|
[750] Eucharis. Sappho
EUCHARIS.
Befiehlst du, hohe Frau?
SAPPHO.
Melitten rief ich.
Wo ist sie?
EUCHARIS.
Wo? auf ihrer Kammer, denk ich.
SAPPHO.
Sucht sie die Einsamkeit! – Was macht sie dort?
EUCHARIS.
Ich weiß nicht. Aber seltsam ist ihr Wesen,
Und fremd ihr Treiben schon den ganzen Tag.
Des Morgens war sie still und stets in Tränen,
Doch kurz nur erst traf ich sie heitern Blicks.
Mit Linnen ganz beladen und mit Tüchern,
Wie sie hinabging zu dem klaren Bache,
Der kühl das Myrtenwäldchen dort durchströmt!
SAPPHO.
Sie freut sich ihres Siegs! Nur weiter, weiter!
EUCHARIS.
Neugierig zu erfahren, was sie suche,
Schlich leis ich ihr ins stille Wäldchen nach.
Da fand ich sie –
SAPPHO.
Mit ihm?
EUCHARIS.
Mit wem?
SAPPHO.
Nur weiter!
EUCHARIS.
Ich fand sie dort im klaren Wasser stehn.
Die Kleider lagen ringsumher am Ufer,
Und hoch geschürzt – sie dachte keines Lauschers –
Wusch, mit den kleinen Händen Wasser schöpfend,
Sie sorgsam reibend Arme und Gesicht,
Die von dem Schein der Sonne durch die Blätter,
Von ihrem Eifer und der rauhen Weise,
Mit der die Kleine eilig rasch verfuhr,
In hellem Purpur feurig glühten.
Wie sie da stand, für eine ihrer Nymphen,
Der jüngsten eine, hätte sie Diana –
SAPPHO.
Erzählung wollt ich hören und nicht Lob!
EUCHARIS.
Als nun des Bades langes Werk vollbracht,
Getrocknet Angesicht und Brust und Wange,
Ging fröhlich singend sie ins Haus zurück,
Also vertieft und so in sich verloren,[750]
Daß sie der Blätter, die ich aus dem Dickicht
Nach ihr warf, sie zu schrecken, nicht gewahrte.
Hier angelangt, trat sie in ihre Kammer,
Schloß ab, und was sie schafft, das weiß ich nicht.
Nur hört ich sie in Schränken emsig suchen,
Dazwischen tönte heiterer Gesang!
SAPPHO.
Sie singt und Sappho – nein, ich weine nicht!
Bring sie zu mir!
EUCHARIS.
Melitten?
SAPPHO.
Ja, wen sonst? –
Melitten! – Ach ein süßer, weicher Name,
Ein ohrbezaubernd, liebevoller Name!
Melitta – Sappho! – Geh, bring sie zu mir!
Eucharis ab.
Ausgewählte Ausgaben von
Sappho
|
Buchempfehlung
In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«
340 Seiten, 14.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro