[48] Wie alles in dieser Welt ging auch das Ballet zu Ende; der Liebhaber der Braut wurde auf die eine oder andere Art tanzgemäß[48] weggeschafft, der Herzog verzieh, und im letzten Akt fand eine ungeheuer glänzende Vermählung statt, wozu der magere Tänzer mit der ersten Tänzerin einen Pas de deux nach allen Regeln der Kunst tanzte. Eines bemühte sich, seinen Körper noch unschöner zu verdrehen als das Andere, und beide zusammen strebten darnach, dem Publikum zu beweisen, zu welch erstaunlich unzweckmäßigen Wendungen und fürchterlichen Verzerrungen man die menschlichen Glieder mit Kunst und Ausdauer zu bringen im Stande sei. Namentlich der magere Tänzer setzte Alles in Erstaunen, und man hätte darauf schwören mögen, er habe im Rücken ein besonderes Gelenk und seine Kniee können sich wie bei einem Nürnberger hölzernen Collegen einwärts und auswärts biegen. Dabei überboten sich beide in übermäßigen Pirouetten und wahnsinnigen Sprüngen. Schnellte die Tänzerin bei einer sanften Melodie einen Schuh vom Boden empor, so brachte es der Tänzer mit Pauken, Trompeten, mit Tschambidibam und Bumbidibum, mindestens auf zwei und einen halben. Und hiebei nicht genug, daß er mit Gottes Hülfe wieder auf seine Füße niederfiel: er machte auch während des Herabfallens die schauerlichsten Versuche, schief gegen den Fußboden zu kommen, was vielleicht außerordentlich schwierig, jedenfalls aber sehr häßlich war. Dazu spielte die Musik immer toller, Tänzer und Tänzerin lachten immer krampfhafter gegen einander und gegen das Publikum; zuletzt hatte die ganze Geschichte etwas Hexenartiges und man konnte der Befürchtung nicht los werden, es sei für die Beiden da oben hier auf Erden Alles vorbei, irgend ein gespenstiger Wirbelwind führe sie fort in unabsehbare Weiten nach öden, unendlichen Haiden, und dort müßten sie sich ohne Publikum fort drehen, immer fort bei Sonnenschein und Mondeslicht; oder plötzlich säßen sie à cheval auf ein paar tüchtigen Besenstielen und führen rechts und links in die Luft auf. Doch ehe es zu diesem fürchterlichen Ende kam, fiel glücklicher Weise der Vorhang, das: Publikum applaudirte und verließ alsdann stürmisch das Theater.[49]
Auf der Bühne wurden die Lampen ausgelöscht und schon nach einer Viertelstunde lagen die vorhin noch so erhellten und belebten Räume in nächtlichem Dunkel und tiefem Schweigen da. Wenn einer der alten Zimmerleute, der über die Bühne hinweg und nach Hause ging, zufällig hustete, so schallte es gerade in dem weiten leeren Hause, als habe oben auf der vierten Gallerie eine sehr bekannte Stimme ebenfalls gehustet.
Die Garderoben allein waren noch voll Leben, Licht und Bewegung. Letztere aber hatte nichts mehr von der ruhigen Emsigkeit des Anziehens; man sah keine Tänzerinnen mehr behaglich vor dem Spiegel stehen, wie zu Anfang des Stückes; jede beeilte sich mit dem Ausziehen, streifte Leibchen und Röcke herunter so rasch wie möglich und schlüpfte in ihre gewöhnlichen Kleider. Die Tricots auszuziehen, hätte für jetzt viel zu viel Zeit in Anspruch genommen, weßhalb die meisten sie anbehielten, Strümpfe und Schuhe darüber zogen und durch diese kleinen Kunstgriffe in einer unglaublich geschwinden Zeit zum Nachhausefahren bereit standen.
Schwindelmann erschien an der Thüre und die, welche zuerst fertig waren, wurden auch zuerst nach Hause geführt; daher auch der Wetteifer, mit welchem das Auskleiden vor sich ging.
Demoiselle Clara hatte ihre Toilette mit größerer Ruhe gemacht, Tricots, Schuhe und was dazu gehört, ausgezogen und ordentlich hingelegt, alsdann ihre Sachen sorgfältig zusammengepackt, das Kleidchen mit den rothen Schleifen ebenfalls in ein Tuch gewickelt, und war gerade fertig geworden, als der Wagen wieder kam und Schwindelmann ihr winkte, mitzufahren.
Es war ein kalter dunstiger Abend; die Gaslaternen brannten mit einem röthlichen Lichte, und den Athem der Pferde sah man deutlich wie weißen Dampf aus ihren Nüstern hervorkommen. Das Rollen der Räder auf dem Pflaster klang dumpf, und da die Calesche ringsum verschlossen war und fünf der ziemlich erhitzten Tänzerinnen in sich schloß, so liefen die Scheiben so dicht an, daß[50] keine derselben ihre Straße erkennen konnte und es bei jedesmaligem Anhalten eine kleine Debatte gab, wo man sich eigentlich befinde. Schwindelmann schlichtete diesen Streit aber augenblicklich, indem er die betreffende junge Dame bei ihrem Namen rief. Endlich erklang der von Demoiselle Clara, worauf diese mit ihren beiden Paketen den Wagen verließ, ihren Colleginnen gute Nacht wünschte und an die Hausthüre trat.
»Soll ich für Sie anläuten?« fragte der freundliche Schwindelmann.
Doch das Mädchen erwiderte eifrig: »Ich danke recht sehr; ich habe meinen Hausschlüssel, und wünsche eine gute Nacht.«
Ehe sich aber Schwindelmann hierauf entfernte, sagte er leise zu der jungen Tänzerin: »Sie werden mir schon erlauben, Fräulein Clara, daß ich morgen Früh ein Bouquet für Ihr kleines Schwesterchen bringe; ich habe einen Freund, der Handelsgärtner ist und der es mir fast umsonst gibt.« Nachdem der Theaterdiener diese Worte angebracht, wartete er keine Genehmigung oder keinen Dank ab, sondern trat an seinen Wagen, schloß geräuschlos den Schlag, nannte dem Kutscher eine Straße und fuhr davon.
Clara blieb an ihrer Hausthüre stehen, ohne den erwähnten Schlüssel herauszuziehen. Sie horchte auf den davonrollenden Wagen, und als er ihr weit genug entfernt schien, verließ sie das Haus wieder und ging die Straße hinab, bis sie in der schon völlig dunkeln Häuserreihe den noch spärlich erleuchteten Laden eines Bäckers erreichte. Hier trat sie ein, zog eine magere Börse hervor, und nachdem sie ein paar kleine Weißbrode gekauft, ging sie sehr langsam nach ihrem Hause zurück. Wir sagen sehr langsam; ja mehrere Male blieb sie beinahe stehen, öfters aber schaute sie hinter sich, und jeden Augenblick horchte sie auf das entfernte Rollen eines Wagens oder auf schallende Fußtritte, die sich in irgend einer Nebenstraße verloren. Dann schüttelte sie den Kopf[51] und sagte mit leiser Stimme: »Sonderbar! Es ist heute das erste Mal, daß ich ihn nicht gesehen; er war nicht im Theater auf seinem Platze, er stand nicht am Wagen, als wir einstiegen, und auch hier ist nichts von ihm zu sehen.«
Mit diesen Worten hatte sie ihre Hausthüre wieder erreicht, suchte ihren Schlüssel hervor, drehte das Schloß auf und wollte gerade in den finstern Gang schlüpfen, als sich eilige Schritte auf der Straße näherten, die Gestalt eines Mannes sichtbar wurde und eine leise Stimme rief: »Fräulein Clara – nur einen Augenblick!«
Die Tänzerin blieb in der geöffneten Thüre stehen und erwartete ruhig die Ankunft dieses Mannes, der darauf in drei Sprüngen neben ihr in dem dunkeln Flur stand. Er holte tief Athem und konnte kaum sprechen. »Ich bin so gelaufen,« sprach er nach einer kleinen Pause, »um Sie noch einen Augenblick zu sehen; wie froh bin ich, daß ich noch zur rechten Zeit komme.«
»Sie waren nicht im Theater,« versetzte das Mädchen. »Ich hatte nicht erwartet, Sie heute Abend noch zu sehen.«
»Ich konnte nicht, Fräulein Clara, es war mir unmöglich, das Theater zu besuchen. Ah! hören Sie, wie ich gelaufen bin; ich war in einer großen, sehr langweiligen Gesellschaft, und erst vor einer Viertelstunde gelang es mir, mich wegzuschleichen. Ich bin nur gekommen, Ihnen eine gute Nacht zu wünschen.«
»Das freut mich in der That,« entgegnete das junge Mädchen und sah ihn treuherzig mit ihren großen Augen an. »Sie haben mich ganz verwöhnt, und wenn ich Sie nicht im Theater sehe oder am Wagen oder hier eine Sekunde, so fehlt mir etwas.«
»Wie danke ich Ihnen für dieses Wort, und wie bin ich so froh, daß Sie mir wenigstens erlauben, Sie einen Augenblick zu sehen und zu sprechen. Ach, Fräulein Clara, wenn Sie nicht so hart und unerbittlich wären, so hätte ich schon lange einen Vorwand gefunden, mich bei Ihrem Vater einzuführen.«[52]
»Nein, nein,« erwiderte eifrig das Mädchen; »ich will keine Vorwände und kann Sie auch bei uns nicht sehen. Ist es nicht genug, daß ich Ihnen hier an der Thüre eine freundliche gute Nacht sage? Ich habe so Etwas in meinem ganzen Leben noch nicht gethan. Sind Sie damit nicht zufrieden?«
»Doch, doch, liebe Clara! ich bin ja damit zufrieden. – Aber Ihre Hand werden Sie mir heute Abend nicht versagen.«
»Nun meinetwegen!« entgegnete freundlich lachend die Tänzerin. »Eine Hand will ich Ihnen reichen, aber dann müssen Sie auch still nach Hause gehen.«
»Und zufrieden,« sagte ebenfalls lachend der junge Mann.
Clara nahm nicht ohne einige Mühe die Pakete, den Hausschlüssel und das Brod in die eine Hand, um die andere ihrem jungen Freunde reichen zu können. Er faßte sie eifrig mit seinen beiden und drückte in aller Geschwindigkeit mehrere Küsse auf ihre niedlichen Finger, eine Überschreitung der gegebenen Erlaubniß, welche Clara dadurch bestrafte, daß sie ihre Hand hastig wegzog, flüchtig gute Nacht rief und die Thüre hinter sich zudrückte und verschloß.
Der junge Mann blieb noch einen Augenblick auf der Schwelle stehen, blickte an dem Hause hinauf, ohne irgend etwas ihn Anziehendes zu sehen, als ein matt erleuchtetes Fenster droben hoch in dem Giebelfelde. Nachdem er dieses eine Weile betrachtet, und nachdem es ihm geschienen, als bewege sich ein weißer Vorhang an diesem Fenster, gerade so, als öffne Jemand die Thüre und trete in's Zimmer, verließ er seinen Standort und ging dann in der That höchst zufrieden seiner Wege.
Clara war unterdessen die dunklen Treppen hinaufgestiegen, hatte ein wahres Labyrinth von finsteren Biegungen und schmalen Gängen hinter sich gelassen und erreichte nun den vierten Stock, wo sie nach einigem Suchen mit der Hand eine Thüre fand, die sie geräuschlos öffnete. Sie trat in ein unerleuchtetes Zimmer,[53] doch hatte sie vor sich eine andere Thüre, durch deren breite Spalten und Risse einiges Licht in dies erste Gemach fiel, hier eine zweifelhafte Helle verbreitend, bei welcher man einen kleinen Tisch entdeckte, auf dem etwas Bettwerk lag, über welche man ein weißes Tuch gebreitet hatte. Clara ging auf den Zehen durch dieses Zimmer, öffnete die andere Thüre und trat in das Wohnzimmer der Familie, welches dem geneigten Leser näher zu beschreiben wir genöthigt sind.
Es war dies ein ziemlich großes und kahles Gemach mit schiefen Seitenwänden, welche der Stellung des Daches folgten, und einem einzigen Fenster, das wir schon von unten beobachtet haben. Das Meublement bestand aus einem großen eisernen Ofen, von dem übrigens, der wenigen Wärme im Zimmer nach zu urtheilen, ein sehr bescheidener Gebrauch gemacht wurde; neben demselben stand in einer Ecke ein Schreibtisch, das heißt, ein großer Tisch mit Büchern und Papieren aller Art bedeckt, hinter demselben befand sich ein Stuhl, auf welchem ein Kissen von rothgestreiftem Zeug lag; in einer anderen Ecke war ein gewöhnliches Bett und ein Kinderbett. Unter dem einzigen Fenster stand ein Tisch und ein paar Stühle, daneben eine große alte Kommode, über welcher ein Spiegel hing. Sonst bestanden die Verzierungen sämmtlicher Wände aus einem Crucifix mit halb vertrocknetem Zweig über dem großen Bette, sowie aus dem Portrait einer berühmten Tänzerin, das dieselbe bei ihrer Anwesenheit einer Jeden vom Ballet zum Geschenk gemacht hatte.
