[159] Germain trägt eine Schüssel und Serviette. Lefêvre.
LEFÊVRE. Guten Morgen, lieber Germain. Ist Chapelle zu Hause?
GERMAIN. Ich bedaure, Herr Parlamentsrat. Herr Chapelle ist schon in aller Frühe ausgegangen. Aber – vielleicht Madame Chapelle? Wünschen Sie nicht einzutreten –? Das Frühstück wird eben serviert.
LEFÊVRE. Ah! – Ich werde nicht verfehlen. Übrigens hab' ich Herrn Chapelle eine Nachricht zu bringen, die ihm außerordentlich viel Vergnügen machen wird. Ist er vielleicht in der Akademie?
GERMAIN. Die Akademie hat Ferien, Herr Parlamentsrat. Mein Herr schlug den Weg nach dem Palais Royal ein.
LEFÊVRE. Nach dem Palais Royal? So ist er wohl gar ins königliche Theater gegangen, um der endlichen Prüfung seines Trauerspiels beizuwohnen. Wie heißt es doch?
GERMAIN. Nebukadnezar.
LEFÊVRE. Nebu – Komischer Titel für ein Trauerspiel! Es ist bald ein Uhr. Ich will nicht hoffen, daß sein Stück Längen hat.
GERMAIN. Wenn es gefällt, Herr Parlamentsrat, so hat es Herr Chapelle im Grunde nur Ihnen zu danken.
LEFÊVRE. Das ist wahr! Ich habe diesem Nebukadnezar die Möglichkeit seiner Existenz gerettet. Molière wollte ihn nicht für die Darstellung annehmen. Ich glaube, er fürchtete, daß sich der Darsteller der Titelrolle weigern würde, im fünften Akt über die Bühne zu kriechen und Gras zu fressen. Ich bestritt Molièren das Recht, die Tragödie eines Akademikers zurückzuweisen, und verklagte den kühnen Alleinherrscher unserer Bühne. Ich lebe nur für die Gesetze. Jurist mit Leib und Seele setzte ich es gerichtlich[159] durch, daß sich Molière wenigstens zu einer Prüfungslektüre vor dem Komitee der versammelten Schauspieler verstehen mußte. Und Sie glauben, daß diese vielleicht heute stattgefunden hat?
GERMAIN. Wenn ich nicht irre, hör' ich Herrn Chapelle schon zurückkommen.
Ausgewählte Ausgaben von
Das Urbild des Tartüffe
|