sagte er, wie ein Espenblatt zitternd.
»Ilja Iljitsch!« antwortete sie schüchtern, und beide blieben stehen.
»Guten Tag!« sagte er.
»Guten Tag!« erwiderte sie.
»Wohin gehen Sie?« fragte er.
»Nur so ...« antwortete sie, ohne die Augen zu heben.
»Störe ich Sie?«
»O nicht im geringsten ...« gab sie zur Antwort, ihn rasch und neugierig anblickend.
»Darf ich mitgehen?« fragte er plötzlich, ihr einen forschenden Blick zuwerfend.
Sie schritten schweigend die Allee entlang. Weder das Lineal des Lehrers, noch die gefurchten Brauen des Direktors hatten Oblomows Herz so wie jetzt klopfen gemacht. Er wollte sich dazu zwingen, etwas zu sagen, aber die Worte wollten ihm nicht von der Zunge; nur sein Herz schlug auf eine unglaubliche Weise, wie vor einem Unglück.[677]
»Haben Sie einen Brief von Andrej Iwanowitsch erhalten?« fragte sie.
»Ja, ich habe einen erhalten.«
»Was schreibt er?«
»Er ruft mich nach Paris.«
»Und was tun Sie?«
»Ich fahre hin.«
»Wann?«
»Jetzt gleich ... nein, morgen ... sowie ich fertig bin.«
»Warum so bald?« fragte sie.
Er schwieg.
»Gefällt Ihnen die Landwohnung nicht, oder ... sagen Sie, warum wollen Sie verreisen?«
Diese Frechheit! Er will noch verreisen! dachte sie.
»Mir ist es so weh, so unbehaglich zumute, etwas brennt mich ...« flüsterte Oblomow, ohne sie anzublicken.
Sie schwieg. Dann pflückte sie einen Fliederzweig und roch daran, sich die Nase und das Gesicht bedeckend.
»Riechen Sie, wie das duftet!« sagte sie und bedeckte auch seine Nase.
»Und da sind Maiglöckchen! Warten Sie, ich werde welche pflücken«, sagte er, sich über das Gras beugend, »sie riechen besser nach Feld und Wald; es ist mehr Natur in ihnen. Und der Flieder wächst immer bei den Häusern, die Zweige kriechen förmlich zum Fenster hinein, und ihr Duft ist zu süßlich. Auf den Maiglöckchen ist der Tau noch nicht getrocknet.«
Er reichte ihr ein paar Blüten.
»Und lieben Sie Reseda?« fragte sie.
»Nein, das riecht zu stark; ich liebe weder Reseda noch Rosen. Ich liebe überhaupt keine Blumen; im Feld geht es noch an, aber im Zimmer machen sie so viel Schererei ... und man hat gleich Kehricht ...«
»Und Sie lieben, daß es in den Zimmern rein ist?« fragte sie, ihn schelmisch anblickend. »Sie vertragen keinen Kehricht?«
»Ja; aber ich habe einen solchen Diener ...« murmelte er. O die Böse! fügte er im stillen hinzu.[678]
»Reisen Sie direkt nach Paris?« fragte sie.
»Ja; Stolz erwartet mich längst.«
»Bringen Sie ihm einen Brief von mir mit; ich werde ihm schreiben.«
»Geben Sie ihn mir heute; ich übersiedle morgen in die Stadt.«
»Morgen?« fragte sie, »warum so schnell? Es ist, als ob jemand Sie fortjagte.«
»Es ist auch so ...«
»Wer denn?«
»Die Scham ...« flüsterte er.
»Die Scham!« wiederholte sie mechanisch. Jetzt werde ich ihm sagen: Herr Oblomow, ich hätte es nie erwartet.
»Ja, Oljga Sjergejewna«, brachte er endlich heraus. »Sie wundern sich gewiß ... und zürnen ...«
Jetzt ist es Zeit ... das ist der richtige Moment. Ihr Herz klopfte. Ich kann nicht, o Gott!
