[206] Madeleine. La Roquette.
MADELEINE tritt von der Seite ein und trägt Kleider überm Arm. Ein Herr – der mich zu sprechen wünscht –? Ach! Was seh'[206] ich? Der alte Freund des Herrn Chapelle! Kommen Sie zu Molière, um sich unter die königlichen Schauspieler aufnehmen zu lassen?
LA ROQUETTE. Immer der sonderbare Irrtum, mein reizendes Kinde.
MADELEINE. Oder was führt Sie anders des Abends so spät hierher? Wollen Sie Kollekte sammeln? Ach, wir befinden uns selbst in der schrecklichsten Verlegenheit. Das Publikum will nur noch Tartüffe sehen und besucht nicht mehr das Theater. Wenn ich morgen in einem andern Debüt aufträte, so wären vielleicht, sagte Molière, zwanzig Rezensenten im Theater und nicht fünf Menschen, die ein gesundes Urteil haben.
LA ROQUETTE. Molière und Armande sind im Theater? Ich sah sie auf dem Zettel stehen und glaubte, daß um diese Zeit –
MADELEINE hängt die Kleider fort, die sie trug. Ja, sie spielen vor einundzwanzig Menschen; nicht die Beleuchtungskosten kommen heute heraus. Also, was wünschten Sie von uns?
LA ROQUETTE. Liebenswürdige Madeleine, das Schicksal, das Ihren Vormund, das Sie selbst betroffen hat, geht mir tief zu Herzen.
MADELEINE. Maitre Matthieus Papiere sind mit Beschlag belegt.
LA ROQUETTE beiseite. Was treffliche Dienste geleistet hat! Laut. Traurig!
MADELEINE. Unser Haus ist geschlossen.
LA ROQUETTE beiseite. Wie die Bastille! Laut. Betrübend!
MADELEINE. Hätt' ich nicht bei Armanden großmütigen Schutz gefunden –
LA ROQUETTE. So hätt' ich meine Arme ausgebreitet und Sie in ein schöneres Los eingeführt, dessen Sie – Nähert sich ihr. so würdig sind.
MADELEINE beiseite. Es ist doch kein armer Schauspieler!
LA ROQUETTE für sich. Beherrschung! Laut. Madeleine, gestatten Sie mir eine Frage, ist der Name Béjart Ihr rechter Name?
MADELEINE. Béjart? Solange ich denken kann, heiß' ich Madeleine Béjart; doch war dies allerdings – der Name einer Verwandten, die mich – als ihr eigenes Kind adoptierte.
LA ROQUETTE. Ihre Eltern starben früh – Wie hieß Ihr Vater?
MADELEINE. Mein Herr, das ist ein Geheimnis, das ich Ursache habe zu verschweigen.
LA ROQUETTE beiseite. Sie ist's! Ohne mich zu kennen, hat[207] sie mich an Molière verraten. Laut. Dein Vater starb keines natürlichen Todes –
MADELEINE. Wie? Sie – wissen?
LA ROQUETTE. Deine Mutter folgte ihm bald und dein Name ist Madeleine Duplessis!
MADELEINE. Gerechter Gott, Sie kennen meinen Namen, Sie kannten meine Eltern, meine unglücklichen Eltern!
LA ROQUETTE. Madeleine Duplessis, ja, ich kannte deinen Vater und – deine Mutter –
MADELEINE. O warum sagten Sie mir das nicht gleich! Mein Vater liebte vor seiner Schwermut die Schauspieler über alles –
LA ROQUETTE zornig. Mit deinen Schauspielern! Doch Geschmeidig. fahre fort, fahre fort! Beiseite. Die Fährte ist richtig!
MADELEINE. Mein Vater hatte der Freunde so viele. Ich und meine Schwester, wir waren noch Kinder, als er starb; aber man hat mir erzählt, er wäre geliebt und angebetet worden von der ganzen Welt. Er hatte wahre und falsche Freunde, denn er war reich, unermeßlich reich; aber nur einer von seinen Schmeichlern war der schlimmste, der böseste von allen – er kam in unser Haus, wohnte bei den Eltern – umstrickte sie mit seiner Heuchelei und Verstellung – raubte dem Vater Vermögen und Leben, ging dann, als er die Familie in Verzweiflung und Elend hinterlassen hatte, auf und davon und soll jetzt in Paris ein hoher, angesehener Mann sein.
LA ROQUETTE. Und alles das hast du Molièren erzählt –
MADELEINE. Ich? Molièren?
LA ROQUETTE. Hast ihm dein Leben geschildert, als er dich in seine Gesellschaft aufnahm – oder Matthieu war es, der es ihm erzählte –?
MADELEINE. Wie kommen Sie auf solche Vermutungen?
LA ROQUETTE. Du hast ihm die Geschichte einer Familie erzählt, die er in seinem Tartüffe zum Sittenspiegel der Zeit machen wollte –
MADELEINE. Ich die Veranlassung des Tartüffe? Ja! In der Tat! Bei der Schilderung Orgons hab' ich an die Erzählungen gedacht, die mir von meinem armen Vater hinterlassen wurden. Den Bösewicht, der einst meine Eltern arm und unglücklich machte, hab' ich mir ganz so vorgestellt, wie Molière den Tartüffe zeichnet, aber ich wäre – und Orgon – Elmire wäre –? Mein Gott, nein! Nie hat mich Molière nach meiner Herkunft befragt –
LA ROQUETTE. Lügst du?[208]
MADELEINE. Lügen? Ha, welche Sprache?
LA ROQUETTE. Madeleine, Tochter meines unvergeßlichen Freundes – ich, auch ich gehörte zu den treuesten Freunden deines liebenswürdigen Vaters! – Beiseite. des Dummkopfs! Laut. Wie oft hab' ich dich auf meinen Knien geschaukelt; wie oft dich geliebkost, wenn deine Mutter, deine schöne allerliebste Mutter – Beiseite. Sie ist ihr wie aus den Augen geschnitten –
MADELEINE. Wie können Sie nur glauben, daß Tartüffe das Schicksal meiner Eltern beschreibt! Meine Mutter stand so rein da, sie ist unmöglich in allen Stücken mit Elmiren zu vergleichen.
LA ROQUETTE beiseite. Jeder Zug Elmirens ist dem Leben ihrer Mutter entnommen! Laut. Aber sage mir, Kind, entsinnst du dich des Namens, den der böse Feind deines Vaters trug?
MADELEINE. Er hieß Jean Baptiste – La Roquette.
LA ROQUETTE unterbricht sie. St! –
MADELEINE. Ja, schweigen Sie, sagen Sie ihn an niemand! Wir müssen ja zittern, von ihm entdeckt zu werden. Als die Eltern starben, hängte man dem falschen Freunde einen Prozeß an, aber er, er erhielt recht in allen Instanzen. Dann wandten sich einige gute Seelen für uns beide Schwestern an das Herz des bösen Mannes; aber auch da war alles vergebens! Statt für unsere Erziehung zu sorgen, ließ er uns trennen und verfolgen und gab uns einem elenden Schicksal preis. Von meiner Schwester hab' ich nie wieder gehört, und ich selbst säße noch jetzt in meiner Hütte zu Châlons, wenn mich nicht ein Bürger von Paris, der gute Maitre Matthieu, bei einem Besuch seiner Vaterstadt lieb gewonnen und mit hierher genommen hätte –
LA ROQUETTE. So hat also Matthieu Molièren die Bekanntschaft mit einem Stoffe verraten –
MADELEINE. Auch das ist nicht möglich. Matthieu nahm zwar einige meiner Papiere an sich, aber er kennt mich nur als Madeleine Béjart, als das Pflegekind meiner und seiner Verwandten –
LA ROQUETTE beiseite. Molière, Molière, mit wem stehst du im Bunde?
MADELEINE. Ich höre kommen –
LA ROQUETTE. Kommen?
MADELEINE. Das erste Stück ist vorüber. Molière pflegt sich zuweilen hier in Armandens Zimmern auszuruhen –
LA ROQUETTE. Doch nicht in diesem?
MADELEINE. Er steigt soeben die Treppe herauf –
LA ROQUETTE. Mein Gott –![209]
MADELEINE. Was fürchten Sie denn?
LA ROQUETTE. Molièren hier begegnen? Unmöglich! Ich habe Ursache, gerade Molièren, gerade heute ihn zu vermeiden – Himmel, verstecken Sie mich!
Zugleich.
MADELEINE. Das ist doch sonderbar! Ich fange an, Sie zu fürchten. Wo soll ich nur? Dort hinter die Kleider! Es ist die Garderobe Armandens zu dem Tartüffe –
LA ROQUETTE stark drohend. Stillschweigen, oder – Sich besinnend. nein, nein, nein, mein süßer kleiner Schutzgeist! Für sich. Daß man auch von dem hintern Bau eines Theaters eine so unvollkommene Vorstellung hat! Er verbirgt sich hinter den Kleidern.
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Das Urbild des Tartüffe
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