IX

[184] Daß es »zweierlei Leute in der Welt gibt«, bemerkt ein Kind erst allmählich. Vater und Mutter – sind ihm eins, jede Hälfte gilt ihm für das volle Ganze.

Allmählich ahmen dann Kinder die Familie nach. Sie spielen Vater und Mutter und geben sich sogar selbst wieder, ihre eigenen Personen mit allen Unarten. Der Trieb zur Strafe zeigt sich da als ein angeborener. Jedes Kind züchtigt. Man muß ihm oft zurufen, aus dem ewigen Kriminalton herauszukommen.

In solchen Spielen erwachen rätselhafte und dunkle Gefühle. Sinn für Zärtlichkeit senkt sich ins Gemüt über Nacht. Er kommt wie auf Blumen der Tau. Die Unschuld berührt spielend und scherzend selbst das Verfänglichste. Worte, Empfindungen, Begriffe, die dem Erwachsenen voll gefährlicher Widerhaken erscheinen, fassen die Kinder mit sorgloser Sicherheit an und nehmen das geschlechtliche Doppelleben der Menschheit wie ein Urewiges, selbstredend auf die Welt Gekommenes, das keiner Erklärung bedarf. Da werden aus raschelndem Herbstlaub, zerlassenen Strohbündeln Hütten und Nester gebaut, und halbstundenlang kann ein völlig unschuldiger Knabe neben seiner Gespielin stumm und wie von Liebesahnung magnetisiert liegen.[184]

Zum Küssen kommt es nicht einmal. Freilich steht da die Gefahr einem solchen Bilde kindlicher Naivität ganz nahe, und das übrige tut die Strafe, die Unarten voraussetzt, über die man erst zu grübeln anfängt, wie nach dem ersten Besuch eines katholischen Beichtstuhls. Die Strafen des Meisters Schubert, die gewisse Sünder traf, wurden damals nicht verstanden. Erst eine unvergeßliche Mahnrede, die der Knabe ohne alle Veranlassung von seinem Bruder in der Artilleriekaserne erhielt, deckte ihm im zehnten, elften Jahre schreckliche Dinge auf, die ihm vollkommen unbekannt geblieben waren.

Aber daß »zwei einander sich liebhaben können«, das wurde entdeckt. Denn man sieht, daß man Frauen und Mädchen jagt und verfolgt um einen Kuß. Allmählich kommt auch heraus, daß die Schwester eine besondere Freude oder ein besonderes Leid hat. Der Bruder vollends, gehoben von Lebensübermut, Jugendlust, Abenteuerdrang, nimmt kein Blatt vor den Mund. All seine Liebesaffären, ehe er heiratete, wodurch er gezähmt wurde, waren Don-Juanerien. Auf »Schürzenstipendien« ging jeder Gemeine und Spielmann aus. Aber auch die Liebesabenteuer der Chargierten, Fähnriche und Leutnants wurden erzählt. So gestaltete sich zum Beispiel eine Geschichte, die der Knabe anfangs nur fragmentarisch zu hören bekam und begriff, später zu folgendem fast novellistischem Zusammenhang.

Quelle:
Karl Gutzkow: Aus der Knabenzeit. In: Berliner Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin 1960. S. 27–264, S. 184-185.
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