In dem Zimmer befanden sich zwei kleine Kinder, ein Mädchen von sechs und ein Bübchen von vier Jahren, die zusammen in dem kleinen Bette lagen – Clara's Stiefgeschwister, und ihr und Clara's Vater, ein alter Mann, der an dem Schreibtische stand und im Begriffe war, sich eine Feder zu schneiden, wobei er gerade den Kindern einige Ermahnungen zurief, da sie nicht einschlafen wollten, sondern sich unruhig hin und her warfen.[54]
Als Clara in das Zimmer trat, wurde ein Weinen, das aus der Ecke kam, wo die kleine Bettlade stand, plötzlich unterdrückt.
Der alte Mann trug einen langen blauen, fadenscheinigen Rock, den er bis zum Halse zugeknöpft hatte, gelbe Sommerhosen, obgleich es Winter war, und ein paar große, dicke Hauspantoffeln. Trotzdem er auf der Nase eine Brille hatte, mußte er doch die Finger mit der Feder ganz nahe vor die Augen halten, um den Spalt abknixen zu können.
»Seid nur ruhig, seid nur ruhig,« sagte er gegen das Bett gewendet; »eure Leiden sind noch klein, theilweise eingebildet; ihr steigt den Berg aufwärts und könnt schon einigermaßen Mühseligkeiten ertragen, da ihr dereinst Hoffnung auf eine schöne Aussicht habt. Uebrigens kann ich euch wahrhaftig nicht helfen und ihr müßt schon warten bis die Clara kommt, unser aller Hort und Stern.«
Darauf erfolgte das Weinen, von dem wir oben gesprochen, und wurde unterdrückt beim Eintritt der jungen Tänzerin.
»Ah! da ist sie ja!« sprach der alte Mann. »Grüß dich Gott, liebe Clara. Du kannst auch jetzt wieder eine Trostspenderin sein; die beiden kleinen Geschöpfe da haben allerlei Kummer, den sie dir anvertrauen werden.« Bei diesen Worten ließ er sich auf das Kissen von gestreiftem Zeug nieder, schob das Schreibpapier zurecht, murmelte: »Seite zweiundvierzig,« und machte sich wieder an seine Arbeit.
Die beiden kleinen Kinder hatten sich beim Eintritt der Schwester aufrecht in ihr Bettchen gesetzt und schauten aufmerksam und mit leuchtenden Augen allen Bewegungen derselben zu, wie sie ihr großes Tuch ablegte und ihre Pakete, und wie sie darauf das Weißbrod auf den Tisch unter dem Fenster legte. Namentlich das letzte Manöver schien ihren vollen Beifall zu erringen, denn während das kleine Mädchen blos ihren Mund spitzte, sagte der Knabe halblaut und mit lächelndem Gesicht und indem die Thränenfluth auf seinen Wangen plötzlich stockte: »Ein Brod! ein Brod!«[55]
Clara trat an den Tisch, wo ihr Vater emsig schrieb, und bot ihm einen guten Abend. »Bist du noch immer am Schreiben?« sagte sie. »Es ist schon spät, Vater; du solltest deine Augen schonen.«
»Ei, mein liebes Kind,« entgegnete heiter der alte Mann, »vor Thorschluß oder vor dem Läuten der Abendglocke legt man nicht die Hände in den Schooß, es kommt ja nächstens doch eine lange, lange Zeit, wo ich meine Augen schonen kann und muß, deßhalb will ich sie jetzt noch ein Bischen gebrauchen. – Aber siehst du, Clara,« fuhr er sich empor richtend fort, indem er sie fest anschaute, »in diesem Moment mache ich von meinen Augen den mir liebsten Gebrauch.«
»Und welchen?« fragte lachend die Tänzerin.
»Dich anzusehen, mein Kind; das ist Trost und Licht in meinen Tagen. Heute Abend sieht dein Kopf aus wie der einer Fürstin, und wenn ich mein Bischen Phantasie zusammennehme, so könnte ich mir eine Zeit vorstellen, wo du ein wirkliches Diadem trägst und diese falschen Brillanten in deinem Haar echt und von großem Werthe sind.«
»Wenn ich je dergleichen wünschte,« versetzte Clara, während sie eine der weißen mageren Hände ihres Vaters nahm und sie küßte, »so thäte ich es nur um deinetwillen. Welch' schönes Leben würden wir führen! – Aber warum haben die Kinder vorhin geweint? Haben sie dich geärgert, muß ich sie zanken?«
»O nein! o nein!« erwiderte der alte Mann, »sie haben den Abend über recht artig gespielt; ich habe mich selbst an ihren Kindereien ergötzt,« setzte er mit einem fast unmerklichen Seufzer hinzu, und lehnte sich in den Stuhl zurück; »es ist eigenthümlich, sie haben sich große Gastmahle zubereitet und von herrlichem Essen und Trinken gesprochen.«
»Während ihr zu Nacht gespeist?«
»Das könnte ich eigentlich nicht sagen,« antwortete der Vater.[56]
»Richtig, jetzt fällt mir etwas ein, was ich fast ganz vergessen hätte.«
»Doch nicht, das Geld von dem Buchhändler holen zu lassen?« fragte ängstlich das Mädchen.
»O nein! den Versuch habe ich wohl gemacht,« entgegnete schmerzlich lächelnd der alte Mann; »aber der Herr Blasser sei nicht zu Hause, sagte man mir.«
»Und darauf bekamt ihr kein Geld?«
»Natürlicher Weise,« antwortete gutmüthig der Vater. »Wenn man nicht zu Hause ist, kann man auch nicht bezahlen.«
»Und euer Nachtessen? – Ich hatte das so gut angeordnet.«
»Ja, das hattest du, liebes Kind; aber der Mensch denkt, Gott lenkt, und wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. Uebrigens hatte ich mich an den Phantasien der Kinder gelabt, und während wir gemeinschaftlich ein schwarzes, sehr gutes Brod aßen, träumten wir von Torten und Pasteten und allerlei köstlichen Leckerbissen.«
»Halb und halb habe ich mir das gedacht,« sagte Clara, indem sie zu lächeln versuchte, »und wenigstens einiges Weißbrod mit nach Hause gebracht; ich will geschwind zur Nachbarin gehen, ich sah noch Licht, als ich die Treppen herauf kam, und will mir etwas Milch von ihr geben lassen, dann mache ich euch in aller Geschwindigkeit eine kostbare Suppe.«
Diese letzten Worte sprach sie mehr gegen das kleine Bettchen gewendet, worauf die Kinder sie mit strahlenden Blicken ansahen und mit dem Kopfe nickten; der kleine Bub stand sogar auf, als Clara eilig das Zimmer verließ, und versuchte es, ihr nachzuschauen, was einen äußerst komischen Anblick gab, da seine Kehrseite nicht gehörig bekleidet war.
Der alte Mann hatte sein Buch aufgeschlagen, die Feder eingedunkt und fing wieder an emsig zu schreiben.
Clara ging mit einigem Widerstreben zu der Nachbarin, von der[57] sie vorhin gesprochen. Es war dies eine Wittwe mit zwei Töchtern, von, wenigstens äußerlich, sehr frommem und gottesfürchtigem Lebenswandel; so versäumte sie für ihre Person fast keinen Gottesdienst, und wenn ein Buh- und Bettag angesetzt war, so schlich sie zerknirscht über die Straßen und man hätte darauf schwören sollen, sie, obgleich frei von eigenen Lastern und groben Fehlern, habe sich aus Barmherzigkeit eine tüchtige Sündenlast ihrer Mitmenschen aufgeladen und helfe so aus christlicher Liebe die allgemeine Verderbniß geduldig mittragen. Was ihre Töchter anbelangte, so gingen diese nur in die Garnisonskirche und nur Vormittags von Zehn bis halb Zwölf, zur gleichen Zeit, wo auch fromme Soldaten, von gläubigen Lieutenants geführt, auf hohen und höchsten Befehl zum wohlgefälligen Wandel angehalten wurden.
Die Wittwe mit ihrer Familie gehörte in die Klasse der »verschämten Hausarmen,« und wurde von Glaubensgenossen so reichlich unterstützt, daß sie alle ihre Zeit der Beschaulichkeit zuwenden konnte und nicht viel zu arbeiten brauchte.
Buchempfehlung
Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.
286 Seiten, 12.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro