Friedrich Hölderlin

Das Werden im Vergehen

Das untergehende Vaterland, Natur und Menschen, insofern sie in einer besondern Wechselwirkung stehen, eine besondere ideal gewordene Welt, und Verbindung der Dinge ausmachen, und sich insofern auflösen, damit aus ihr und aus dem überbleibenden Geschlechte und den überbleibenden Kräften der Natur, die das andere, reale Prinzip sind, eine neue Welt, eine neue, aber auch besondere Wechselwirkung, sich bilde, so wie jener Untergang aus einer reinen, aber besondern Welt hervorging. Denn die Welt aller Welten, das Alles in Allen, welches immer ist, stellt sich nur in aller Zeit – oder im Untergange oder im Moment, oder genetischer im Werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt dar, und dieser Untergang und Anfang ist wie die Sprache Ausdruck Zeichen Darstellung eines lebendigen, aber besondern Ganzen, welches eben wieder in seinen Wirkungen dazu wird, und zwar so, daß in ihm, sowie in der Sprache, von einer Seite weniger oder nichts lebendig Bestehendes, von der anderen Seite alles zu liegen scheint. Im lebendig Bestehenden herrscht eine Beziehungsart, und Stoffart vor; wiewohl alle übrigen darin zu ahnden sind, im übergehenden ist die Möglichkeit aller Beziehungen vorherrschend, doch die besondere ist daraus abzunehmen, zu schöpfen, so daß durch sie Unendlichkeit die endliche Wirkung hervorgeht.

Dieser Untergang oder Übergang des Vaterlandes (in diesem Sinne) fühlt sich in den Gliedern der bestehenden Welt so, daß in eben dem Momente und Grade, worin sich das Bestehende auflöst, auch das Neueintretende, Jugendliche, Mögliche sich fühlt. Denn wie könnte die Auflösung empfunden werden ohne Vereinigung, wenn also das Bestehende in seiner Auflösung empfunden werden[294] soll und empfunden wird, so muß dabei das Unerschöpfte und Unerschöpfliche, der Beziehungen und Kräfte, und jene, die Auflösung, mehr durch diese empfunden werden, als umgekehrt, denn aus Nichts wird nichts, und dies gradweise genommen heißt so viel, als daß dasjenige, welches zur Negation gehet, und insofern es aus der Wirklichkeit gehet, und noch nicht ein Mögliches ist, nicht wirken könne.

Aber das Mögliche, welches in die Wirklichkeit tritt, indem die Wirklichkeit sich auflöst, dies wirkt, und es bewirkt sowohl die Empfindung der Auflösung als die Erinnerung des Aufgelösten.

Deswegen das durchaus originelle jeder echttragischen Sprache, das immerwährendschöpfrische.. das Entstehen des Individuellen aus Unendlichem, und das Entstehen des Endlichunendlichen oder Individuellewigen aus beeden, das Begreifen, Beleben nicht des unbegreifbar, unselig gewordenen, sondern des unbegreifbaren, des Unseligen der Auflösung, und des Streites des Todes selbst, durch das Harmonische, Begreifliche Lebendige. Es drückt sich hierin nicht der erste rohe in seiner Tiefe dem Leidenden und Betrachtenden noch zu unbekannte Schmerz der Auflösung aus; in diesem ist das Neuentstehende, Idealische, unbestimmt, mehr ein Gegenstand der Furcht, da hingegen die Auflösung an sich, ein Bestehendes selber wirklicher scheint und Reales oder das sich Auflösende im Zustande zwischen Sein und Nichtsein im Notwendigen begriffen ist.

Das neue Leben ist jetzt wirklich, das sich auflösen sollte, und aufgelöst hat, möglich (ideal alt), die Auflösung notwendig und trägt ihren eigentümlichen Charakter zwischen Sein und Nichtsein. Im Zustande zwischen Sein und Nichtsein wird aber überall das Mögliche real, und das Wirkliche ideal, und dies ist in der freien Kunstnachahmung ein furchtbarer, aber göttlicher Traum. Die Auflösung also als Notwendige, auf dem Gesichtpunkte der idealischen Erinnerung, wird als solche idealisches Objekt des neuentwickelten Lebens, ein Rückblick auf den Weg, der zurückgelegt werden mußte, vom Anfang der Auflösung bis dahin, wo aus dem neuen Leben eine Erinnerung[295] des Aufgelösten, und daraus, als Erklärung und Vereinigung der Lücke und des Kontrasts, der zwischen dem Neuen und dem Vergangenen stattfindet, die Erinnerung der Auflösung erfolgen kann. Diese idealische Auflösung ist furchtlos. Anfangs- und Endpunkt ist schon gesetzt, gefunden, gesichert, deswegen ist diese Auflösung auch sicherer, unaufhaltsamer, kühner, und sie stellt sie hiemit, als das was sie eigentlich ist, als einen reproduktiven Akt, dar, wodurch das Leben alle seine Punkte durchläuft, und um die ganze Summe zu gewinnen, auf keinem verweilt, auf jedem sich auflöst, um in dem nächsten sich herzustellen; nur daß in dem Grade die Auflösung idealer wird, in welchem sie sich von ihrem Anfangspunkte entfernt, hingegen in eben dem Grade die Herstellung realer, bis endlich aus der Summe dieser in einem Moment unendlich durchlaufenen Empfindungen des Vergehens und Entstehens, ein ganzes Lebensgefühl, und hieraus das einzig ausgeschlossene, das anfänglich aufgelöste in der Erinnerung (durch die Notwendigkeit eines Objekts im vollendetsten Zustande) hervorgeht, und nachdem diese Erinnerung des Aufgelösten, Individuellen mit dem unendlichen Lebensgefühl durch die Erinnerung der Auflösung vereiniget und die Lücke zwischen denselben ausgefüllt ist, so gehet aus dieser Vereinigung und Vergleichung des Vergangenen Einzelnen, und des Unendlichen gegenwärtigen, der eigentlich neue Zustand, der nächste Schritt, der dem Vergangenen folgen soll, hervor.

Also in der Erinnerung der Auflösung wird diese, weil ihre beeden Enden fest stehen, ganz der sichere unaufhaltsame kühne Akt, der sie eigentlich ist.

Aber diese idealische Auflösung unterscheidet sich auch dadurch von der wirklichen, auch wieder, weil sie aus dem Unendlichgegenwärtigen zum Endlichvergangenen geht, daß 1) auf jedem Punkte derselben Auflösung und Herstellung, 2) ein Punkt in seiner Auflösung und Herstellung mit jedem andern, 3) jeder Punkt in seiner Auflösung und Herstellung mit dem Totalgefühl der Auflösung[296] und Herstellung unendlich verflochtner ist, und alles sich in Schmerz und Freude, in Streit und Frieden, in Bewegung und Ruhe, und Gestalt und Ungestalt unendlicher durchdringt, berühret, und angeht und so ein himmlisches Feuer statt irdischem wirkt.

Endlich, auch wieder, weil die idealische Auflösung umgekehrt vom Unendlichgegenwärtigen zum Endlichvergangenen geht, unterscheidet sich die idealische Auflösung von der wirklichen dadurch, daß sie durchgängiger bestimmt sein kann, daß sie nicht mit ängstlicher Unruhe mehrere wesentliche Punkte der Auflösung und Herstellung in Eines zusammenzuraffen, auch nicht ängstlich auf Unwesentliches, der gefürchteten Auflösung, also auch der Herstellung Hinderliches, also eigentlich Tödliches abzuirren, auch nicht auf einen Punkt der Auflösung und Herstellung einseitig ängstig sich bis aufs Äußerste zu beschränken, und so wieder zum eigentlich Toten veranlaßt ist, sondern daß sie ihren präzisen, geraden, freien Gang geht, auf jedem Punkte der Auflösung und Herstellung ganz das, was sie auf ihm, aber auch nur auf ihm sein kann, also wahrhaft individuell, ist, natürlicherweise also auch auf diesen Punkt nicht Ungehöriges, Zerstreuendes, an sich und hiehin Unbedeutendes herzwingt, aber frei und vollständig den einzelnen Punkt durchgeht in allen seinen Beziehungen mit den übrigen Punkten der Auflösung und Herstellung, welche nach den zwei ersten der Auflösung und Herstellung fähigen Punkten, nämlich dem entgegengesetzten Unendlichneuen, und Endlichalten, dem Realtotalen, und Idealpartikularen liegen.

Endlich unterscheidet sich die idealische Auflösung von der sogenannt wirklichen (weil jene umgekehrterweise vom Unendlichen zum Endlichen gehet, nachdem sie vom Endlichen zum Unendlichen gegangen war) dadurch, daß die Auflösung aus Unkenntnis ihres End- und Anfangspunktes schlechterding als reales Nichts erscheinen muß, so daß jedes Bestehende, also Besondere, als Alles erscheint, und ein sinnlicher Idealismus, ein Epikuräismus erscheint, wie ihn Horaz, der wohl diesen Gesichtpunkt nur dramatisch[297] brauchte, in seinem Prudens futuri temporis exitum pp. treffend darstellt – also die idealische Auflösung unterscheidet sich von der sogenannt wirklichen endlich dadurch, daß diese ein reales Nichts zu sein scheint, jene, weil sie ein Werden des Idealindividuellen zum Unendlichrealen, und des Unendlichrealen zum Individuellidealen ist, in eben dem Grade an Gehalt und Harmonie gewinnt, jemehr sie gedacht wird als Übergang aus Bestehendem ins Bestehende, so wie auch das Bestehende in eben dem Grade an Geist gewinnt, jemehr es als entstanden aus jenem Übergange, oder entstehend zu jenem Übergange gedacht wird, so daß die Auflösung des Idealindividuellen nicht als Schwächung und Tod, sondern als Aufleben, als Wachstum, die Auflösung des Unendlichneuen nicht als vernichtende Gewalt, sondern als Liebe und beedes zusammen als ein (transzendentaler) schöpferischer Akt erscheint, dessen Wesen es ist, Idealindividuelles und Realunendliches zu vereinen, dessen Produkt also das mit Idealindividuellem vereinigte Realunendliche ist, wo dann das Unendlichreale die Gestalt des Individuellidealen, und dieses das Leben des Unendlichrealen annimmt, und beede sich in einem mythischen Zustande vereinigen, wo, mit dem Gegensatze des Unendlichrealen und Endlichidealen, auch der Übergang aufhört, so weit daß dieser an Ruhe gewinnt, was jene an Leben gewonnen, ein Zustand, welcher nicht zu verwechseln, mit dem lyrischen Unendlichrealen, so wenig als er in seiner Entstehung während des Überganges zu verwechseln ist, mit dem episch darstellbaren Individuellidealen, denn in beeden Fällen vereiniget er den Geist des einen mit der Faßlichkeit Sinnlichkeit des andern. Er ist in beeden Fällen tragisch, d.h. er vereiniget in beeden Fällen Unendlichreales mit Endlichidealem, und beede Fälle sind nur gradweise verschieden, denn auch während des Überganges sind Geist und Zeichen, mit andern Worten die Materie des Überganges mit diesem und dieser mit jener (transzendentales mit isoliertem) wie beseelte Organe mit organischer Seele, harmonisch entgegengesetzt Eines.[298]

Aus dieser tragischen Vereinigung des Unendlichneuen und Endlichalten entwickelt sich dann ein neues Individuelles, indem das Unendlichneue vermittelst dessen, daß es die Gestalt des Endlichalten annahm, sich nun in eigener Gestalt individualisiert.

Das Neuindividuelle strebt nun in eben dem Grade sich zu isolieren, und aus der Unendlichkeit loszuwinden, als auf dem zweiten Gesichtspunkte das Isolierte, Individuellalte, sich zu verallgemeinern, und ins unendliche Lebensgefühl aufzulösen strebt. Der Moment, wo die Periode des Individuellneuen sich endet, ist da, wo das Unendlichneue als auflösende, als unbekannte Macht, zum Individuellalten sich verhält, eben so wie in der vorigen Periode das Neue sich als unbekannte Macht zum Unendlichalten verhalten, und diese zwei Perioden sind sich entgegengesetzt, und zwar die erste als Herrschaft des Individuellen über das Unendliche, des Einzelnen über das Ganze, der zweiten als der Herrschaft des Unendlichen über das Individuelle, des Ganzen über das Einzelne. Das Ende dieser zweiten Periode und der Anfang der dritten liegt in dem Moment, wo das Unendlichneue als Lebensgefühl (als Ich) sich zum Individuellalten als Gegenstand (als Nichtich) verhält, – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –


Nach diesen Gegensätzen tragische Vereinigung der Charaktere, nach dieser Gegensätze der Charaktere zum Wechselseitigen und umgekehrt. Nach diesen die tragische Vereinigung beeder.[299]

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 4, Stuttgart 1962, S. 249,300.
Entstanden wohl um die Jahrhundertwende, Erstdruck in: Gesammelte Werke, hg. v. W. Böhm, Jena 1911.
Lizenz:

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon