Siebenundvierzigstes Kapitel.

Weihnachtsleiden.

[44] Endlich hatte der Doktor seine Wohnung erreicht; er sprang aus dem Wagen in's Haus und eilte die Treppe hinauf. Heute war es ihm lieb, daß die Glasthüre, obgleich gegen seinen Befehl, offen stand: brauchte er doch nicht lange zu klingeln und konnte gleich auf den Korridor gehen, wo ihn dann die Kinder am Tritte erkannten, und ihm, wie namentlich bei solchen Veranlassungen gewöhnlich, entgegen stürzen würden.

Aber diesmal kam Niemand, – er hustete, er stieß mit seinem Stock auf die Steinplatten, – umsonst! Weder Oskar noch Anna ließen sich sehen.

Kopfschüttelnd öffnete er die Thüre zum Speisezimmer, wo in der Regel der Christbaum aufgestellt wurde; da war Alles finster, aber es drang ihm ein Geruch entgegen von verbranntem Wachslicht und Tannennadeln, aber viel schärfer, als er gewöhnlich vom Anzünden des Weihnachtsbaums entsteht.

Eilig wandte er sich hierauf nach dem Kinderzimmer, öffnete hastig die Thüre und wollte mit seinem gewöhnlichen Schritte eintreten, doch kam ihm das Stubenmädchen entgegen, legte den Finger auf den Mund und sagte: »Bitte, Herr Doktor, etwas leise, sie schlafen.«

»Wer schläft?« fragte er überrascht.

»Nun, die Kinder, wenigstens liegen sie ganz ruhig.«

»Und schon so frühe, ehe ich den Weihnachtsbaum anzündete und ihnen bescheerte?«

»Ja, – ja – Herr Doktor –« erwiderte das Mädchen[45] ziemlich verlegen, »es ist uns heute Abend ein kleines Unglück geschehen.«

»Wem ist ein Unglück geschehen?«

»Eigentlich nicht uns, sondern der Frau Doktorin.«

»So, ist meine Frau krank?« fragte der Doktor und wollte eilig das Zimmer verlassen.

»Nein, die Frau Doktorin sind ganz wohl, aber ich wollte nur sagen: ihr ist eigentlich das Unglück geschehen mit den Kindern.«

»Um Gotteswillen! was ist's mit den Kindern?« rief erschreckt der Vater. Und dabei drückte er das Mädchen auf die Seite und eilte wieder hinaus in's Zimmer. – »Wo ist Frau Bendel?«

Die Aufgerufene kam zwischen den Betten hervor, in welchen die Kinder lagen und ging ihrem Herrn mit einem mehr verdrießlichen als verlegenen Gesichte entgegen.

»Mach' Sie doch keinen solchen Lärmen!« sagte sie zum Stubenmädchen; »man sollte ja glauben, hier läge Alles in den letzten Zügen. – O, es ist nicht so schlimm,« wandte sie sich an den Doktor, »Oskar und Anna haben ein kleines Unglück gehabt, wie das bei Kindern häufig vorkommt. Wir wußten nicht, wo der Herr Doktor augenblicklich sei, sonst hätten wir Sie gleich rufen lassen; auch fuhr gerade der Herr Obermedizinalrath vorbei, als ich an der Hausthüre stand, um mich nach Ihnen umzusehen, und da rief ich diesen herauf.«

Jetzt schien die große Geduld des Arztes vollkommen erschöpft zu sein. Er schwenkte seinen Stock heftig in der Hand und sagte mit leiser, aber vor Zorn zitternder Stimme: »Wollen Sie nun endlich die Güte haben, Frau Bendel, mir gehörig der Reihe nach zu erzählen, was wieder in diesem Hause für Dummheiten und Unglücke vorgefallen sind?«

Bei diesen Worten warf das Stubenmädchen den Kopf in die Höhe und ging, heftig mit den Achseln zuckend, an den Tisch zurück, wo ihre Näherei lag.[46]

»Nun?« sprach der Hausherr ungeduldiger.

»So Fürchterliches ist gerade nicht geschehen,« antwortete finster Frau Bendel. »Und dann kann ich eigentlich nichts dafür, ich habe keine Dummheiten gemacht und man braucht nicht immer die Schuhe an mir abzuputzen. – Nun ja, der Christbaum stand im Eßzimmer fertig, alle Spielsachen darunter und sobald es dunkel wurde, wollte Madame die Bescheerung vor sich gehen lassen.«

»Ich hatte aber befohlen, damit zu warten, bis ich nach Hause käme!«

»Dafür kann ich nichts; Madame befahl mir, wie schon gesagt, sobald es dunkel würde, die Lichter anzuzünden.«

»Und Madame that das nicht selbst?« fragte verwundert der Hausherr.

»Nein, Madame wollten später kommen, wenn die Kinder ihre Sachen erhalten hätten und der erste Lärm vorbei sei.«

Gerechter Gott! dachte der Doktor, und schlug die Hände über einander, das nennt die Frau einen Lärmen und will nicht sehen, wie die Kinder mit den weit offenen, glänzenden Augen in das Zimmer treten, wie sie überhaupt auf der Schwelle stehen bleiben, dann entzückt auf den leuchtenden Baum zustürzen, und nun nach und nach mit immer größerem Jubelgeschrei ein Geschenk um das andere entdecken! – Es macht der Frau kein Vergnügen, zu sehen, wie sie nun bei jedem neuen Stücke den Eltern dankbar in die Arme fliegen, sie herzlich küssen und darauf mit an den Tisch hinziehen, um ihnen dieß oder das zu zeigen! – – »Also Madame ließ den Baum anzünden?« fuhr er nach einer Pause und zwar mit großer Ruhe fort, denn sein Herz durchzog ein eisiges Gefühl. »Nun, das Uebrige kann ich mir allenfalls denken. – Aber erzählen Sie, Frau Bendel, erzählen Sie es ganz genau!«

»Also wir zündeten den Baum an, und ich muß schon sagen, die Kinder hatten eine große Freude über Alles, namentlich Oskar sprang in Einem fort herum und war wie ausgelassen.«[47]

»Das kann ich mir denken.«

»Nun ging ich einen Augenblick hinaus,« fuhr Frau Bendel zögernd fort, »und dort die Nanette blieb bei den Kindern.«

»Nein, nein, Frau Bendel, das ist falsch,« entgegnete eifrig das Stubenmädchen, »mir hatte Madame schon vorher geklingelt, ich mußte ihr ja helfen anziehen.«

»Ich weiß ganz genau, daß Sie im Zimmer war,« sagte hartnäckig die Kindsfrau, »sonst wär' ich gewiß nicht hinausgegangen.«

»Bei Ihrem Diensteifer gewiß nicht,« versetzte der Doktor mit einer erstaunenswerthen Ruhe; doch zitterte seine Hand mit dem Stocke und die Krempe seines Hutes drückte er ganz zusammen. – »O ich kenne das ganz genau. Gebt euch deßhalb keine Mühe, die Schuld auf das Andere zu schieben, ich will nur einfach das Faktum wissen; – – die Thatsache, Frau Bendel, wie es auf deutsch heißt, oder, um mich noch deutlicher auszudrücken, was geschehen ist, nachdem die Kinder allein geblieben bei dem brennenden Baum. Denn daß sie allein geblieben, ist mir schon klar geworden.«

»Das ist freilich nicht zu leugnen; aber gewiß ohne meine Schuld.«

»Und ohne die meinige,« sagte schnippisch das Stubenmädchen.

»Was geschah?« rief nun der Doktor ziemlich laut, indem er nach den Armen der Kindsfrau griff, die er wahrscheinlich fest gefaßt hätte, wenn sie nicht zurückgewichen wäre.

»Wir waren also noch nicht lange zur Thüre hinaus,« erzählte diese weiter, und versuchte es, einen weinerlichen Ton anzunehmen, »da hörten wir ein großes Geschrei, und als wir nun augenblicklich in's Zimmer zurückstürzten, sahen wir, daß der Baum vom Tische herabgefallen war. Oskar hatte gewiß daran gezerrt –«

»Der brennende Baum war vom Tische gefallen?« rief erschrocken der Doktor. – »Und auf die Kinder?«[48]

»Nur mit der Spitze auf Oskar; aber, bei Gott im Himmel! Herr Doktor, nicht bedeutend, er hat nur das Haar etwas versengt und das rechte Ohr –«

»Er hätte verbrennen können!« warf entsetzt der Vater dazwischen. – »Und Anna?«

»Sie wollte auf die Seite springen, stolperte über einen Schemel und ritzte sich im Fallen die Haut über dem einen Auge blutig.«

»Jetzt wüßten wir die Thatsachen,« meinte wieder mit auffallend ruhigem und stillem Wesen der Doktor. – »Nun wollen wir nachsehen, wie viel ihr verschwiegen habt.«

Er legte Hut und Stock auf eine nahestehende Kommode und ging in das anstoßende Zimmer, wo sich die beiden Kinder in ihren Bettchen befanden.

