Zwanzigstes Kapitel

[344] Des Spruches Folgen


Vreneli war von den seltenen Weibern, welche regieren und gehorchen können, beides am rechten Orte, das sind rare Vögel. Es lief nicht umher wie ein Kiebitz, wenn er einen Frosch sieht, mit schrecklichem Geschrei: »Was soll ich machen? Was soll ich machen?« und machte am Ende von allem, was man ihm angab, das Gegenteil, damit die Welt merke, wer da regiere und Meister sei. Es regierte auch nicht von vornenherein in die Kreuz und in die Quer und fuhr nachher, wenn alles krumm kam, herum um Rat wie eine Katze, welcher man Nußschalen an die Tälpchen oder Glöcklein an den Schwanz gebunden. Diese Sorten von Weibern sind weniger rar. Vreneli war es weder um eine törichte Erhebung seiner Person zu tun, noch war es von einer törichten Selbstverblendung besessen, welche so rasch in trostlose Ratlosigkeit übergeht. Vreneli war es um die Sache zu tun; es besaß die Klarheit des Geistes, zu erkennen den besten Rat, die Selbstüberwindung, ihn da mit Dank zu nehmen, wo es ihn fand, und die Kraft, ihn mit Energie, als ob er in ihm selbst entstanden, durchzuführen.

Uli mochte am andern Morgen wirklich nicht aufstehen, lag in einer Abspannung, welcher Vreneli keinen Namen zu geben wußte. Der Doktor ward berufen, sah den Zustand lange an und sagte endlich, er wisse nicht recht, wo das hinaus wolle, er wolle etwas geben und ein oder zwei Tage die[344] Wirkung abwarten. Es war der gleiche Arzt, zu welchem die Base ihr Zutrauen gehabt und es auf Vreneli vererbt hatte. Joggeli konnte ihn aber durchaus nicht leiden, er behauptete immer, derselbe habe seine Frau getötet, aber sie sei selbst schuld gewesen, hätte sie einen andern gebraucht, so hätte sie noch bis zum jüngsten Tag leben können. Sobald der Arzt fort war, kam Joggeli dahergesteckelt und frug, was es gegeben, daß der wieder da sei? Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte ihn nicht mehr sehen müssen. Er erschrak sehr, als er hörte, Uli sei im Bett und gar nicht zweg, der Doktor wisse noch nicht recht, wo die Sache hinaus wolle, die Krankheit habe den entscheidenden Charakter noch nicht angenommen. Das glaube er, sagte Joggeli, das wisse der noch nicht, aber lang könne man warten, bis es ihm in Sinn komme. Man werde doch nicht wollen den brauchen, der verstehe sich auf das Wasser nicht, sehe es kaum einmal an, verstehe sonst nichts; wenn man es begehre, so wolle er es Lürlipeter sagen, daß er komme; wenn man den nur höre, so dünke es einem, es habe schon gebessert, so verstehe der die Sache darzutun und könne exakt sagen, wo es fehle. Joggeli hatte sehr Angst, nicht sowohl wegen Uli, sondern wegem Gelde, plagte daher Vreneli sehr, bald mit dem Gelde und bald mit dem Arzte. Dazu hetzten ihn der Tochtermann und teilweise auch der Sohn auf. Er sehe ja, daß das nicht gehe, er solle machen, daß die Schuld nicht zu groß werde, sonst habe er das leere Nachsehen. Was er dem Bodenbauer versprochen, war vergessen, und was Vreneli jetzt für eine Zeit hatte, das kümmerte ihn nicht, denn Vetter Joggeli hatte sich nie in die Lage eines Andern gedacht, zum Mitleiden war er nicht geschaffen.

Vreneli hatte viel auf den Schultern, sehr viel; eine Menge Arbeiten mußten rasch gemacht werden, um den Boden einigermaßen noch zu benutzen und den Schaden zu verkleinern, dazu schlechtes Gesinde, Uli in einem hülflosen Zustande,[345] zu welchem der Arzt den Kopf schüttelte, ein Nervenfieber hatte ihn erfaßt. Wenn man ihm zuvorkommen möchte, sagte der Arzt zwar, habe er diese Wendung so ungern nicht, viel lieber, als wenn es sich ihm ins Gemüt verschlagen hätte. Bei solchen Krankheiten merke der Arzt, wie alles Wissen Stückwerk sei; gar wundersam seien leibliche und geistige Zustände in einander verflochten; diese Verschlingungen zu verfolgen, gebe es keine Brille, man möge deren nehmen, von welcher Sorte man wolle. Zu diesem allem immer den nachsteckelnden Joggeli mit seinem Gestürm wegen Lürlipeter und wegen dem Gelde. Vreneli ertrug ihn mit großer Geduld, aber endlich wußte es sich nicht mehr zu helfen und schrieb dem Bodenbauer.

Der kam und wusch Joggeli tapfer den Kopf, zahlte ihm zugleich auch den Rückstand. »Aber jetzt plaget mir die Frau nicht mehr, das ist eine, die Hosen anhat und tüchtiger ist als mancher Mann. Wenn unser Herrgott einem Menschen Unglück geordnet hat, so sind die andern Menschen nicht dafür da, daß sie nun auch auf ihn losfahren und ihm vollends den Garaus machen, sondern um Geduld zu haben und nach Kräften zu helfen.« Zugleich suchte er mit Joggeli wegen dem Hagelschaden in Beziehung auf den laufenden Zins zu unterhandeln. Ehe eine Hagelversicherungsanstalt da war, stund in den meisten Pachtakkorden ein Artikel, welcher das Verhältnis bestimmte, nach welchem Pächter und Pachtherr den etwaigen Hagelschaden tragen sollten. Jetzt übergeht man entweder diesen Punkt ganz, der Pachtherr überläßt dem Pächter, zu versichern oder nicht, kümmert sich dann aber um den etwaigen Schaden nicht, oder aber es wird bestimmt, daß man versichern solle, und ein Beitrag des Pachtherrn zu den Versicherungsgeldern bestimmt. So etwas stund auch im Akkord auf der Glungge. Aber nun hatte Joggeli zu Uli gesagt: »Sei doch nicht ein[346] Tropf und versichere, was willst du für die zahlen, welche alle Jahre verhagelt werden? Es hagelt ja nie hier. Wenn du zehn Jahre zusammenlegst, was es dich in die Kasse jährlich kosten würde, so kannst du ruhig im eilften hageln lassen, und vielleicht hagelt es die nächsten fünfzig Jahre noch nicht.« Uli gefiel das, er hatte das Geld nötig, behielt daher gerne den Kreuzer und vergaß den Taler, der dadurch gefährdet war. Er dachte nicht an die Hälfte, welche Joggeli an die Kasse zahlen mußte, und nicht daran, Joggeli zu fragen: »Und wenn es dann hagelt, tragt Ihr mit die Hälfte des Schadens?« Auch der Bodenbauer als Bürge hatte vergessen, dar, nach zu fragen. Er wußte, was im Akkord stund, und hielt Beide für gescheut genug, den Artikel zu erfüllen. Er war erschrocken, als er hörte, wie es stund, und ging nun hinter Joggeli. Joggeli gab, als er den Rückstand eingestrichen hatte, den besten Bescheid, aber keinen einläßlichen. Das werde sich schon machen, wenn es um das Zahlen zu tun sei, könne man dann sehen, jetzt wüßte man ja noch nicht einmal recht, wie groß der Schade sei. »Wie teuer, Vetter,« frug der Bodenbauer, »wollt ihr das Übriggebliebene?« »Bin nicht kauflustig,« sagte Joggeli, »was sollte ich damit machen?«

Mit Uli stund es bedenklich, er war tagelang verirret, wie man zu sagen pflegt und was auf dem Lande gewöhnlich als ein sicheres Zeichen eines hoffnungslosen Zustandes angesehen wird. Er lag bewußtlos in Fiebern und sprach gar seltsame Sachen, daß denen, welche es hörten, ganz bange war, denn besonders viel hatte er mit dem Teufel zu tun und den Züchtigungen, welche er ihm antat. Wenn nun Vreneli den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war, sich fast allgegenwärtig gemacht hatte, daß oft ein Knechtlein oder eine Magd sagte: »Die Donners Frau, ist die schon wieder da! Wenn die nicht schon eine Hexe ist, so wird sie eine, zählt darauf!«, so saß es des Nachts an Ulis Bett und wachte.[347]

