Einundfünfzigstes Kapitel.

Eine Bescheerung.

[116] Während solchergestalt in der Wohnung der Madame Wundel über Clara Staiger verhandelt wurde, ging diese zu gleicher Zeit in ihrem Wohnzimmer unruhig auf und ab. Bald eilte sie in die Nebenstube, wo ihr Vater seinen ganzen Reichthum an Geschichten den Kindern schon mehrere Male erzählt hatte, und wo nur die höchst merkwürdigen Schicksale des Däumlings, sowie die Liebe zu Herrn Arthur, auf welchen man immer noch wartete, im Stande waren, die schlaftrunkenen Augen des Bübchens offen zu halten. Auch Marie wischte sich häufig die Augen, legte ihr Köpfchen öfters an die Brust des Vaters und fuhr nicht selten aus einem leichten Schlummer in die Höhe, wenn dieser im Laufe seiner Erzählung stärker sprach und zum Beispiel sagte: »Seht ihr Kinder, so ist es dem Däumling ergangen.«

Die Tänzerin trat häufig an das Fenster, blickte auf die Straße hinaus und legte mehrmals ihre heiße Stirne an die kalten Scheiben.

Draußen jagten Schneeflocken und Regen, vom Winde gepeitscht, vorüber, und am Himmel schwammen dichte Wolken in wilden phantastischen und zerrissenen Formen. Man konnte sie nun sehen, da der Mond hinter ihnen aufgestiegen war und sie mit seinem vollen Lichte beschien. Dies Licht und die schwarzen Wolken kämpften auf diese Art miteinander; bald war der weiße Schein Sieger und überstrahlte für Augenblicke freundlich die nassen tropfenden Dächer und glänzte auf den Wetterfahnen, die jetzt ein paar Sekunden fast ruhig standen und nur leicht hin und her wankten, um gleich darauf wieder kreischend herum zu fahren, wenn neue[117] Windstöße daher fuhren und mächtigere, schwärzere Wolken vom Horizont herauf führten, die das weiße Mondlicht auszulöschen schienen und schwarze drohende Schatten auf die noch einen Augenblick vorher so klar beschienenen Straßen warfen.

Ringsum war Alles stille; nach der Lust des heutigen Abends hatten sich die meisten Nachbarn frühe zu Bette begeben; nur hie und da war noch ein Fenster beleuchtet, nur hie und da hörte man noch ein Geräusch, – vielleicht das entfernte Rollen eines Wagens, den Fußtritt eines einsamen Wanderers oder die schallenden Hammerschläge eines Schusters in der Mansarde gegenüber, der noch mit seinen Stiefeln für den morgenden Festtag im Rückstande war.

In Claras Herzen sah es finster und betrübt aus, wie draußen in der stürmischen Nacht, und wenn auch zuweilen, wie dort ein hervorbrechender Mondstrahl die dunkeln Häuser, ein freundlicher Gedanke ihr Inneres erhellte, wenn sie sich sagte: er kommt gewiß noch, es war ihm unmöglich, früher seine Gesellschaft zu verlassen, so zerfloß doch gleich darauf wieder dieser schwache Trost, indem sie dachte: nein, nein, erdenkt nicht an dich; er hätte lange da sein können, aber es gefällt ihm, wo er ist, und wenn er auch noch auf einen Augenblick kommt, so thut er es nur, um der armen Tänzerin noch einen unbedeutenden Brocken seiner Gunst hinzuwerfen, – die ja glückselig sein wird, daß er überhaupt nicht ganz ausbleibt.