Er bemühte sich, ihr ins Gesicht zu blicken und zu erfahren, wie sie sich ihm gegenüber verhielt; aber sie roch an den Maiglöckchen und am Flieder und wußte selbst nicht, was mit ihr war ... was sie sagen, was sie tun sollte. Ach, Sonitschka würde sich gleich etwas ausgedacht haben, und ich bin so dumm! Ich kann gar nichts ... dachte sie gequält.
»Ich habe ganz vergessen«, sagte sie.
»Glauben Sie mir, es war gegen meinen Willen ... ich konnte nicht an mich halten ...« begann er, sich allmählich mit Mut wappnend. »Wenn es damals gedonnert hätte, wenn ein Stein auf mich herabgefallen wäre, ich hätte es doch gesagt. Ich konnte es mit allen meinen Kräften nicht zurückhalten ... Um Gottes willen, glauben Sie nicht, daß ich ... Ich selbst hätte nach einem Augenblick Gott weiß was darum gegeben, um das unvorsichtige Wort ungesagt zu machen ...«
Sie ging mit gesenktem Kopfe weiter und roch an den Blumen.
»Vergessen Sie es«, fuhr er fort, »vergessen Sie es, um so mehr, als es nicht wahr ist ...«[679]
»Es ist nicht wahr?« wiederholte sie, plötzlich sich aufrichtend, und ließ die Blumen fallen.
Ihre Augen öffneten sich weit, und darin leuchtete Erstaunen auf ...
»Wieso ist es nicht wahr?« wiederholte sie nochmals.
»Ja, um Gottes willen, zürnen Sie nicht und vergessen Sie es. Ich versichere Sie, es war nur ein Ausbruch eines Augenblicks ... Das hat die Musik verursacht ...«
»Nur die Musik! ...«
Sie wechselte die Farbe; die beiden rosigen Flecken verschwanden und die Augen erloschen.
Es ist also nichts! Jetzt hat er das unvorsichtige Wort zurückgenommen und ich brauche ihm nicht zu zürnen! ... Es ist gut ... jetzt kann ich ruhig sein ... Ich kann wie bisher sprechen und scherzen ... dachte sie und riß im Vorübergehen heftig einen Zweig vom Baume herab, pflückte mit den Lippen ein Blatt herunter und warf dann sogleich den Zweig und das Blatt auf den Sand hin.
»Sie zürnen nicht? Sie haben vergessen?« sagte Oblomow, sich zu ihr herabbeugend.
»Ja, was ist denn? Was bitten Sie?« antwortete sie, erregt und fast ärgerlich sich von ihm abwendend. »Ich habe alles vergessen ... ich bin so gedächtnisschwach!«
Er schwieg und wußte nicht, was er tun sollte. Er sah nur den plötzlichen Ärger, ohne die Ursache entdecken zu können.
Mein Gott! dachte sie, jetzt ist alles wieder in Ordnung; jene Szene ist wie ausgelöscht, Gott sei Dank! Nun also ... Ach du mein Gott! Was ist denn das? Ach, Sonitschka, Sonitschka! wie glücklich bist du!
»Ich gehe nach Hause«, sagte sie plötzlich, ihren Schritt beschleunigend und in eine andere Allee einbiegend.
Ihr stiegen Tränen zum Hals hinauf. Sie fürchtete, sie würde aufweinen.
»Nicht so, hier ist es näher«, bemerkte Oblomow. Dummkopf, sprach er traurig zu sich selbst, wozu habe ich mich erklären müssen! Jetzt habe ich sie noch mehr[680] gekränkt. Ich hätte sie nicht daran erinnern sollen; es wäre auch so wieder gut geworden, und sie hätte es von selbst vergessen. Jetzt ist nichts zu machen, ich muß mir ihre Verzeihung erbitten.
Ich ärgere mich wohl deshalb, dachte sie, weil ich nicht den richtigen Moment benützt habe, ihm zu sagen: Herr Oblomow, ich hätte niemals erwartet, daß Sie sich so etwas erlauben ... Er ist mir zuvorgekommen ... »Es ist nicht wahr«! So etwas, er hat also noch gelogen! Nein, wie hat er das wagen können?
»Haben Sie es wirklich vergessen?« fragte er leise.
»Ich habe vergessen, ich habe alles vergessen!« sagte sie schnell und beeilte sich nach Hause zu kommen.
»Reichen Sie mir zum Zeichen dessen, daß Sie nicht zürnen, die Hand.«
Sie streckte ihm, ohne ihn anzublicken, die Fingerspitzen hin und zog, sowie er diese berührte, die Hand zurück.
»Nein, Sie zürnen!« sagte er seufzend. »Wie soll ich Sie davon überzeugen, daß es nur eine augenblickliche Stimmung war, daß ich mir nicht erlaubt hätte, mich so zu vergessen ...? Nein, jetzt ist es aus, ich werde Ihrem Gesang nicht mehr zuhören ...«
»Bemühen Sie sich nicht; ich brauche Ihre Versicherungen nicht ...« sagte sie lebhaft. »Ich werde selbst nicht mehr singen!«
»Gut, ich schweige, aber gehen Sie um Gottes willen nicht so fort, sonst bleibt auf meiner Seele ein Stein zurück ...«
Sie verlangsamte ihren Schritt und begann seinen Worten gespannt zu lauschen.
»Wenn es wahr ist, daß Sie geweint hätten, wenn mir nach Ihrem Gesang jener Ausruf nicht entschlüpft wäre, dann erbarmen Sie sich, Oljga Sjergejewna! Wenn Sie jetzt so fortgehen, ohne mir zuzulächeln und mir freundschaftlich die Hand zu reichen ... werde ich krank sein, meine Knie zittern, ich halte mich mit Mühe aufrecht ...«
»Warum?« fragte sie plötzlich, ihn anblickend.
»Das weiß ich selbst nicht«, sagte er, »die Scham ist[681] jetzt bei mir vergangen; ich schäme mich meines Wortes nicht ... mir scheint, darin ...«
Es wurde ihm wieder seltsam ums Herz; er fühlte darin wieder etwas Neues; ihr freundlicher, neugieriger Blick sengte ihn wieder. Sie wandte sich so graziös zu ihm um und erwartete so unruhig die Antwort.
»Was ist ›darin‹?« fragte sie ungeduldig.
»Nein, ich fürchte mich, es zu sagen, Sie werden wieder böse sein.«
»Sprechen Sie!« sagte sie befehlend.
Er schwieg.
»Nun?«
»Ich will wieder weinen, wenn ich Sie anblicke ... Sehen Sie, ich bin nicht eitel, ich schäme mich nicht meines Herzens ...«
»Warum wollen Sie denn weinen?« fragte sie sanft, und auf ihren Wangen erschienen wieder zwei rosige Flecken.
»Ich höre immer Ihre Stimme ... ich fühle wieder ...«
»Was?« sagte sie, und die Tränen strömten von ihrer Brust wieder zurück; sie wartete gespannt.
Sie näherten sich der Freitreppe.
»Ich fühle ...« beeilte sich Oblomow hinzuzufügen und blieb stehen.
Und sie stieg langsam, wie mit Mühe, die Stufen hinauf.
»Dieselbe Musik ... dieselbe Erregung ... dasselbe Gef ... – verzeihen Sie, verzeihen Sie – bei Gott, ich kann mit mir nicht fertig werden ...«
»Herr Oblomow ...« begann sie streng, dann erhellte der Strahl eines Lächelns ihr Gesicht, »ich bin nicht böse, ich verzeihe«, fügte sie weich hinzu, »aber in Zukunft ...«
Sie streckte ihm, ohne sich umzuwenden, nach rückwärts die Hand hin; er erfaßte sie und küßte die Handfläche, sie preßte leise seine Lippen zusammen und sprang wie der Blitz in die Glastüre hinein, während er wie eine Bildsäule stehenblieb.
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Oblomow
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