Das sind schwere, bedeutsame Stunden, welche ein Weib am Bette ihres Gatten, der zwischen Leben und Tod in der Schwebe liegt, durchwacht. Das Geräusch des Tages ist verstummt, das Ab- und Zugehen hat aufgehört, das Schaffen und Befehlen hat ein Ende; das wachende Weib ist ungestört und alleine beim kranken Manne, über ihnen ist Gott, wohl ihnen, wenn er auch zwischen ihnen ist. Ist der Mann seiner Lage sich bewußt, so werden es Stunden der Heiligung, sie gleichen den Stunden in den Tagen der ersten Liebe; was das Herz bewegt, geht über die Zunge, man freut sich in weicher Rührung der schönen vergangenen Tage, dankt sich für Liebe und Treue, Geduld und Sanftmut, bespricht die gegenwärtige Lage, und wenn das Weib jammert um die Zukunft, das Schicksal der Witwen und Waisen, die Not einer Mutter mit Kindern ohne Vater, so tröstet der Mann, gibt weise Räte und stärkt des Weibes Gemüte, indem er sie dem Allmächtigen empfiehlt, dem Vater der Witwen und Waisen. Wenn sie betet um sein Leben und daß dieser Kelch an ihr vorübergehen möchte, so sagt er Amen dazu, »doch nicht unser, sondern dein Wille geschehe.« Das sind heilige Nächte, wie auf Engelsflügeln schweben sie vorüber.

Aber anders ists, wenn im Irrsinn der Mann liegt, das Weib alleine ist, seine Gedanken ihm niemand abnimmt als Gott. Auch vor sein Auge stellt sich sein ganzes Leben, das vergangene, das gegenwärtige, das zukünftige, und klarer jede Nacht; immer mehr schwinden die Schatten, es wird ein großes lebendiges Lebensbild. Süße Wehmut, schöne Träume, bitteres Weinen, geduldiges Ergeben, mutvolles Erheben wechseln in des einsamen Weibes Seele. Die Bilder, welche erst regellos durcheinanderfluteten, gestalten sich in immer festeren Zügen und bestimmter Ordnung, immer klarer bildet sich aus der Gegenwart die Zukunft. Auch dieses Weib fleht: »Ists möglich, so gehe der Kelch an mir vorüber,[348] doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!« Aber weil des Herrn Wille ihm nicht offenbar ist, bildet sich vor seinem innern Auge die Zukunft in doppelter Weise. Es sieht sich Hand in Hand mit dem Manne durchs Leben gehen, es trägt in den nächsten Tagen ihn zum Grabe, steht alleine mit den Waisen, muß alleine sie führen ins Leben, sie stärken zum Leben. Wie dunkle, schwere Gewitterwolken wälzen sich diese Bilder anfänglich an seinem Auge vorüber; aber allmählich klären sie sich ab, gestalten bestimmter sich, gleichförmiger, nur aber schöner jede Nacht, gestalten zu bestimmten Entschlüssen sich, zu einem Leben, den Gedanken eines Malers ähnlich, in denen er ein Bild feststellt, in großen Umrissen zuerst und allmählich von Gestalt zu Gestalt bis zur Ausprägung der einzelnen Züge, an dessen Ausführung er Jahre, ja sein Leben setzt.

Man hat oft bewundert, mit welcher klaren Umsicht und großen Energie Witwen die Zügel großer Haushaltungen faßten und führten, wie ernst und fest sie ihre Kinder erzogen, wie mächtig sie dem Schmerze geboten, der doch sichtlich ihren Körper schüttelte. Wer dabeigewesen wäre in jenen stillen, langen Nächten, gesehen hätte, wie sie mit ihrem Schmerze, wir möchten fast sagen, mit Gott gerungen hätten, bis sie zu der Kraft und Klarheit gekommen, welche sie üben bis zum Grabe, durch welche sie hineinglänzen in das Andenken der Ihren wie Sterne in die Nacht, der würde sich nicht wundern, woher ihnen das Wesen gekommen, welches niemand in ihnen ahnte, welches so segensvoll wirkte. Doch auch in einer andern Richtung bildet die Seele, schafft eigentliche Lebensbilder: sie denkt in Wehmut, wenn Gott den Geliebten ihr wieder schenke, wie sie Beide ein neues Leben führen wollten in mildem Frieden, teuer Liebe, wie alle Schatten fort müßten aus dem Leben, alles Trübe, alles Zagen, alles Kümmern um Kleines, wie sie schaffen wollten in[349] aller Freudigkeit ihr Tagewerk, absonderlich aber trachten nach dem Einen, das not tut. Heitere Bilder folgen einander in längerer Reihe, glänzen immer heller, je mehr die Krankheit weicht, das Leben aus der Krankheit wieder emporblüht, werden trüber und trüber, wenn die Krankheit steigt; wenn der Tod kommt, erblassen sie, werden begraben im Gemüte, der wahren Familiengruft, in welcher die geliebten Toten geistig weilen bis zum Wiedersehen.

Manche solche stille, lange Nacht wachte Vreneli an Ulis Bette, war versunken in tiefe Gedanken oder horchte mit blutendem Herzen auf die Irreden des Mannes. Mehr als eine Woche kam es nicht aus den Kleidern, wollte trotz des Doktors Befehl niemanden anders wachen lassen, aus Liebe, aus Bangen, was die Leute denken und sagen würden, wenn sie Ulis Reden hörten. Von Irreden haben die Menschen keinen Begriff, kennen zumeist nur einen Grund derselben, das böse Gewissen, das Aufwachen der Angst über geheime Verbrechen. Was hätten sie gedacht und gesagt von Uli, der immer mit dem Teufel zu tun hatte, am Ort der Qual sich glaubte!

Eines Abends wars, als ob der Arzt nicht fort könnte vom Bette, er nahm eine Prise nach der andern, endlich kehrte er sich um, stäubte den Schnupftabak von den Kleidern und sagte: »Fraueli, wenn es was geben sollte in der Nacht, so laß mich rufen.« »Mein Gott, Doktor, was meint Ihr? Stirbt er mir, stirbt er?« wimmerte Vreneli. »Kann es dir nicht sagen,« antwortete der Arzt, »aber endlich muß es einen Weg gehen, den oder diesen, so kann es nicht bleiben, die Zeit ist um, wo es sich entscheiden soll; vielleicht, daß es diese Nacht geschieht, und schaden tut es nichts, wenn der Arzt nicht weit ist, manchmal kann man helfen, manchmal nicht, manchmal kann man Diener der Natur sein, manchmal muß man es nehmen, wie Gott es will.«

»Guten Tag, Fraueli, guten Tag, geschlafen ein wenig? Es[350] ist kein Wunder! Wie gehts? Mit Schein nicht bös,« Diese leisen, freundlichen Worte weckten Vreneli, welches vom Schlafe überwältigt worden war. Hochauf fuhr es vom Stuhle, es war helle im Stübchen; der Arzt, den die Teilnahme unberufen hergetrieben, stund am Bette und prüfte den Kranken. »Mein Gott, mein Gott!« rief Vreneli. Da legte der Arzt den Finger auf den Mund, winkte Vreneli vom Bette weg durch die Türe in die andere Stube und sagte leise: »Fraueli, er kömmt dir auf, die Sache ist gut, jetzt schläft er ruhig, schwitzt recht, jetzt nur nicht geredet.« Vreneli wollte laut auffahren, bachweise strömten ihm die Tränen über die Backen nieder. »Bsch, bsch,« machte der Arzt, »geh und mache mir ein Kaffee. Nehme sonst nichts bei den Patienten, sie meinten gleich, man wolle den Lohn doppelt. Aber ich möchte ihn erwachen sehen und hatte noch nichts diesen Morgen. Z'pressieren hast nicht, es wird noch eine Weile gehen; will unterdessen in den Stall, sehen, wie du haushast, und deine Knechte rühmen oder schelten, je nachdem sie es verdienen. Ein fremd Wort wirkt manchmal, zuweilen nehmen sie es einem übel, aber was frage ich den Hudelbuben nach!« Vreneli mußte wieder ins Stübchen, bevor es des Arztes Befehl nachkam. Was es dort machte, weiß Gott.

Der Arzt trappete mit den Händen in den Taschen ums Haus herum und las dem Dienstbotenpersonal in seiner barschen, aber heitern Weise tüchtig den Text. »Was zum Teufel, den Mist, welchen du gestern aus den Ställen gemacht, noch nicht verlegt! Wohl, das sollten mir meine Buben machen, ich führte sie beim Hagel am Hals auf den Misthaufen! Das Jaucheloch läuft ja über! Was ist das gemacht! Was gibt es doch einem von euch zu tun, ein Faß oder zwei auszuführen? Aber wenn man nicht immer hinten und vornen ist, so ist nichts gemacht; wohl, das wird sauber aussehen in den Ställen. Auf meine Seele, wenn ich es einmal so fände, ich[351] jagte das ganze Pack mit dem Stecken vom Hof, ihr solltet euch schämen wie Laushunde! Auf die Ehre hättet ihr es nehmen sollen, die Sache recht zu machen. Das Fraueli hat sich fast getötet, aber an allen Orten kann es nicht sein. Ich habe einen alten, siebenzigjährigen Trappi und einen jungen, nur so einen Löhl, aber es ist mir ein jeder von ihnen, der Alte und der Junge, am kleinen Finger lieber als ihr alle miteinander. Nein, hört, Buben, so geht das nicht, das muß anders aussehen und zwar heute noch! Ja, lacht nur, aber gebt acht, was ihr macht, es ist Ernst. Euer Meister kommt auf, wenn er Sorg hat und man Sorg zu ihm hat. Er ist durch die Gefahr, Gottlob! Aber kömmt er da heraus und sieht die Schweinerei und das Gesudel, so bekömmt er das Gallenfieber; dann streckt es ihn, dann heißts, der Doktor habe ihn getötet, und Frau und Kinder können ihm nachweinen. Das will ich nicht; habe ich ihn mit Gottes Hülfe gerettet, so soll solch Volk mir ihn nicht töten, da bin ich gut dafür. In zwei Tagen komme ich wieder, macht daß es dann aussieht wie es sich gehört, sonst muß mein Seel die Frau alle ausjagen, ich will es verantworten. Ich komme alle Tage in zwanzig Dörfern herum, weiß Knechte für sieben solche Höfe, will dann aber auch allenthalben sagen, was ihr für Bursche seid.«

Unter der bekannten Ecke seines Stöckleins (so gleichsam sein Wartturm oder seine Sternwarte, wenn er ausgucken wollte, was im Hause vorging) stund Joggeli. Die laute Stimme des Arztes, dem er sonst aus dem Wege ging, hatte seine Neugierde gereizt. Als der Arzt ihn dort sah, marschierte er in langen Schritten auf ihn zu und sagte: »Früh, Papa, früh; so alte Manne sollten im Bette bleiben bis bald um Mittag. Sie sind den Leuten sonst nur zur Plage mit ihrer Wunderlichkeit, besonders wenn sie nichts tun. Ihr hättet aber jetzt etwas machen können, und es wäre Euch wohl angestanden, Ihr hättet es gemacht. Ja ja, Papa, seht mich nur so sauer an,[352] ich sage meine Sache gerade heraus und fürchte mich nicht vor einem Paar sauren Augen, die haben noch niemand erstochen. Ihr hättet dem Fraueli an die Seite stehen sollen und die Lumpenbuben da in Ordnung halten, die Frau konnte nicht an allen Orten sein; Ihr hättet wohl Zeit gehabt, es wäre aufs Gleiche herausgekommen, ob Ihr hier ums Häuschen herumsteckelt oder dort bis zur Scheune hinunter. Aber so habt ihrs, ihr Hagels Bauern, wenn ihr nur Geld habt, so fragt ihr keinem Menschen was nach, dem eigenen Bruder nicht. Ja, ihr seid ein Volk, ihr, hab es erfahren! Rette ich Hunderten das Leben und bringe sie davon, so denkt mir kaum einer daran. Tut ihm der Bauch wieder weh, läuft er zu einem andern Arzt oder gar so zu einem verfluchten Wasserschmöcker.«

»Ja, ja,« sagte Joggeli, »zuweilen kömmt einer davon, und oft gehts dem Kirchhof zu, ihr tapfern Lieferanten, was ihr seid! Meine Frau selig, die brachtet Ihr nicht davon, und der drüben wird ihr wohl nach müssen, apartig glücklich seid Ihr hier nicht.« »Um Euere Frau ists schade; wenn sie nicht einen so wunderlichen Mann gehabt hätte, sie lebte vielleicht noch, aber um sie davonzubringen, hätte man Euch doktern sollen,« entgegnete der Arzt; »der drüben kömmt davon, ja freilich, wenn Ihr mir ihn nicht hintendrein tötet mit Plagen, Quälen, Kummern wegen dem Zins. Aber eben, das will ich Euch sagen, nehmt Euch in acht damit; so gewiß Ihr das tut, will ich Euere Zunge spannen, daß Ihr sieben Wochen das Reden lasset. Das Wasser gschauen tue ich nicht, aber vom Hexenwerk verstehe ich vielleicht mehr als ein Anderer, und wenn es nötig ist, mache ich, was ich kann. Jetzt wißt Ihr, woran Ihr seid, und behüt Euch Gott und lebet wohl.« Joggeli sah ihm mit offenem Maule nach. »Er wärs imstand, der Hagels Ketzer,« sagte er, steckelte in sein Stöcklein zurück und machte sorgsam die Türe zu.[353]

Uli war erwacht, aber unendlich matt, es war ihm wie einem, der aus dem Grabe kömmt. Er schloß bald wieder die Augen. »Komm,« sagte der Arzt, »laß ihn machen, schlafen, so viel er will, rede nicht zu viel, freue dich nicht zu sichtlich, frage ihn um nichts, und was du ihm zu essen geben sollst und wieviel, will ich dir draußen sagen. Halte dich tapfer mit den Portionen; du wirst deine liebe Not haben mit dem Hunger, wenn der einmal erwacht, oft hören müssen, du gönnest ihm das Essen nicht. Aber dessen mußt du dich nicht achten. Sag nur, ich habs befohlen.«

Vreneli hatte das Herz voll von Dank und Freude, die Augen voll Tränen, aber reden konnte es nicht, es konnte dem Arzt bloß die Hand geben, als sie draußen waren. Der verstund das aber wohl, drehte sich um, stund ans Fenster, tat, als nehme er eine Prise und wische den überflüssigen Schnupf ab. Der Arzt war sehr rauh, aber nur auswendig; es gibt andere, welche es umgekehrt haben.

Uli war zum Kind geworden, mußte in jeglicher Beziehung ein neues Leben anfangen, so daß er es anfangs kaum merkte. Nachher beelendete es ihn, daß er darüber weinte, Vreneli auch, und den Arzt beschied. Der tröstete, schärfte aber aufs neue die größte Vorsicht ein, leibliche und geistige. Es fehlten Uli die Kräfte, er konnte nicht gehen, nicht einmal den Löffel zum Munde führen vor Zittern. Er hatte das Gedächtnis mehr oder weniger verloren, mußte seine Erinnerungen mühsam zusammenlesen wie ein Kind Glasperlen, welche es im hohen Grase verschüttet oder zwischen losen Steinen. Es war zum Weinen, wie das kleine Vreneli des Vaters wartete, ihn führte und half, fast als wäre er eine große Puppe. Joggeli hielt sich aus Respekt vor des Arztes Worten ferne, doch konnte er sich einmal nicht enthalten, Uli, der in der Sonne saß, näher zu treten und ihm etwas zu sagen. Die Antwort fiel etwas linkisch aus, daß Joggeli sagte: »Dir wärs[354] besser, du lägest im Kirchhof.« Aber wie das Wort, welches Uli nicht einmal verstund, heraus war, erschrak er sehr, steckelte, so streng er es vermochte, seinem Stöcklein zu und schloß sorgfältig hinter sich die Türe.

Indessen ging es bei Uli rascher als bei einem Kinde, jeder Tag brachte seinen Fortschritt, derselbe ward immer entschiedener, und zwar hier auf erfreuliche Weise. Er konnte alle Tage besser gehen, das Gedächtnis stellte sich allmählich wieder ein, aber dazu auch ein Hunger, welcher Vreneli manchmal den Angstschweiß auf die Stirne trieb. Wenn ein Mann um Essen bittet, noch um ein Stücklein, um ein ganz kleines, ganz wie Kinder es tun, und die Frau sagen muß, ganz wie einem Kinde: »Ich darf weiß Gott nicht, warte nur eine Stunde, dann gebe ich dir wieder,« und der Mann die Minuten zählt, so ist es allerdings ein schwer Ding für eine Frau, fest zu bleiben und nicht an das Sprüchwort sich zu halten: Wenig schadet wenig, nicht zu denken, daß aus vielem Wenigen viel wird und endlich um eines einzigen Tropfens willen ein Glas überfließt. Was Vreneli ganz besonders freute, war eine Weichheit des Gemütes, eine Ergebung in seine Lage, von der Uli in letzter Zeit so himmelweit entfernt schien. Anfangs erschrak es darob, hielt sie für kindische Teilnahmlosigkeit, für Mangel an Begreifen, in welcher Lage sie seien, aber es stellte sich alle Tage deutlicher heraus, daß es was anderes war.

Vor seiner Krankheit waren alle seine Kräfte überspannt, seine Stimmung unnatürlich gereizt; er glich einem Schwimmer, welcher alle seine Kräfte zusammennimmt, die Strömung zu durchschneiden, das Ufer zu gewinnen. Je schwerer es ihm wird, desto großer werden seine Anstrengungen, alles bietet er auf, das Letzte setzt er daran, bis plötzlich die Kräfte brechen, einem zu stark gespannten Bogen gleich, und der Strom ihn verschlingt. So war auch Uli zusammengebrochen[355] im Kampf mit seinem Geschick, ein Krankheitsstrom war ihm über Seele und Körper gegangen. Als er wieder auftauchte aus demselben, aus langer Ohnmacht zu neuem Leben erwachte, war die Spannung vorüber, die Stimmung eine ergebene, dankbare; es stellte sich das Vertrauen ein, die Züchtigung sei vorüber, der Herr, der in die Hölle führt und wieder heraus, der bis hierher geholfen, werde auch ferner helfen. Uli konnte sagen: »In Gottes Namen, komme was da wolle, wir wollen es annehmen, wir wollen das Mögliche machen, daß niemand an uns verliert, auch haben wir ja gute Leute, welche Geduld haben werden. Wir sind jung, und wenn uns Gott gesund läßt, so ist nichts verloren und es macht mir keinen Kummer, uns mit Ehren durchzubringen, was will man mehr? Das Reichwerden wollen wir aufgeben, was hat man davon als Angst und Not und Zorn und Streit?«

Diesem pflichtete Vreneli vollkommen bei. Wenn sie nicht zappelten und hasteten, nicht allzu nötlich täten und Gott ihnen ein oder zwei bessere Jahre sende, so werde es so schlimm nicht gehen; wenn man einander treulich helfe, sei viel zu machen und alles zu ertragen, es danke dem lieben Gott, daß es so gekommen. Uli war auch dieser Meinung. Wohl kam ihm zuweilen eine Hast an, daß er aufsprang, meinte, er müsse dran hin, müsse alle seine Kräfte anspannen, um den steckengebliebenen Wagen zu heben und zu stoßen, aber Vreneli konnte ihm durch ein freundlich Wort die ihm noch so nötige Ruhe geben, daß er wieder nachließ und sagte: »Du hast recht!«

Quelle:
Jeremias Gotthelf: Ausgewählte Werke in 12 Bänden. Band 2, Zürich 1978, S. 344-356.
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