Und das war ja die Wahrheit; sie konnte sich das nicht verhehlen, und wenn sie die Hände auch noch so fest auf das schmerzlich klopfende Herz drückte, so sprach doch hier der einzige Schlag von ihm und wagte es, ihrem weiblichen Stolze gegenüber zu flüstern: ja, wenn er auch nur noch für einen Augenblick kommt, und selbst dann erst, wenn er draußen vom Vergnügen gesättigt ist, so will ich glückselig sein und jubeln über die kleine Minute, die mir ihn zu sehen noch vergönnt ist. – So innig liebte ihn[118] das Mädchen, daß sie dergleichen dachte, obgleich es fast ihr Herz brach, daß sie nur in der Welt sein sollte, um für ihn am Ende aller anderen Dinge zu kommen. Und sie weinte im Stillen heiße Thränen, daß es ihr nicht einmal erlaubt war, ihn fragen zu dürfen: »Warum kommst du so spät, warum nicht frühe, wie du es versprochen?«

Der heilige festliche Weihnachtsabend, auf den sie sich so sehr gefreut, und zu dem sie zum ersten Mal seit Jahren so schöne glänzende Vorbereitungen getroffen, war dahin geschwunden, traurig und betrübt. Da standen die Weihnachtsbäume noch unangezündet, die Liebesgaben noch mit weißen Tüchern bedeckt, und während schon alle anderen Kinder nach gehabter Lust in ihren Bettchen lagen, während deren Wangen glühten von den süßen Träumen über den vergangenen festlichen Abend, sahen ihre armen kleinen Geschwister draußen im halbdunkeln Vorzimmer; sie warteten wohl noch auf die verheißene Freude, aber sie sehnten sich nicht mehr darnach, denn der Schlaf stumpfte ihre Gefühle ab, und dazu froren sie auch ein wenig. – Ja sie froren, denn Clara, deren Inneres glühte, die aufmerksam lauschte auf das Schlagen der Thurmuhren, und die jede neue Viertelstunde mit einem tiefen, schmerzlichen Seufzer begrüßte, Clara, die sonst so sorgsame Schwester, hatte seit der letzten halben Stunde nicht mehr nach dem Feuer gesehen; das Holz im Ofen war zusammengefallen, der weiße Aschenhaufen barg wohl noch in der Tiefe einige glühende Kohlen, aber oben an etlichen halb verbrannten Holzstücken eilten geschäftige Fünkchen hin und her, als wollten sie so bald als möglich eine Stelle verlassen, wo sie so schlecht gepflegt würden.

Daß unter solchen Umständen das vortreffliche Nachtessen kalt wurde, ist leicht begreiflich. Wie hatte sich der alte Mann so auf die Kartoffeln und den Kalbsbraten gefreut! Jetzt dampften jene schon lange nicht mehr, die Sauce zu letzterem war seit geraumer Zeit geronnen, und Herr Staiger, selbst fröstelnd, saß noch immer[119] im Nebenzimmer und erzählte ruhig und geduldig die Heldenthaten des Däumlings.

Clara hatte sich an das Fenster gesetzt, legte die Hände in den Schooß und blickte tief athmend auf das Licht vor ihr, das unterdessen herab brannte, wobei der Docht eine große schwarze Kohle bildete, um welche die rothe Flamme ängstlich und wie ersterbend flackerte.

Da erklangen draußen auf dem Pflaster eilfertige Schritte, die sich dem Hause näherten. – Clara horchte auf, – ja, das konnte er sein, jetzt mußte er die Hausthüre erreicht haben. – Richtig! sie vernahm jetzt die Schritte vom Hausgange her, und sie drangen nun statt von der Straße durch das Treppenhaus, aber etwas gedämpfter herauf.

Es war in der That Arthur, dem es, wie wir wissen, erst gegen zehn Uhr möglich geworden war, das elterliche Haus zu verlassen; einen Wagen hatte er nicht mehr auf der Straße gefunden, und so brauchte er noch geraume Zeit, bis er die Balkenstraße erreicht hatte. Man kann sich denken, daß er eilfertig in's Haus hinein sprang; doch hatte er hiebei fast das Unglück, eine Frau umzurennen, die ihm unten entgegen kam. Dies war beinahe unter der Hausthüre, und da sich an der anderen Seite der Straße eine Gaslaterne befand, deren voller Schein herüber fiel, so war es dem jungen Manne möglich, das Gesicht der ihm Begegnenden zu sehen, während das seinige im tiefen Schatten blieb.

