Franz Grillparzer

[Über das Wesen des Drama]

Das Wesen des Drama ist, da es etwas Erdichtetes als wirklich geschehend anschaulich machen soll, strenge Kausalität. Im Lauf der wirklichen Welt bescheiden wir uns gern, daß manches vorkommen könne, was sich für uns in die stetige Kette von Ursache und Wirkung nicht fügt, weil wir einen unfaßlichen Urheber des Ganzen anzunehmen genötigt sind und immer hoffen können, daß das, was für unsere Beschränktheit unzusammenhängend ist, in ihm einen uns unbegreiflichen Zusammenhang habe: im Gedicht aber kennen wir den Urheber der Begebenheiten und ihrer Verknüpfung und wissen in ihm einen dem unsern ähnlichen Verstand; daher sind wir auch wohl berechtigt anzunehmen, was in seiner Schöpfung für unsere, und überhaupt für die menschlichendliche Denkkraft nicht zusammenhänge, habe überhaupt keinen Zusammenhang und gehöre daher in die Klasse der leeren Erdichtungen, die der Verstand, von dessen formaler Leitung sich auch die schaffende Phantasie, wie jedes innere Vermögen, nicht losmachen kann, unbedingt verwirft, oder die wenigstens die beim Drama beabsichtigte Annäherung an das Wirkliche ganz ausschließt.

Das Kausalitätsband ist nun, den Begriff der Freiheit vorausgesetzt, seiner Möglichkeit nach ein doppeltes: Nach dem Gesetze[301] der Notwendigkeit d.i. der Natur, und nach dem Gesetze der Freiheit. Unter dem Notwendigen wird hier alles dasjenige verstanden, was, unabhängig von der Willensbestimmung des Menschen, in der Natur oder durch andere seinesgleichen geschieht und was, durch die unbezweifelte Einwirkung auf die untern, unwillkürlichen Triebfedern seiner Handlungen, die Äußerungen seiner Tätigkeit, zwar nicht nötigend, aber doch anregend bestimmt.

Die Einwirkung dieser äußern Triebfedern ist bekanntlich so stark, daß sie bei Menschen von heftigen, durch verkehrte Erziehung und unglückliches Temperament genährten Neigungen, oft alle Tätigkeit der Freiheit aufzuheben scheint, und selbst die besten unter uns sind sich bewußt, wie oft sie dadurch zum Schlimmen fortgerissen wurden, und wie diese Triebfedern einen Grad von extensiver und intensiver Größe erreichen können, wo fast nur ein halbes Wunder möglich machen kann, ihnen zu entgehen. Das nun, was außer unserm Willenskreise, unabhängig von uns, also notwendig vorgeht, und, ohne daß wir es nach Willkür bestimmen könnten, auf uns bestimmend (nicht nötigend) einwirkt, nennen wir, im Zusammenhange und unter dem für die ganze Natur geltenden Kausalitätsgesetze als Ursache und Wirkung stehend gedacht, Verhängnis, und insofern wir einen Verstand voraussetzen, der, ohne Einwirkung auf die Verhängnisse, das Verhängnis denkt und außer der Beschränkung von Raum und Zeit, von vorher und nachher erkennt, Schicksal (fatum). Das Schicksal ist nichts als eine Vorhersehung ohne Vorsicht, eine passive Vorsehung möchte ich sie nennen, entgegengesetzt der aktiven, die, als die Naturgesetze zu Gunsten des Freiheitsgesetzes modifizierend, gedacht wird.

Im Trauerspiele nun wird entweder der Freiheit über die Notwendigkeit der Sieg verschafft, oder umgekehrt. Wir Neuern halten das erstere für das allein Zulässige, worüber ich aber ganz der entgegengesetzten Meinung bin. Die Erhebung des Geistes, die aus dem Siege der Freiheit entspringen soll, hat durchaus nichts mit dem Wesen des Tragischen gemein, und schließt nebstdem das Trauerspiel scharf ab, ohne jenes weitere Fortspielen im Gemüte des Zuschauers zu begünstigen, das eben die eigentliche Wirkung der wahren Tragödie ausmacht. Das Tragische, das[302] Aristoteles nur etwas steif mit Erweckung von Furcht und Mitleid bezeichnet, liegt darin, daß der Mensch das Nichtige des Irdischen erkennt; die Gefahren sieht, welchen der Beste ausgesetzt ist und oft unterliegt; daß er, für sich selbst fest das Rechte und Wahre hütend, den strauchelnden Mitmenschen bedaure, den fallenden nicht aufhöre zu lieben, wenn er ihn gleich straft, weil jede Störung vernichtet werden muß des ewigen Rechts. Menschenliebe, Duldsamkeit, Selbsterkenntnis, Reinigung der Leidenschaften durch Mitleid und Furcht wird eine solche Tragödie bewirken. Das Stück wird nach dem Fallen des Vorhangs fortspielen im Innern des Menschen, und die Verherrlichung des Rechts, die Schlegel in derber Anschaulichkeit auf den Brettern und in den Lumpen der Bühne sehen will, wird glänzend sich herabsenken auf die stillzitternden Kreise des aufgeregten Gemüts.

Es ist ein Schicksal, das den Gerechten hienieden fallen läßt und den Ungerechten siegen, das »unvergoltene« Wunden schlägt, hier unvergolten. Laßt euch von der Geschichte belehren, daß es eine moralische Weltordnung gibt, die im Geschlechte ausgleicht, was stört in den Individuen; laßt euch von der Philosophie und Religion sagen, daß es ein Jenseits gibt, wo auch das Rechttun des Individuums seine Vollendung und Verherrlichung findet. Mit diesen Vorkenntnissen und Gefühlen tretet vor unsere Bühne und ihr werdet verstehen was wir wollen. Die wahre Darstellung hat keinen didaktischen Zweck, sagt irgendwo Goethe, und wer ein Künstler ist wird ihm beifallen. Das Theater ist kein Korrektionshaus für Spitzbuben und keine Trivialschule für Unmündige. Wenn ihr mit den ewigen Begriffen des Rechts und der Tugend vor unsere Bühne tretet, so wird euch das zerschmetternde Schicksal ebenso erheben, wie es die Griechen erhob, denn der Mensch bleibt Mensch »im Filzhut und im Jamerlonk« und was einmal wahr gewesen muß es ewig sein und bleiben.[303]

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke.Band 3, München [1960–1965], S. 301-304.
Entstanden 1820, Erstdruck in: Sämtliche Werke, Stuttgart 1872.
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