Vorwort

Es wird eine lange, weite Wanderung werden, lieber Leser, zu der ich Dich auffodere! Rüste Dich mit Geduld, mit geschäftlosen Sonntagsvormittagen und einem guten aushaltenden Gedächtniß! Vergiß mir nicht morgen, was ich Dir heute erzählt habe! Werde nicht müde, wenn Du unabsehbare Ebenen erblickst, sich der Weg zwischen gefahrvolle, nicht endende Gebirgspässe zwängt oder die Landstraße plötzlich sich wie in die Wolken zu verlieren scheint!

Was Du Alles auf dieser Wanderung wirst zu sehen bekommen, die Landschaft und die Dir begegnenden Menschen, ihr Werth, ihr Charakter, ihre Wahrheit .... da sieh zu, wie Dein Geschmack mit ihnen fertig wird! Ich bitte um Schonung; aber wenn sie mir von Deiner Strenge verweigert wird, muß ich mir's schon gefallen lassen. Nur über die lange Dauer dieser Wanderung, über das weitentrückte, sozusagen atlantische Ziel, über den großen, großen Proviant von Zeit und Geduld, den ich beanspruche, muß ich Dich bitten, mir ein entschuldigendes Vorwort zu erlauben.[5]

Thu' mir nicht von vorn herein das Unrecht an und sage: Ich hätte in meinem über das übliche deutsche Maß hinausgehenden Werke die Franzosen nachahmen wollen! Der »ewige Jude«, die »Geheimnisse von Paris« sind deshalb geschrieben worden, weil in einer Zeit, wo Alles spricht, Menschen, die geneigt sind zuzuhören, eine Eroberung sind. Diese glücklichen Zeitungseroberer von Paris haben ihre Beute nicht wieder wollen fahren lassen und führten deshalb den Stil ein, den sie von den Taschenspielern auf Jahrmärkten borgten, die ihre Productionen von heute immer mit einer Ankündigung auf morgen schließen. Die Feuilleton-Romane, wie man sie drüben überm Rheine nennt, oder die Fortsetzung-folgt-Romane, wie man sie nennen sollte, sind nur für große Kinder geschrieben, zu denen man sagt: Heute war's gewiß schön, morgen wird's aber doch noch viel schöner werden!

Also Das nicht, lieber Leser! Ich wollte wol, unser strenges Publicum ahmte dem französischen an gutem Willen beim Hören und Hinnehmen nach, aber ich selbst bin nur deshalb so lang geworden, weil ich beim besten Willen nicht kurz sein konnte. Sollen wir zurückgezogenen einflußlosen Schriftsteller, die wir doch auch gewohnt sind, den Samen reeller Thatsachen von den Blüten der Erscheinung abzustreifen und in unserer Art auch Etwas für die Geschichte zu thun, die Gründlichkeit nur der Paulskirche und den Protokollen unserer Ständekammern, Interims- und Verwaltungsräthe überlassen? Schlimm genug, daß man so ernst, so nachdrücklich, so systematisch[6] mit unserer Zeit sprechen muß! Anekdoten thun's nicht mehr. Was ist Euch Boccaccio? Eine bunte Federflocke vom classischen Wind bewegt! Es finden sich ihrer allerdings genug, die der Zeit entrinnen wollen und lieber einer vom classischen Wind bewegten bunten Federflocke nachirren, als dem Jahrhundert, das sie hassen; allein mit diesen mag ich nicht reden. Ich will es mit Denen, die ihrer Zeit vertrauen, Hoffnungen auf sie setzen und die da sagen: Eine Nacht, um ein zweckloses Märchen zu hören, die hab' ich nicht, aber tausend und eine Nacht, die hätt' ich und schenke sie Dem, der sie im Scherze lehrend auszufüllen versteht!

Wohlan denn, Du wunderlicher Heiliger, ich halte Dich beim Wort! Ich sage Dir im Vertrauen, daß eine Nacht und ein Mährchen mich selbst, den Erzähler, nicht befriedigen würden. Und erzählt' ich Dir das sinnigste und Arabiens würdigste Mährchen, ich selbst würde in unsern sternenlosen Nächten dessen nicht froh, und wo dem Schöpfer nicht wohl wurde bei einem Werke, da kann's dem Beschauer ewig nur weh sein. Schönheit ist ja Ruhe; Ruhe des Gemüths quillt in den Betrachter vom befriedigten Schöpfer, und der Schöpfer, der hier dies vielleicht übervoll aufgeschossene Werk Dir vorlegt, diesen endlos scheinenden Park mit Seen und Brücken und Wasserfällen, gesteht aufrichtig, daß er jenen einzigen Wassertropfen, der jetzt die ganze Welt abspiegelte, nicht hat finden können. Er weiß wohl, es gibt Dichter, die mit einem Wassertropfen die Welt abspiegeln; und noch mehr solche, die[7] glauben, diesen Wassertropfen zu besitzen. Er ging auch hinaus vor's Thor und nahm von der Flur einen Thautropfen, der glänzte in der Sonne – grün – aber die Welt ist blau. Ein anderer glänzte blau – aber die Welt ist roth. Ein dritter glänzte gelb und grün, und die Welt schillert jetzt in allen Farben. Es ist nichts mehr mit dem Thautropfen, dachte er. Es muß mehr sein und etwas Anderes, wenn auch noch keine Douche und noch kein Regenbad.

Macht ihr Geschichte, dachte er, wir wollen Romane schreiben.

Er dachte an die Geschichtsmacher von heute, die aus dem Staube der Ruinen neue Tempel bauen wollen. Er dachte an die Flicker und Leimer, in deren Hände die Organisationen gerathen sind, und die uns nachgerade die Lust genommen haben, nur nothdürftig auf ihre Bauplätze zu blicken, mögen sie nun in Paris, Rom, Wien, Berlin oder in Gotha und Erfurt liegen. Baut ihr und flickt an den alten Welten, wir wollen neue bauen, wenigstens in der Idee. Jeder große Münster hat anfangs sein kleines Modell. Die alten Erbauer, wenn sie ein Denkmal bekamen, trugen diese kleinen Modelle in der Hand; diese mochten nicht schwerer wiegen als so ein Roman von mehr Bänden als üblich, ein Roman in dem neuen Stil, der in der That architektonisch ist, sehr mislich nachzuahmen, und auf den uns Professor Gervinus zu seinem Ärger doch noch ein literarhistorisches Patent geben soll.

Denn ich glaube wirklich, daß der Roman eine neue Phase erlebt. Er soll in der That mehr werden, als der[8] Roman von früher war. Der Roman von früher, ich spreche nicht verächtlich, sondern bewundernd, stellte das Nacheinander kunstvoll verschlungener Begebenheiten dar. Diese prächtigen Romane mit ihrer classischen Unglaubwürdigkeit! Diese herrlichen, farbenreichen Gebilde des Falschen, Unmöglichen, willkürlich Vorausgesetzten! Oder wer sagte Euch denn, ihr großen Meister des alten Romanes, daß die im Durchschnitt erstaunlich harmlose Menschenexistenz gerade auf einem Punkte soviel Effecte der Unterhaltung sammelt, daß ohne Lüge, ohne willkürliche Voraussetzung, sich alle Bedingungen zu Eurem einzigen behandelten kleinen Stoffe zuspitzen konnten? Die seltenen Fälle eines drastischen Nacheinanders greift das Drama auf. Sonst aber – lebenslange Strecken liegen zwischen einer That und ihren Folgen! Wieviel drängt sich nicht zwischen einem Schicksal hier und einem Schicksal dort! Und Ihr verbandet es doch? Und was dazwischen lag, Das warft Ihr sorglos bei Seite? Der alte Roman that Das. Er konnte nichts von Dem brauchen, was zwischen sei nen willkürlichen Motiven in der Mitte liegt. Und doch liegt das Leben dazwischen, die ganze Zeit, die ganze Wahrheit, die ganze Wirklichkeit, die Widerspiegelung, die Reflexion aller Lichtstrahlen des Lebens, kurz Das, was einen Roman, wenn er eine Wahrheit aufstellte, fast immer sogleich widerlegte und nur eine Thatsache gelten, siegen ließ, die alte Wahrheit von der – unwahren, erträumten Romanenwelt!

Der neue Roman ist der Roman des Nebeneinanders.[9] Da liegt die ganze Welt! Da ist die Zeit wie ein ausgespanntes Tuch! Da begegnen sich Könige und Bettler! Die Menschen, die zu der erzählten Geschichte gehören, und die, die ihr nur eine widerstrahlte Beleuchtung geben. Der Stumme redet nun auch, der Abwesende spielt nun auch mit. Das, was der Dichter sagen, schildern will, ist oft nur Das, was zwischen zweien seiner Schilderungen als ein Drittes, dem Hörer Fühlbares, in Gott Ruhendes, in der Mitte liegt. Nun fällt die Willkür der Erfindung fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze runde, volle Kreis liegt vor uns; der Dichter baut eine Welt und stellt seine Beleuchtung der der Wirklichkeit gegenüber. Er sieht aus der Perspective des in den Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigenthümlich, leider polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt. Resultat: Durch diese Behandlung kann die Menschheit aus der Poesie wieder den Glauben und das Vertrauen schöpfen, daß auch die moralisch umgestaltete Erde von einem und demselben Geiste doch noch könne göttlich regiert werden.

Ein solcher Versuch, die zerstreuten Lichtstrahlen des Lebens in einen Brennpunkt zu sammeln, ist die Geschichte, die ich Dir, lieber Leser, hier aufgerollt habe. Sie ist in den Thatsachen und dem sozusagen allegorischen Rahmen nicht neu, aber neu in der Verknüpfung. Kurz konnte sie ihrer Natur nach nicht werden, denn um[10] Millionen zu schildern, müssen sich wenigstens hundert Menschen vor Deinen Augen vorüberdrängen. Denke nur immer, daß der Zweck und die Aufgabe so lautet:

Die Missionaire der Freiheit und des Glaubens an die Zeit sind es ihren Gemeinden schuldig, ihnen zu zeigen, wie die ganze Fülle des Lebens von ihrem neuen Lichte beschienen sein kann und wie es sich noch mit den alten Lungen athmen lasse, überall, in jedem Winkel Gottes, den der neue Luftzug der Idee, der Pfingstzeit neues Windeswehen bestreicht. Die äußere Welt ist durch Künstlerhand allein nicht zu ändern. Laßt vorläufig unsere Minister und die Soldaten dafür sorgen! Aber die innere Welt, die, welche Jeder in seiner Brust trägt, die kann schon eine umfassende, in allen Höhen und Tiefen des Lebens aus einem Gesichtspunkte betrachtete und eine festbegründete sein. Diese Allseitigkeit war mein Ziel. Ich sage nicht, daß ich ein Panorama unserer Zeit geben wollte. Wer vermöchte Das? Die Aufgabe wäre nicht zu lösen, und anmaßend erklänge es, wollte sich ihrer Jemand anheischig machen. Aber ein gutes Stück von dieser unserer alten und neuen Welt sollte aufgerollt werden, eins, gerade groß genug, um ein Menschenleben zu ermuntern, daß es nicht verzage, sondern getrost in dem einen Geiste der Freiheit und Hoffnung fortwandle und sich die laufenden, tagesüblichen Bedrängnisse der innern Überzeugung nicht zu sehr verdrießen lasse.

Laß Dich denn also von mir, lieber Leser, in diesen Blättern einspinnen, wie der werdende Schmetterling sich in[11] den Cocon spinnt, wo er Blatt und Baum, auf dem er hülflos kroch, preisgibt und sich wie in dem Vortraum seines neuen Lichtlebens begräbt. Die Kunstrichter mögen richten; die voreilige Kritik mag Dir die Lust nehmen wollen, dem Erzähler zu folgen; achte ihrer nicht und bleibe treu dem Dich einhüllenden Gespinnst, bis dem weitern Verlaufe zu die Hülle bricht, und in anschauender Prüfung meiner Absicht auch Dein Geist mit bunten Hoffnungen und heitern Glaubensschwingen in jene Gemeinschaft der Getreuen und Vesten, der Ritter vom Geiste, aufsteigt, von deren Schicksalen diese Blätter erzählen.

Dresden, am Pfingsttage 1850.

Karl Gutzkow.[12]

Quelle:
Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. [Band 1–3], Frankfurt a.M. 1998, S. 5-13.
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