Mit einem höflichen: »Verzeihen Sie!« drückte er sich an die Wand und ließ die Frau vorbei, worauf er etwas langsam die Treppen hinauf stieg. Das Gesicht der Frau, welche ihm so eben begegnet, hatte er schon irgendwo gesehen. – Aber wo? – Das Gedächtniß eines guten Malers ist scharf, und bald hatte er sich in dem Chaos von tausenderlei Zügen, die seiner Phantasie vorschwebten, zurecht gefunden. – »Richtig!« sprach er zu sich selber, »das war jene Frau in der Kaserne, welcher ich den Brief des Grafen[120] Fohrbach gebracht. – Wie hieß sie doch? – Nun, – ah! – Madame – Madame – ah! Madame Becker!«

Clara hatte droben noch einen Augenblick gelauscht, und sobald sie die Tritte des jungen Mannes erkannt, wischte sie die Thränen aus den Augen und ging eilig in's Vorzimmer, um zu verkündigen, Herr Arthur komme. Bei Marie brachte diese Nachricht schon eine gehörige Wirkung hervor, sie rieb sich einige Male die Augen, gähnte auch gelinde, dann aber schlug sie in die Hände und rief: »So kriegen wir doch jetzt endlich bescheert!« – Das Bübchen dagegen war nicht so leicht zum Bewußtsein zu bringen, und als es der Papa auf seine Füße stellte, wäre es umgeplumpst, wenn Clara es nicht noch zur rechten Zeit aufgegriffen hätte.

In diesem Augenblicke trat Arthur in das Zimmer und blieb überrascht an der Thüre stehen, als er die ganze Familie hier im halb dunkeln und fast ganz kalten Zimmer bei einander fand. Er hatte geglaubt, ja gehofft, Vater und Tochter würden behaglich in der warmen Stube um den Tisch sitzen, Clara mit freundlichem Lächeln ihm einen Stuhl näher rücken und er nun mit ihr noch eine kleine Stunde süß verplaudern können.

Das Bübchen hatte sich unterdessen ermuntert, und den Einflüsterungen seiner kleinen Schwester war es gelungen, es daran zu erinnern, daß es Weihnachtsabend sei, und daß jetzt die Bescheerung vor sich gehen könne, nachdem Herr Arthur gekommen.

»Aber du bist recht lange ausgeblieben,« sagte hierauf Karl; »wir haben gewiß fünfzig Stunden auf dich gewartet.«

»Sie haben auf mich gewartet?« fragte fast erschrocken der Maler. – »Wie? Herr Staiger, – auf mich mit der Weihnachtsbescheerung?«

»Ja, wir dachten, es sollte Ihnen Freude machen,« entgegnete gutmüthig der alte Mann.

»Aber es ist ja schon so spät.«

»Ja, es ist schon spät,« sagte Clara mit leiser Stimme.[121]

»Und wir dachten jeden Augenblick, du solltest kommen,« warf das Bübchen ein.

»Das schmerzt mich ordentlich!« rief Arthur. »Es ist jetzt zehn Uhr, und ihr habt Alle, auch die armen Kinder, auf mich gewartet?«

»In der That glaubten wir, es wäre Ihnen vielleicht möglich, früher zu kommen,« meinte der alte Mann.

»O, ich konnte nicht,« erwiderte Arthur. »Gewiß, ich konnte nicht; ich bin weggegangen, sobald es nur möglich war; ich sagte Ihnen ja auch, bester Herr Staiger, wenn ich um acht Uhr nicht da sei, so wäre ich gezwungen, bis nach dem Souper zu Hause zu bleiben.«

»Ja, ja, ich denke mir jetzt, Sie haben mir das gesagt: es ist so, gewiß, es ist so. Aber jetzt sind Sie da, und nun wollen wir nachträglich eine prachtvolle Bescheerung halten. Seht, Kinder, wie gut ihr es habt,« setzte er lächelnd hinzu, »alle anderen haben ihre Geschenke erhalten und liegen schon in ihren Bettchen; ihr aber habt das noch vor euch.«

Clara war in's Nebenzimmer gegangen, um die Lichtchen auf den Bäumen anzuzünden. Arthur, der alle Taschen voll Spielzeug hatte, ging ihr nach, nach dem er draußen gebeten, sich noch einen Augenblick zu gedulden, bis er auch mit dem Christkindchen gesprochen. Doch blieb er an der Thüre stehen und bat Clara, die sich am Tische beschäftigte, sanft um Erlaubniß, ihr etwas helfen zu dürfen.