Sie hatten sich Beide so sehr auf den heutigen Abend gefreut, sie hatten immer darauf gewartet, der Vater werde kommen, den Weihnachtsbaum anzünden und sie nun wie gewöhnlich in das Zimmer führen. – Und der Vater blieb so lange aus, weßhalb Beide dachten, er hätte sie am heutigen Abend vergessen, denn sie wußten nicht, daß er befohlen, man sollte warten, bis er heim käme. – Und darauf hätten sie so gerne gewartet! Doch Mama ließ ihnen den Baum anzünden, ohne selbst dabei zu sein, und sie freuten sich auch wohl recht, aber nicht so, wie sonst. – Da wollte Oskar einen Reiter herab nehmen, der an dem Baume hing, und da er ein wenig zu heftig zog, so bekam der Baum, schwer an Zuckerwerk, Nüssen und Lichtern, das Uebergewicht, und statt der Freude mußte Oskar sowie Anna zu Bette gehen und dort viele Schmerzen aushalten; beide schliefen nicht, sondern warteten auf den Vater. Endlich hörten sie seinen Wagen anfahren, hörten ihn die Treppen herauf springen, dann in's Zimmer kommen, und vernahmen, wie Frau Bendel die ganze Geschichte erzählte. – Nun fürchteten sie sich,[49] wagten nicht ein Wort zu sprechen, ja sie schlossen die Augen und so konnte man glauben, sie schliefen.

Als sich aber der Vater leise den Bettchen näherte, sich darüber hinbeugte und tief betrübt sagte: »Ihr armen, armen Kinder!« da fingen sie Beide an heftig zu weinen, streckten ihre Aermchen in die Höhe und riefen wie aus einem Munde: »Oh Papa, Papa, es ist gut, daß du endlich gekommen bist.«

»Wir haben so lange auf dich gewartet,« setzte Oskar hinzu.

»Und hätten gerne noch länger gewartet mit dem Anzünden des Baumes,« meinte das kleine Mädchen – –

»Bis du nach Hause gekommen wärest, lieber Papa,« unterbrach sie der Bruder. »Weißt du, wie gewöhnlich, wenn wir uns unter der Thüre beide Augen zuhalten mußten und du nun zähltest: eins – zwei – drei. Ah! das war immer so arg schön!«

»So wollen wir es auch wieder machen,« versetzte beruhigend der Vater. »Jetzt müßt ihr aber recht ruhig sein.«

»Wann wollen wir es wieder so machen, lieber Papa?« fragte Oskar.

»Vielleicht morgen Abend, mein Kind. Wenn du recht ruhig bist, bringt dir das Christkindlein wohl heute Nacht einen neuen Baum.«

»O, das wäre prächtig!« entgegnete Oskar, und ließ sich nun recht gern in seinem Bettchen aufsetzen, vom Vater den Verband abnehmen und nach seiner Verwundung sehen.

Die war nun wohl schmerzhaft gewesen, aber glücklicherweise nicht gefährlich. Der Obermedizinalrath hatte Umschläge von cullatischem Wasser befohlen, und die wurden fortgesetzt. Bei Anna, deren Schramme über dem Auge nicht tief war, legte man einfach kleine Kompreßchen auf, die mit kaltem Wasser angefeuchtet waren.

Der Doktor setzte sich zwischen die Betten seiner Kinder und ließ sich erzählen, welche Herrlichkeiten ihnen das Christkind bescheert.[50] Das Meiste aber hatten sie in dem Schrecken und der Verwirrung wieder vergessen und der Vater freute sich darauf, ihnen morgen mit einem anderen Baum, der wohl anzuschaffen sein würde, eine neue Bescheerung zu veranstalten. Und hiezu gab er eine kleine Hoffnung, was sie mit vieler Freude erfüllte. Sie reichten ihm dann zur guten Nacht ihren kleinen rothen Mund, den er herzlichst und innigst küßte, Anna schlang dabei ihr Aermchen um seinen Hals und drückte ihn fest an sich. – »Gute Nacht, lieber, guter Papa,« sagten sie; und hierauf ging dieser mit leisen Schritten in das Vorzimmer.

Frau Bendel und das Stubenmädchen saßen da tief gekränkt im Gefühle ihrer Unschuld; Beide hatten Recht, wie denn überhaupt die weiblichen Dienstboten bei jeder Veranlassung Recht zu haben pflegen, und Beide machten ihrem Herrn ein grimmiges, unverschämtes Gesicht, wie das so der Brauch ist in dieser verderbten Welt.

Der Doktor schien übrigens die unmuthig emporgezogene Nase des Stubenmädchens, sowie die verdrießlich herabhängende Unterlippe der Frau Bendel gar nicht zu bemerken, sondern nahm seinen Hut und Stock und sagte in bestimmtem Tone zu der Kindsfrau: »Feuchten Sie die Umschläge noch einmal an, ehe Oskar und Anna einschlafen, dann lassen Sie die Kinder ruhen.« Hierauf ging er der Thüre zu, blieb aber vor derselben stehen und fragte: »Wo ist meine Frau?«

Da er diese Frage an keine der Beiden schwer Beleidigten speziell richtete, so erhielt er auch keine Antwort, und mußte sie wiederholen; und zwar richtete er sie nun an das Stubenmädchen.

»Madame sind unten bei Oberjustizraths,« antwortete sie kurzweg, »werden aber gleich herauf kommen.«

»Zur Vorsorge, daß sie auch gewiß kommt, können Sie ihr sagen, ich sei da,« versetzte der Doktor, worauf er das Zimmer verließ und in den Salon hinüber ging.[51]

Die Köchin, die draußen vor der Thüre, scheinbar um zu leuchten, in Wahrheit aber, um »den Spektakel« nicht zu versäumen, gewartet hatte, folgte ihm.

Der Doktor befand sich immer noch in seinem Paletot, den er auf der Straße trug, er zog ihn aber, im Zimmer seiner Frau angekommen, sogleich aus; und als er ihn nun über die Stuhllehne hängte, bemerkte er in der Tasche die beiden Paketchen mit den Sachen, die er für seine Frau gekauft. Er warf sie auf den nebenan stehenden Tisch, dann legte er die Hände auf dem Rücken zusammen und spazierte nachdenkend im Zimmer auf und ab.

Sein Zorn war verraucht; es war nichts übrig geblieben als ein tiefer Schmerz, ein wehmüthiges Gefühl, daß ihm auch dieser Abend, die Freude, die er an demselben zu genießen gehofft, durch die Gleichgültigkeit seiner Frau verdorben worden. Würde er sie bei seinem Eintritt in das Kinderzimmer gesehen haben, so hätte es vornherein eine starke Scene gegeben, denn er war im ersten Augenblicke außer sich. So aber hatte er sich gefaßt, und er wurde kälter und kälter, je länger er in dem Salon auf und ab spazierte.

Madame ließ ihn ziemlich lange da spazieren, ehe sie erschien.

»Was hilft's mich,« dachte er in seiner übergroßen Herzensgüte, »wenn ich ihr jetzt harte oder ernste Worte sage, wenn ich sie frage, warum sie meinen Befehl nicht befolgt und mit dem Anzünden des Baumes nicht gewartet, bis ich nach Hause gekommen? – Wird sie ihr Unrecht einsehen? – Gewiß nicht! Am allerwenigsten, wenn ich es ihr ernstlich vorhalte. Und wenn sie es nicht einsieht, wird sie sich auch nicht bemühen, ihr Leben in so vielen Dingen zu ändern.«

»Nein, nein! sie wird es nicht ändern,« sprach er halblaut vor sich hin, indem er mit der Hand über die Stirne fuhr, »sie wird es nicht ändern, weil sie nie ihr Unrecht einsieht. – Auch ist es ja der heilige Christabend, und da ist es besser, ich lasse Fünfe gerade sein, als daß ich einen Streit mit ihr anfange. – Hoffentlich wird sie mich heute Abend wenigstens mit einem freundlichen[52] Gesicht empfangen, denn ihr Herz muß ihr doch sagen, daß sie schwer gefehlt, wenn sie das auch mir nicht eingestehen will. – Ach ja, sie wird zuvorkommend, vielleicht herzlich sein. – – Aber sie könnte jetzt ihren Besuch da drunten abbrechen,« fuhr er nach einer längeren Pause fort, »sie muß doch lange wissen, daß ich da bin.« –

Bald darauf hörte man Schritte auf der Treppe, die Glasthüre wurde geöffnet, dann die Salonthüre, und Madame trat herein. Ob sie ihren Gemahl mit einem Kopfnicken begrüßte, sind wir nicht im Stande, genau anzugeben; daß sie aber sein freundliches »Guten Abend« mit keiner Silbe erwiderte, darauf können wir schwören. Sie drückte die Thüre etwas stark hinter sich in's Schloß, ging langsam in die Mitte des Zimmers, wo der Tisch stand, stützte ihre Hand darauf und sagte ziemlich laut: »Da bin ich denn. – Was soll es schon wieder?«

Wir müssen gestehen, daß der Doktor durch den Anblick seiner Frau sehr unangenehm überrascht war; von dem freundlichen Gesicht, das er zu sehen gehofft, war keine Spur zu bemerken, sie stand da, den Kopf ziemlich erhoben, mit den Augen zwinkend, und nagte an der Unterlippe, was Alles bei ihr ein Zeichen schlechter Laune war.

»Das ist eine seltsame Frage von dir,« entgegnete er. – »Was du hier sollst, wenn dein Mann nach Hause kommt? – In der That seltsam für jeden Abend, aber doppelt seltsam für ein Fest wie das heutige. Da meine ich denn doch, es verstände sich von selbst, daß du, wenn du nicht auf deinem Zimmer bist und ich dich rufen lasse, freundlich kommen und mir einen guten Abend bieten könntest.«

Madame warf den Kopf auf die Seite und gab keine Antwort.

Der Doktor rieb sich die Stirne, denn er fühlte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. – »Ich an deiner Stelle,« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »hätte überhaupt am heutigen Abend meine Wohnung nicht verlassen, und das aus zweierlei Gründen: erstens, um[53] nach meinen Kindern zu sehen, die ja krank zu Bette liegen, und zweitens, um mir, deinem Manne, sogleich sagen zu können, auf welche Art die Kinder, die heute Mittag noch so frisch und munter waren, von dem Unfälle betroffen waren.«

»Und dabei wohl um Verzeihung bitten?« fragte sie mit einem bittern Lächeln.

»Wenn du etwas Unrechtes gethan hast, allerdings.« versetzte er. »Und wenn du irgendwie gegen meine Befehle gehandelt, so würde es durchaus für dich keine Schande sein, wenn du ein Wort der Entschuldigung hören ließest.«

»Es ist leicht gegen deine Befehle handeln,« antwortete die Frau, »denn du befiehlst den ganzen Tag, bald dies, bald das, bald rechts, bald links, bald so, bald so. Und diese Befehle kreuzen sich so hin und her, daß es sehr verzeihlich ist, wenn man täglich ein halbes Dutzend vergißt.«

»Gott sei Dank!« dachte der Doktor, »sie antwortet doch wenigstens. Also wird die Scene nicht so schlimm werden.«

»Deinen Befehl für den heutigen Abend, auf den du anspielst,« fuhr sie fort, »hatte ich übrigens keine Lust zu befolgen; ich sehe gar nicht ein, weßhalb ich immer warten soll, bis es dir einmal gefällt, nach Hause zu kommen.«

»Bis es mir einmal gefällt, nach Hause zu kommen?« entgegnete schmerzhaft berührt der Doktor. »Du hast sehr Unrecht, das zu sagen, da du wohl weißt, daß ich nicht Herr meiner Zeit bin.«

»Ich will mit dir nicht streiten!« sagte sie wegwerfend, »da komme ich doch zu kurz. Aber heute machte es mir nun einmal Spaß, sobald es dunkel wurde, den Kindern ihren Weihnachtsbaum anzünden zu lassen, weil es alle vernünftigen Leute gerade so machten. – Ist das denn ein fürchterliches Unrecht?«

»Ja,« sprach er fest und ruhig, aber ohne Zorn, während er sich gleichfalls dem Tische näherte und ihr gegenüber trat. »Und[54] gerade in dem Anzünden lassen liegt ein doppeltes Unrecht; hätten die armen Kinder dich gebeten, ihnen doch jetzt schon die Freude zu machen, hätte dein Mutterherz diesen zärtlichen Bitten nicht mehr widerstehen und du nicht mehr erwarten können, bis die Kinder dir jubelnd in die Arme sprangen mit herzlichem Danke, so wäre es dir zu verzeihen, daß du meinen Wunsch, meinen Befehl nicht beachtet. – Aber da es dir, – auf deinem Fauteuil,« fuhr er heftiger fort, »vollkommen gleichgültig sein konnte, ob die Kinder jetzt oder später ihren Weihnachtsbaum erhielten, – denn du sahst nicht ihr Entzücken, ihre kindliche Freude, – so hättest du das, was ich angeordnet, respektiren sollen und mir dadurch neuen Verdruß und den Kindern den Unglücksfall ersparen können.« –

»Ja, ja, es ist schon recht,« entgegnete sie und wandte dabei den Kopf ab; »es kann in diesem Hause kein Tag ohne Streitigkeiten vergehen, und wenn nichts mehr da liegt, so suchst du etwas von weiter herbei.«

»Ich suche was herbei!« sprach er im Tone des Vorwurfs.

»Was weiß ich, was dir am Tage Unangenehmes passirt ist; aber Alles, worüber du draußen deinen Zorn nicht auslassen kannst, das müssen wir hier entgelten, namentlich ich. – Ah, es ist am Ende sehr leicht, verdrießlich nach Hause zu kommen und alsdann ohne alle Ursache Scenen absichtlich herbeizuführen.«

»Scenen absichtlich herbeiführen!« versetzte er mit zornigem Lachen; »und das ohne alle Ursache! – Sage mir, Frau, woher nimmst du die Stirne, um mir nach Dem, was vorgefallen, solche Dinge in's Gesicht hinein sagen zu können. – Scenen absichtlich herbeiführen! Ich war ruhig wie ein Engel, als du in's Zimmer hereintratst, – ich hatte mir auch vorgenommen, es zu bleiben, nicht weil es auf dich einen Eindruck machen würde, sondern hauptsächlich, weil es der heilige Abend ist, – einer unserer höchsten Festtage. – Hahaha! ein schöner Festtag für mich! – Nun also, ich wollte ruhig bleiben, und ich wäre es, bei Gott im Himmel! auch[55] geblieben, wenn du – du, im Bewußtsein deines Fehlers gegen mich, es nur der Mühe werth gefunden hättest, ein Wort der Entschuldigung fallen zu lassen. – O nicht einmal das! – Ein Wort der Entschuldigung? – So viel verlangt man nicht von dir; nein, nein! nur ein freundliches Gesicht hättest du mich sollen sehen lassen, mir nur die Hand entgegen strecken und zu mir sagen: ah! da bist du ja; ich freue mich. – Dann hätte ich dir in meinem Herzen gedankt, und wenn du mir den Unfall von dahinten erzählt hättest,« – damit streckte er die Hand aus, – »so hätte ich dir liebreich gesagt: laß uns das eine Lehre sein, mein Kind, daß Eins des Andern Wünsche, wo es thunlich ist, erfüllt.«

»Also eine Lehre hätte es doch gegeben! – Nun, das habe ich mir gedacht.«

»Aber du willst keinen Frieden!« rief der Doktor laut, indem er vor Zorn zitterte, »du selbst willst nichts von Ruhe, und gönnst auch mir keine. – Nun wohlan denn, mir kann es recht sein; aber jetzt, da du mich auch wieder aus meinem stillen Frieden hinaus gejagt hast, so sollst du wenigstens hören, wie tief du mich verletzt. – Gott da oben weiß es, wie sehr ich mich den ganzen ermüdenden Tag über auf den heutigen Abend gefreut, auf meine Kinder und ihre Glückseligkeit, auf ein stilles Beisammensitzen mit euch. – Und nun ist Alles, Alles wieder dahin!«

»Im Gegentheil,« erwiderte Madame, indem sie ihrem Manne recht dreist in die Augen sah, »jetzt erst hast du erreicht, was du gewünscht: du darfst nach Herzenslust schimpfen und toben.«

»Ja, und das will ich!« schrie nun der arme Doktor im höchsten Zorne.

Und so leid es uns thut, können wir bei unserer Wahrheitsliebe dem geneigten Leser nichts verschweigen: er schlug dabei so heftig auf den Tisch, daß einige Flaschen und Gläser, die dort standen, in die Höhe fuhren.

Die Doktorin wich mit einem bösen Blick einen halben Schritt[56] zurück, warf sich aber drohend in Positur und öffnete ihre Augen so weit als möglich.

»So höre denn auch mein Toben,« fuhr er fort. »Wenn du eine Frau von Erziehung und Gefühl wärest, – o Gott! wenn du nur allein ein fühlendes Herz hättest, so würdest du begreifen, wie sich ein Vater das ganze Jahr darauf freuen kann, am Weihnachtsabend seinen lieben Kindern die Bescheerung selbst zu veranstalten; da würdest du fühlen, daß die ganze Seligkeit dieses Gebens in dem Momente liegt, wo die armen kleinen Kinder dastehen, überrascht und sprachlos vor Entzücken. – Den Moment hast du mir leichtsinnig ge – – nommen. – Und hast du vielleicht für dich selbst diesen Raub an meinem Herzen begangen? – O, das wäre verzeihlich! – Aber nein! – nein! – nein! Du stahlst mir diese kostbare Stunde, um sie in höchster Gleichgültigkeit fremden Leuten hinzuwerfen, die sie doch nicht zu würdigen verstehen.«

Madame nagte heftig an ihrer Unterlippe, zwinkerte auch etwas stärker als gewöhnlich mit den Augen, sonst aber ließ sich auf ihrem leidenschaftslosen Gesichte keine Spur irgend einer Aufregung ersehen, ja sie lächelte sogar, als sie sagte: »Dein Humor von heute Abend übertrifft sich. Du sprichst von Bildung und Gefühl, und wirfst deiner Frau vor, sie raube und stehle.«

Der Doktor zuckte heftig zusammen, denn das war eins ihrer gewöhnlichen Manöver, daß sie irgend ein Wort aus dem Zusammenhange oder dem Sinn des Ganzen heraus riß und ihm nun hartnäckig vorwarf.

»Also ich raube und stehle?« wiederholte sie. »Schön! das habe ich noch nicht gewußt.«

»Eine kostbare Stunde hast du mir heute Abend wieder geraubt, wie schon früher unzählige, habe ich gesagt und sage es wieder,« entgegnete der Doktor, indem er die geballte Faust auf den Tisch stützte und ihr, sich vorn überbeugend, fest in die Augen sah. – »Nur in der Beziehung, sprach ich dieses Wort; ich bitte – Frau[57] – daß du die Gnade haben mögest, mich zu verstehen, mir nicht den Sinn meiner Worte zu verdrehen und mich jetzt einmal ohne Einwendung anzuhören, bis ich zu Ende bin.«

»Wenn die Scene noch lange andauern soll,« erwiderte sie, »so wirst du mir vielleicht erlauben, daß ich mich einen Augenblick niedersetze, denn ich kann das sitzend ebenso gut wie stehend genießen.«

Damit wollte sie sich vom Tische entfernen, doch faßte der Doktor in höchster Wuth nach ihrem Handgelenke, nahm es fest zwischen seine Finger und hielt sie auf diese Art zurück.

»Nein,« sagte er und seine Augen sprühten Blitze, »du sollst mich stehend anhören, denn meine Rede soll deine Strafe sein, und Strafen empfängt man nicht im weichen Fauteuil – Madame! – Wenn überhaupt nicht das Sitzen deine Leidenschaft wäre, so stände es anders um mein Haus, um mich und die Kinder. Aber was kann man von den Dienstboten verlangen, wo Madame zu – faul ist, – ja, ich habe es gesagt, – um sich auch nur im Geringsten ihres Hauswesens anzunehmen! Der Beweis ist der heutige Abend. Ist es nicht Faulheit und Gleichgiltigkeit, – von mangelndem Gefühl will ich gar nicht mehr reden, – daß sich Madame am heutigen Abend den Teufel um ihre Kinder bekümmert, sie fremden Leuten überläßt? – Fremden Leuten, die so wenig überwacht sind, daß sie sich ihrerseits ebenfalls unterstehen, die armen Geschöpfe ohne Aufsicht zu lassen, so daß nur der Schutz des guten Gottes daran schuld ist, daß nicht Brandunglück und Tod in meinem Haus eingekehrt sind.«

Bei diesen letzten Worten ließ er ihre Hand los und faltete seine Arme auf der Brust, wobei er tief Athem schöpfte und die Frau mit einem festen Blicke ansah.

Madame war vorhin ein klein wenig erbleicht, doch faßte sie sich bald wieder, und als sich von ihrem Handgelenke die umklammernden Finger ihres Gatten gelöst, blickte sie die Röthe, die durch[58] diesen Druck entstanden, einen Augenblick mit verächtlich aufgeworfenem Munde an, dann sagte sie achselzuckend: »Natürlicherweise, so muß man mich behandeln! Ich verdiene das, denn was kann Jemand, der raubt und stiehlt, und der an Brandunglück und Tod im eigenen Hause schuld ist, anders verlangen? – Aber ich habe diese Scenen satt,« fuhr sie nach einer Pause fort, »vollkommen satt und ertrage sie nicht länger. – Ich sehe wohl, daß ich anfange hier überflüssig zu werden, und machen kann, was ich will, ohne daß ich im Stande bin, Streit, Zank – alles Mögliche zu verhüten. – Auch bin ich zu stolz, irgendwo geduldet zu sein; meine Rechte als Hausfrau scheint man hier nicht anerkennen zu wollen, indem man mich wie eine Magd behandelt. Das will ich ändern und deßhalb heute noch zu meiner Mutter hinaus, um mich mit ihr zu besprechen, wie diese Sache auf die schicklichste Art und zur Zufriedenheit beider Theile geändert werden kann.« – Sie warf den Kopf in die Höhe und stemmte die rechte Hand fest auf den Tisch. Dann schloß sie nach einer kleinen Pause: »Ich werde hoffentlich die Erlaubniß erhalten, über diesen Gegenstand mit meiner Mutter sprechen zu dürfen?« – Sie wartete einen kleinen Augenblick auf Antwort, dann wandte sie sich um und eilte zum Zimmer hinaus, wobei ihr Fuß hart auftrat und ihr Kleid aus schwerem Seidenstoffe heftig rauschte.

Draußen auf dem Gange stoben die drei dienstbaren Geister, die Köchin, die Kindsfrau und das Stubenmädchen, eilfertig auseinander und von der Thüre weg, als sie vernahmen, daß diese geöffnet wurde. Sie hatten es in ihrer Diensttreue für nothwendig gehalten, kein Wort von der kostbaren Scene im Salon zu verlieren, und die Dame der Küche ließ aus diesem wichtigen Grunde die Suppe verbrennen, Nanette vergaß ihre Stickerei, und Frau Bendel konnte es nicht sehen, daß Anna sich in ihrem Bettchen aufgerichtet hatte und sehnsüchtig nach der Wärterin rief, weil sie die Wunde am Kopfe wieder schmerzte.[59]

Es ist schade, daß wir in diese wahrhaftige Geschichte keine Spukgestalten hinein bringen können, denn sonst würden wir, gewiß zum großen Vergnügen des geneigten Lesers, hier einen Prügelgeist erfinden, der unsichtbar hinter den Zuhörern auf dem Gange stände, um im geeigneten Momente eine Legion unsichtbarer, aber sehr kräftiger Ohrfeigen loszulassen. – O, wenn es nur solche Prügelgeister gäbe!

Der Doktor war an dem Tische stehen geblieben und hatte seiner Frau nachgeblickt, bis sich die Thüre hinter ihr geschlossen, dann ließ er die Arme sinken, seufzte aus tiefem Herzensgrunde und sagte: »Sie mag thun, was sie verantworten kann, ich will sie nicht zurückhalten.«

Hierauf nahm er die Carcelllampe vom Tisch, doch während er sie in sein Arbeitszimmer hinüber trug, zitterte seine Hand so heftig, daß Kugeln und Glas beständig zusammen klirrten.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Hackländer: Europäisches Sklavenleben, 5 Bände, Band 3, in: F.W.Hackländer’s Werke. Stuttgart 31875, S. 44-60.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Paoli, Betty

Gedichte

Gedichte

Diese Ausgabe fasst die vier lyrischen Sammelausgaben zu Lebzeiten, »Gedichte« (1841), »Neue Gedichte« (1850), »Lyrisches und Episches« (1855) und »Neueste Gedichte« (1870) zusammen. »Letzte Gedichte« (1895) aus dem Nachlaß vervollständigen diese Sammlung.

278 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon