Maylied

[232] Alles liebet! Liebe gleitet

Durch die blühende Natur,

Liebe zeuget Blumen, breitet

Manchen Teppich auf die Flur.

Das verliebte Haingefieder,

Das sich neue Zellen baut,

Tönet süße Liebeslieder,

Wenn der May vom Himmel thaut.


Liebe malt jezt hellre Rosen

Um den Mund der Schäferin,

Schäferin und Schäfer kosen

Manche goldne Stunde hin.

Sizen unter Apfelblüthen,

Arm in Arm, und Paar an Paar,

Kleine Liebesgötter bieten

Nektar ihren Lippen dar.


Unschuld blickt aus ihren Minen,

Unschuld ihres Standes Loos,

Rothe Blüthen taumeln ihnen

Aus dem Wipfel in den Schoos.

Blau und golden schwebt der Aether

Im bebüschten Gartenteich,

Alle Blüthen werden röther,

Werden Edens Blüthen gleich.


Durch die Blumen, durch die grünen

Kräuter, die der Sonnenschein

Übergoldet, summen Bienen,

Sammeln süßen Nektar ein.[232]

Alles hauchet Scherz und Freude,

Wo des Frühlings Odem bläst,

Die Natur, im Blumenkleide,

Feirt ein allgemeines Fest.


Alles küßt jetzt! Küße flüstern

In beschatteten Alleen,

Wo die Liebenden in düstern

Buchenlabyrinthen gehn.

Küße rauschen in den Lauben,

Um die Abenddämmerung,

Küße geben, Küße rauben

Ist der Welt Beschäftigung.
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Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 232-234.
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