Sie nickte schweigend mit dem Kopfe und wies ihm auf seine Bitte die verschiedenen Stellen auf dem Tische, wo sich die Sachen des alten Herrn und die der beiden kleinen Geschwister befanden. Dorthin legte er verschiedene Paketchen, wandte aber dabei jede Sekunde den Kopf nach Clara um, die mit gesenktem Haupte ihre Sachen ordnete. Er fühlte wohl, daß er dem Mädchen wehe gethan, und das schmerzte ihn tief. Mit welcher Liebe hatten all'[122] die guten Menschen hier an ihn gedacht und hatten ihr Bestes, ihre ganze Freude des heutigen Abends, für ihn aufgehoben, daß er sie mit ihnen genießen könne! Und nun war er so lange nicht gekommen; freilich konnte er sich nicht ganz allein die Schuld hievon beimessen, doch mußte er sich sagen, wenn er gewußt hätte, daß man ihn so früh hier erwartet, so würde er doch am Ende einen Ausweg gefunden haben, um sich zu Hause von dem Nachtessen wegzuschleichen. Es war das früher auch wohl schon geschehen.

»Es ist Ihnen am Ende nicht recht, daß ich noch gekommen bin, Clara,« sprach Arthur nach einer Pause, während welcher er sich vergeblich bemüht, einen Blick des geliebten Mädchens zu erhaschen.

»Das ist nicht Ihr Ernst,« entgegnete sie hierauf mit einem flüchtigen Blick; »Sie wissen, wie willkommen Sie uns zu jeder Zeit sind, Herr Arthur. Aber Sie sehen, daß ich jetzt dringend zu thun habe. – Nachher,« setzte sie mit einem tiefen Athemzuge hinzu, »plaudern wir hoffentlich noch – recht vergnügt mit einander.«

»Nicht wahr, liebe Clara, das thun wir?« sagte er mit herzlichem Tone, indem er eine ihrer Hände faßte und sie innig an seine Lippen drückte.

Sie zog ihre Hand nicht weg, aber sie zuckte so zusammen, daß er sie unwillkürlich losließ, um in ihre Augen zu blicken; doch wandte sie sich ab und sprach gleich darauf anscheinend heiter: »So, nun bin ich fertig, Herr Arthur. Jetzt müssen Sie aber an die Thüre gehen und sich nicht umsehen, bis ich die Tücher von dem Tische weggenommen.«

»Also ich erhalte auch etwas?« fragte er vergnügt.

»Gewiß, gewiß,« antwortete die Tänzerin.

Arthur ging an die Thüre, wie sie es ihn geheißen hatte, öffnete sie leise und sprach hinaus: »Jetzt Kinder, gebt Achtung![123] Clara ist fertig, sie wird sogleich Eins, – Zwei – Drei zählen, und dann öffne ich die Thüre. – Nicht wahr, Clara, Sie zählen so?«

»Wenn Sie es wünschen, Herr Arthur, will ich es gewiß thun. – Also denn!«

»Jetzt aufgepaßt!« rief der Maler und faßte die Thürklinke.

»Eins – zwei – drei!« sagte Clara. Und nun öffnete Arthur die Thüre des Nebenzimmers weit, worauf die Kinder eilfertig herein stürzten. Doch blieben sie ganz erstaunt auf der Schwelle stehen, – ein wahres Lichtmeer, eine für sie unerhörte Pracht blendete ihre Augen. So einen Christbaum hatten sie noch nie gesehen. Was waren die bisherigen dagegen? – Wahrhaftig nicht der Rede werth; dieser hier reichte fast bis an die Decke des Zimmers, und den beiden kleinen Kindern war es so feierlich zu Muth, daß Vater Staiger sie ordentlich vorschieben mußte. Sie hatten die Augen weit geöffnet, die vielen Lichtchen strahlten darin wieder und erfüllten sie mit einem hellen Glanze. Das Bübchen hielt die Hände von sich abgestreckt und war völlig außer Stande, all' das Wunderbare zu begreifen. Endlich sagte es tief aufathmend: »Ein Schaukelpferd!« – »Und eine Puppe!« rief Marie. Worauf Beide vergnügt lächelnd an den Tisch traten und dann langsam um den Baum herum gingen. Es wagte anfänglich keines, etwas von den schönen Sachen zu berühren; sie wandelten wie in einem Traum und glaubten wahrhaftig, sobald sie eine dieser Herrlichkeiten anfaßten, würde all' der Glanz unfehlbar in Nichts zerrinnen.

Auch der alte Mann trat mit großer Freude an den Platz, wo seine Sachen lagen, und betrachtete den warmen Winterrock mit so großem Erstaunen, als habe er ihn heute zum ersten Male gesehen. Arthur hatte daneben ein Kistchen Cigarren gestellt und eine Spitze von Bernstein, wofür sich Herr Staiger mit gerührten Worten und einem herzlichen Händedruck bedankte.

Clara hatte unterdessen auch von dem anderen Tischchen, auf[124] welchem der kleine Weihnachtsbaum stand, das Tuch weggenommen, und Arthur, der allen ihren Bewegungen folgte, sah wohl an ihrem Blick, daß dies für ihn sei, weßhalb er eilig an ihre Seite trat. Auf dem Tischchen lag die Cigarrendose, welche sie für ihn gestickt, sowie das Feuerzeug des Herrn Staiger. Der junge Mann nahm das kleine zierliche Geschenk mit wahrer Freude in die Hand, denn als er die eingestickten Perlen und Goldfäden betrachtete, dachte er an die Zeit, wo sie das für ihn gearbeitet, und war überzeugt, daß sie während derselben unzählige Gedanken an ihn und so viel Herzliches und Liebes mit hinein verwebt habe. Er sah sie mit einem unaussprechlich süßen Blicke an, und Clara stützte sich mit der Hand auf den Tisch und schlug ihre Augen nieder. Sie wollte lächeln, als er sich nun freundlich bei ihr bedankte, doch zuckte ihr Mund schmerzlich, sie preßte die Lippen fest auf einander, und da sie sich dennoch bemeistern wollte, so öffnete sie ihre Augen, um ihn anzusehen, konnte aber nicht verhindern, daß ihr die hellen Thränen über das Gesicht herab flossen.

Arthur begriff wohl das schmerzliche Gefühl, welches ihr Herz erfüllte; er wußte ja, daß ihn das Mädchen liebe, innig und treu liebe, und deßhalb fühlte er auch, was ihr Inneres bewegte: sie schämte sich ihrer Liebe nicht, aber sie fürchtete sich davor; Clara sah deutlich die Kluft, welche sie von ihm schied, – eine Kluft, die er zuweilen zudeckte mit freundlichen Reden und süßen Worten, wenn er bei ihr saß, die sich aber wieder schwarz und trostlos vor ihrem Blicke aufthat, sobald er ferne war. Zuweilen hoffte sie, und wenn sie ganz allein war, baute ihre Phantasie eine glänzende Brücke über jenen Abgrund, eine Brücke, die sie dann an seiner Hand schauernd betrat, und die sie glücklich in ein wunderbar prächtiges Land führte. – Aber das waren lächerliche Träume, und sie zerscheuchte sie gewaltsam wieder, ohne jedoch in gänzliche Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Nur an solchen Abenden wie der heutige, wo sie wußte, er sei bei seiner vornehmen und stolzen Familie, und[125] müsse den Augenblick, den er hierauf bei ihr zubringen wolle, vor den Augen seiner Verwandtschaft verheimlichen, ihnen förmlich abstehlen, wo sie fühlte, daß vielleicht alsdann in seiner Abwesenheit dort ihrer gedacht werden könne mit geringschätzendem Achselzucken, daß man von ihrem liebenden und treuen Herzen spräche, wie von einem Spielzeuge, das nächstens abgenützt und von ihm auf die Seite geworfen würde, in solchen Stunden fühlte sie sich namenlos elend. – Und so heute. –

Das las Arthur in dem seltsamen Blick ihres Auges, in den langsam herabträufelnden Thränen. Und sollte das arme Mädchen in seinen finsteren Träumen und Jene in ihren hochmüthigen Ideen Recht behalten, sollte er dies gute, liebende Geschöpf wegwerfen für eines jener kalten und stolzen Herzen, die sich wohl eine Ehre daraus machten, von ihm, dem reichen jungen Manne, gewählt zu werden, ohne ihm deßhalb mit zärtlicher Liebe anzuhängen! – Sollte er seine Clara verlassen, weil sie eine arme Tänzerin war, weil ihre Verwandtschaft nicht verzeichnet war im goldenen Buche der Stadt, weil ihr nicht offen standen die geheiligten Schranken irgend einer Rangklasse, weil ihre Tanten und Basen nicht Sitz und Stimme hatten in den Thee-, Kaffee- und Klatschgesellschaften! – Nein, nein! so will ich nicht handeln! dachte sein treues Herz, ich will sie an mich ziehen, fest in meinen Armen halten und mit liebender Sorgfalt über die Klippen dieses Lebens, über die Klippen unserer gesellschaftlichen Zustände führen. – Und werden uns viele solcher Klippen bedrohen? fragte er sich, und sein leichter Sinn antwortete: o gewiß nicht! Man kennt mich, meine Freunde und meine Bekannten schätzen und ehren meinen Namen, sie werden auch das Mädchen bei sich aufnehmen und lieb gewinnen, der ich diesen Namen zu geben für gut befunden, – meiner Frau. – Bei diesem letzten Worte mußte er unwillkürlich lächeln, denn es kam ihm so sonderbar vor. Er dachte mit einem Male an seine Junggesellenwirthschaft, an die Zimmer, vollgepfropft mit allerlei[126] Geräthschaften, an die alterthümlichen schweren Seidenstoffe, die er zu den Draperien seiner Gemälde brauchte, und die von der Lehne eines alten geschnitzten Stuhles herab hingen und weit in das Zimmer hinein reichten. – Und dazwischen sollte Clara stehen, verwundert all' das Seltsame anstaunend und behutsam auf den Zehenspitzen hin und her schreitend; – ach, und sie schritt so wunderbar auf den Zehenspitzen, das Röckchen leicht gehoben – damit sie glücklich zwischen all' dem Chaos durchkomme, ohne hier eine Vase zu berühren oder dort an ein frisches Gemälde zu streifen. – Ja, ja, meine Frau soll sie sein, und ich will sie hegen und pflegen mit liebender Sorgfalt, wie ein Kind, das anfängt, gehen zu lernen. Fort mit allen Rücksichten! Bin ich nicht ein Künstler und deßhalb ein freier Mensch? Ich will meinem Herzen folgen und meinem Gemüthe alle Ehre machen.

Während er das dachte, hatte er unverwandt die Stickerei betrachtet, aber so lange und anhaltend, daß ihm Clara befremdet zuschaute. Sie fürchtete schon, ihre Thränen haben ihn verletzt und ihm sehr wehe gethan, deßhalb bezwang sie sich gewaltsam, trocknete ihre Augen und blickte wieder hell und freundlich auf.

Arthur fuhr aus seinen Träumereien empor und mit einem so glücklichen Gefühl im Herzen, daß er es unmöglich vollkommen ausdrücken konnte. Etwas davon spiegelte sich freilich auf seinem Gesichte wieder, und dieser Ausdruck war schon so heiter und froh, daß er nun der Tänzerin ein wirkliches Lächeln ablockte.

»Ah! Sie haben mich zu schön beschenkt,« sagte er; »liebe Clara, wie soll ich Ihnen dankbar dafür sein! Freilich habe ich Ihnen auch Etwas mitgebracht, aber es ist so unbedeutend und klein, daß es Ihnen vielleicht gar nicht einmal gefällt.«

»Es gefällt mir gewiß,« entgegnete Clara, und ließ ihm ihre Hand, die er bei den letzten Worten ergriffen. Fast hätte sie sie aber wieder zurückgezogen, denn er genirte sich nicht im Geringsten, sondern küßte vor den Augen des Vaters ihre Finger, was[127] er früher nur beim Abschiednehmen auf der halbdunkeln Treppe gethan.

Sie erröthete stark, fürchtete sich aber, vor ihm zurückzutreten, denn seine Augen glänzten so selig, er blickte sie so überaus freundlich an, daß sie noch viel Aergerem entgegen sah, wenn sie sich das nicht geduldig gefallen ließ.

»Aber Sie müssen rathen, was ich habe!« rief er und hielt etwas in der rechten zusammen geballten Hand empor.

»Wie ist das möglich?« sagte Clara. »Nein, nein, ich will nicht rathen; ich habe Ihnen ja gleich offen und ehrlich gezeigt, was ich für Sie gemacht, und das Gleiche müssen Sie auch thun.«

»Sie hatten Ihr Geschenk zuerst mit einem Tuche bedeckt,« entgegnete er lustig, »und damit Sie auch das meinige nicht gleich sehen, so machen Sie die Augen zu, bis ich sage, Sie dürfen sie wieder öffnen. – Nicht wahr, lieber Herr Staiger, das kann Clara schon thun?«

»Ja, das meine ich auch,« erwiderte der alte Mann; »du kannst in dem Falle die Augen schon zumachen.«

»Um so mehr, da Ihr Vater sehen wird, was geschieht,« fuhr Arthur nicht ohne Bedeutung fort.

»Nun meinetwegen denn,« sprach das liebliche Mädchen, indem sie über ihre glänzenden Augen die Augenlider sanft herabfallen ließ. – Dabei sah sie sehr blaß aus, und jetzt noch mehr als wie einen Moment vorher; ihr Herz schlug gewaltsam und sie konnte sich eines eigenthümlichen Gefühls nicht erwehren. Ja, sie zuckte fast zusammen, als nun Arthur ihre Hand wieder ergriff, als er langsam ihre Finger öffnete, um einen kalten, glatten Ring daran zu stecken. Sie hob ihre Hand empor, wagte es aber erst ihre Augen zu öffnen, als sie der junge Mann bat, dies zu thun. – Da fielen ihre Blicke auf einen kleinen goldenen Reif, den sie am Finger hatte, einen Ring ohne Zierrath und Stein, einen Ring, dessen Form sie aber wohl kannte.[128]

Was sollte das Alles bedeuten? Der alte Mann sah fragend auf Arthur; Clara schlug ihren Blick nieder und zitterte so heftig, daß sie sich am Tische festhalten mußte.

Auch Arthur war in diesem Augenblicke erblaßt, und auch sein Athem wand sich mühsam aus der Brust. – »Was das heißen soll?« sprach er mit einem sonderbaren Lächeln, wobei seine Augen eigenthümlich blinzelten, »das soll heißen – daß ich die Clara unendlich liebe, und daß sie und keine Andere meine Frau werden soll!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der geneigte Leser wird uns verzeihen, daß wir hier dieses Kapitel schließen, aber ein Moment, wie der, welchen nun die drei glücklichen Menschen verlebten, läßt sich unmöglich der Wahrheit gemäß schildern. Wir wollen nur noch sagen, daß Herr Staiger, so glücklich er sich fühlte, doch den Kopf schüttelte und von einer Einwilligung seitens der Eltern Arthurs als von einer fast unmöglichen Sache sprach, und daß Clara, die anfangs wie betäubt gestanden, bald darauf so voll Glück und Freude war, wie selten eine menschliche Seele; sie küßte tausendmal den Ring an ihrem Finger, denn dieser Ring gab ihr ein Recht auf die Liebe Arthurs; sie brauchte jetzt nicht mehr sich selbst und ihm zu verheimlichen, wie unaussprechlich sie ihn liebe, sie war vollkommen glücklich, sie kannte weiter keine Wünsche und Hoffnungen. – Wenn sie in dem Augenblicke gestorben wäre, so wäre sie hingegangen im glücklichsten Moment ihres Lebens – ein reiner, unschuldsvoller Engel. –

Quelle:
Friedrich Wilhelm Hackländer: Europäisches Sklavenleben, 5 Bände, Band 3, in: F.W.Hackländer’s Werke. Stuttgart 31875, S. 116-129.
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