Fünfter Auftritt


[180] Lionne. Die Vorigen.


LIONNE. Ah, guten Morgen, Lefêvre! Was sagen Sie zu dem Briefe?

LEFÊVRE. Es ist gewiß sehr erfreulich, daß Molière gerade selbst zugegen ist.

LIONNE. Wie, Herr Molière, Sie selbst.

MOLIÈRE. Exzellenz, ich selbst, und noch ergriffen und erschüttert von dem Eindruck einer Denunziation, die ich zitternd in meinen Händen halte.

LIONNE. Man hat mir das neue Stück, das Sie demnächst aufzuführen gedenken, zu verdächtigen gesucht.

MOLIÈRE. Nicht zu verdächtigen – man hat mit offenbar lügnerischer Entstellung der wahren Tendenz dieses Stückes die Aufführung desselben in das religiöse Gewissen eines Mannes[180] schieben wollen, der zu billig, zu gerecht sein wird, die Sache der Kunst den Heuchlern zu opfern!

LIONNE. Die Sache der Kunst, Molière, darf den gesellschaftlichen Institutionen keinen Anstoß geben. Indessen, teilen Sie mir den Inhalt des Tartüffe mit, und Sie werden finden, daß ich Satire vom Pasquill zu unterscheiden weiß. Setzen wir uns.


Setzt sich.


DUBOIS beiseite. Es ist schon elf – indessen – Molière zu hören – Nimmt einen Stuhl.

LEFÊVRE beiseite. Wenn ich auch eine Sitzung des Gerichtshofes versäume – dergleichen kommt nicht wieder! Nimmt sich einen Stuhl.


Sie sitzen.


MOLIÈRE. Exzellenz, ich muß Sie daran erinnern, welche Aufgabe ich der französischen Bühne gestellt habe. Ich habe das Lustspiel von meinen Vorgängern in Form sittenloser und ausgelassener Possen überkommen und habe mit meinen schwachen Kräften versucht, ihm einen edlern Ausdruck zu geben. In der Poesie suchte ich eine Waffe zu finden für den Kampf der Aufklärung gegen die Lüge; ich habe den Egoismus, die Eitelkeit, den gesellschaftlichen Betrug auf der Bühne schon in den meisten seiner Spielarten darzustellen gewagt, und man hat mir das Zeugnis gegeben, daß durch mich die Bühne wenigstens eine würdigere Bedeutung gewonnen hat.

LIONNE. Nicht nur die Nation, sondern auch Se. Majestät, Ludwig XIV., haben Molière in diesen ruhmwürdigen Bestrebungen anerkannt.

LEFÊVRE beiseite. Guter Chapelle, wenn du das hören müßtest!

MOLIÈRE. Nach einer Reihe komischer Charaktere, die die Leidenschaft des Geizes, der unbegründeten Eifersucht, die Titelsucht darstellten, bin ich nun auch an eine der gefährlichsten Gattungen von Betrügern gekommen, an die Scheinheiligen, an die um Dunkeln schleichenden religiösen Heuchler. Fern sei es von mir, wahrhaft fromme Gemüter beleidigen zu wollen, fern sei es, durch den Scherz der Bühne die Sache der Religion zu beeinträchtigen – aber liegt nicht wie ein Alp auf dem Staat, auf der Gesellschaft jene falsche Religiosität, die die alles umfassende Liebe Gottes zum Privilegium einer einzelnen kleinen Koterie machen will? Sehen wir nicht täglich in die Herzen der Familien, auf die Katheder der Schulen, in die Kabinette der Minister, an die Stufen des Thrones Männer schleichen, die unter dem Deckmantel der Religion nur ihren persönlichen Ehrgeiz verbergen und nichts lieber an sich reißen möchten, als die[181] Herrschaft der ganzen Welt, während doch der Stifter unserer Religion gesagt hat: Mein Reich ist nicht von dieser Welt?! Diesen Feinden der Gesellschaft, Exzellenz, die da verfolgen, wie sie sagen, aus Mitleid, die da hassen, wie sie sagen, aus Liebe, diesen hab' ich in meinem Tartüffe den Handschuh hingeworfen zu einem ehrlichen Kampf, und ich erwarte von allen denen, die ein reines Gewissen haben, daß sie mich in diesem Kampfe unterstützen.

LIONNE. Entwickeln Sie mir den Schlachtplan, den Sie sich dabei vorgezeichnet haben!

MOLIÈRE. In meinem Tartüffe hab' ich die Verwirrung einer Familie geschildert, die einst das Opfer eines solchen Heuchlers wurde. Mein Vater war mit einem Manne befreundet, der sich auf die redlichste Art von der Welt ein bedeutendes Vermögen erworben hatte. Um es zu genießen, zog Duplessis aufs Land und lebte eine Zeitlang glücklich im Besitz einer schönen und liebenswürdigen Frau und zweier holden Mädchen, ihrer einzigen Kinder. Da führte ein böser Stern in den Schoß dieser Familie einen Mann, der unter dem Deckmantel der Frömmigkeit das Verderben aller wurde. Geschützt zuerst von Duplessis' alter Mutter, erwarb er sich bald die Freundschaft des reichen Mannes und benutzte sein Vertrauen zu einer Oberherrschaft, die er zuletzt über alle Angelegenheiten des Hauses gewann. Seelenfreundschaft, Herzenverschmelzung waren die Worte, die er stets im Munde führte. Duplessis, von Natur zur Melancholie geneigt, verlor den Sinn für die praktischen Bedingungen des Lebens und überließ dem heuchlerischen Freunde die Verwaltung seines Vermögens. Vortrefflich verstand es der Bösewicht, davon Vorteil zu ziehen. Man warnte Duplessis, aber ein blindes Vertrauen fesselte ihn an einen Menschen, dessen drittes Wort die Religion war. Endlich aber wurde er auf eine furchtbare Art enttäuscht. Er entdeckte, daß der schändliche Freund durch eine falsche, verhimmelnde und sinnliche Philosophie auch sein Weib Adele betört hatte, und so schwach war sein Geist durch diese falsche Religiosität geworden, daß Duplessis in dem Augenblick, wo er Weib und Freund ihrer Schändlichkeit überführen konnte, statt sich zu rächen, in einem Anfall von Geistesverwirrung sich selbst das Leben nahm. Mit dem geraubten Vermögen verließ der Betrüger das Haus und gab das entwürdigte Weib und die armen Kinder dem größten Elend preis; die Mutter starb am gebrochenen Herzen, ihre Kinder gerieten in fremde Pflege. Unmöglich war es, von den Tausenden, die ihnen gehörten, aus den Händen des Betrügers ein Almosen zu entreißen.[182] Gegen gerichtliche Verfolgung hatte er sich durch Klauseln verschanzt, er stieg von Stufe zu Stufe, er steht jetzt – doch nein! Er ist jetzt keine Person mehr, sondern nur eine Idee, die ich mir erlaubt habe zu meinem Tartüffe zu benutzen.


Lionne steht auf, die andern auch.


LIONNE. Molière, Ludwig XIV. stellte mich an den Posten, den ich bekleide, um die Feinde der sittlichen Ordnung seines Landes zu bekämpfen. Ein solcher ist ein Dichter nicht, der sein schönes Talent nur dazu anwendet, treu der Mit- und Nachwelt zu dienen. Unter diesen Umständen hab' ich gegen die Aufführung Ihres Tartüffe nichts einzuwenden.

DUBOIS UND LEFÊVRE. Brav, Lionne!

MOLIÈRE. Sie beschämen mich, Exzellenz; was ich vermag, entlehnt' ich ja nur meiner Kunst, die ich liebe und die, das ist mein ganzer Stolz, mich – dafür auch wieder liebt.

LIONNE. Und wer ist das Urbild Ihres Tartüffe?

MOLIÈRE ausweichend. Er – lebt – wohl nicht mehr. Und ohnehin, Herr Minister, die Tartüffes dieser und jeder Gattung laufen jetzt auf der Straße herum, daß man mit einem einzigen Griff deren Dutzende an den Fingern hat.

LIONNE. Weichen Sie mir nicht aus, Molière! Sagen Sie offen, könnte vielleicht irgend jemand den Tartüffe, abgesehen von dem vielleicht – verstorbenen Urbilde, noch ganz besonders auf sich beziehen?

MOLIÈRE. Ich gestehe, daß ich mich bemüht habe, hier und da einzelne Züge von solchen Scheinheiligen zu entdecken. Ich erfuhr, um damit zu schließen, eine Anekdote. Zu einem Hauptchef dieser finstern Partei kam eine junge Bäuerin aus Limoges, ein allerliebstes, junges, frisches Ding, das nirgends einen bessern Dienst zu finden glaubte, als in einem so frommen Hause. Mein Tartüffe fing an sie zu examinieren. Er wollte untersuchen, ob sie fest im Glauben wäre, zugleich, ob sie kräftige Schultern hätte, um – ihre Sünden zu tragen. Die junge Dorfschöne trug ein rotgewürfeltes Baumwollentuch, Tartüffe faßte einen Zipfel des Tuches und zerrt erst leise und dann immer stärker an dem roten Tuche. Die junge Bäuerin zieht sich zurück. Tartüffe folgt, und endlich hat er das Tuch in der Hand. In dem Augenblick geht die Tür auf. Ein Geistlicher besucht den Tartüffe. Um des Heilands Wunden, was machen Sie da, Tartüffe? fragt der fromme Freund. Totenblaß vor Angst sammelt sich der überraschte Heuchler und stottert die Antwort: Lieber Bruder im Herrn, ich suchte mir nur Aufklärung über die Baumwollenindustrie von Limoges zu verschaffen.[183]

LEFÊVRE. Sieh! Sieh! Kürzlich hab' ich jemanden in ähnlichen industriellen Studien überrascht. Es ist doch nicht der Präsident La Roquette?

MOLIÈRE. La Ro –? Ich habe in meinem Tartüffe – keine einzelne Person, sondern eine – Gattung geschildert.

LIONNE. Molière, wenn in Ihrem Tartüffe keine staatsgefährlichern Dinge vorkommen, so seien Sie unbekümmert. Tartüffe darf existieren, existieren für die französische Bühne – wenn noch Logen übrig sind, ich bitte um eine – meinen Glückwunsch zu dem vorauszusehenden glänzenden Erfolg!

MOLIÈRE. Meine Brust erweitert sich bei dem Gedanken, daß der Dichter, Hand in Hand mit der Weisheit der Fürsten und der besonnenen Mäßigung der Staatsmänner, dem großen Berufe leben darf, wie mit Rosenfingern über die Erde zu schweben und Morgenröte auszustreuen, wo nächtiger Schlummer die Menschen noch gefangen hält. Diese eben erlebte Stunde, Exzellenz, gibt mir den Mut, freudig fortzuwandeln auf meiner dornenvollen Bahn. Es ist Zeit zur Probe. Entschuldigen Sie, daß ich mich verabschiede.


Ab.


LEFÊVRE seinen Hut holend. Allerdings zweierlei Stoffe, aus denen mein guter Chapelle und Molière geschaffen wurden!

DUBOIS ebenso. Schade, daß unsere Tartüffes nicht das Theater besuchen; die Szene, wo sie sich als Beförderer der Baumwollenindustrie von Limoges erblicken, müßte ihnen ganz besonders Vergnügen machen.

LIONNE. Der König liebt Molière, ich will Den Brief zerreißend. solchen Insinuationen kein Gehör schenken.

BEDIENTER meldet. Herr Präsident La Roquette!


Alle sehen sich erstaunt an.


DUBOIS. Wir bekommen eine Spezies des Tartüffes früher dargestellt als das Publikum auf der Bühne.

LIONNE. Was mag er wollen?

LEFÊVRE. Da ist er.


Quelle:
Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Band 2, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1912], S. 180-184.
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