Menschen, welche niemals Referendar gewesen sind, flößen mir eigentlich stets ein unbegrenztes Mißtrauen ein. Ich kann mir nämlich gar nicht vorstellen, wie in solchen Menschen jenes wünschenswerte, gesunde Gefühl für die persönliche Würde heranreifen kann, das ich den Vater aller Tugenden nennen möchte.
Hab ich es doch an mir selber erfahren. Ich hatte es als Student, selbst in den höchsten Semestern, niemals zu einem Zustande des Bewußtseins gebracht, der auch nur annähernd den Namen Würde verdient hätte. Zu den Gaben, welche mir die gütige Natur versagt hat, zählte ich das Talent zur Feierlichkeit. Mit bitterem Neide sah ich auf die Menschen, welche, mit diesem Talente geschmückt, keines weiteren zu bedürfen schienen. – Und doch! Kaum war ich Referendar – so fing ich auch bereits an, mir selber von Tag zu Tag mehr Achtung abzunötigen, und es dauerte gar nicht lange, da war ich, wenigstens wenn ich mir Mühe gab, und zumal wenn die weite Robe des Gerichtsschreibers meine jungen Glieder umrauschte, sehr wohl imstande, mich selber für den Königlich Preußischen Beamten zu halten, den zu markieren mir das Schicksal vorschrieb. Es ist nicht zu sagen, wie eminent erzieherisch solch ein innerer Vorgang wirkt! Ich war noch keine sechs Monate Referendar, als[119] ich bereits mit ungeheucheltem sittlichen Abscheu auf die Opfer der Alimentenprozesse herabzublicken gelernt hatte. –
Der Ort, an dem sich diese ethische Wandlung in mir vollzog, war Stolberg am Harz. Die stolzeste Erinnerung, die ich aus jenem lieblichen Waldtal ins Leben mitgenommen habe, will ich hier gleich vorwegnehmen – gewissermaßen in Sicherheit bringen. Man denke: Albert Träger, der deutsche Dichter Albert Träger, damals noch Rechtsanwalt in Nordhausen, kam eines Tages, um jemanden vor unserm Schöffengericht zu verteidigen, und bei dieser Gelegenheit hat er mich damals wiederholt »Herr Kollege« genannt. Auf Ehre! Man muß so etwas gefühlt haben, um es zu begreifen.
Stolberg liegt an einer Postchaussee, die aus der nahen Ebene aufsteigt und weiter ins Gebirge führt. Gleich hinter den alten und schiefen, so wunderlich malerischen Häusern und Hütten, die da rechts und links an dieser Postchaussee liegen, steigen sofort die Berge hinauf, die fast von unten an bewaldet sind.
Eng und begrenzt wie diese örtliche Lage Stolbergs ist auch der Sinn und das Gehirn der armen Stolberger. Sie kommen nicht heraus. Draußen, in der ebenen Großstadt, befällt sie Platzfurcht, und wenn es wirklich einmal einer fertig bringt, draußen im Strome mitzuschwimmen – lange hält er's nicht aus, und führen ihn schließlich Heimweh, Sehnsucht oder andere[120] profanere Mächte in die Vaterstadt zurück, so kann man sicher sein, daß er es inzwischen zum Ortsarmen gebracht hat, den die heimische Gemeinde zu unterhalten verpflichtet ist.
Dem Fremden, der in Stolberg einzieht, fällt es sofort unangenehm auf, wie zahlreich kleine, verkümmerte Kretins, kröpfige Untiere aller Art aus dem Kot der Straße hervorzukriechen scheinen. So erhält er gleich ein richtiges Bild von dem Menschenschlage, der in diesem schönen Erdenwinkel gedeiht.
Hoch oben über der Stadt, diese weithin beherrschend, ragt aus schwarzen Tannen das Schloß auf. Ein weitläufiger Komplex verschieden alter weißgetünchter Häuser mit hohen Schieferdächern, zahllosen Mansardenfenstern und niedrigen, klotzigen, achteckigen Türmen – so steht es da oben und scheint eine Stadt, eine Welt für sich zu sein.
In diesem Schlosse haust seit Menschengedenken das Geschlecht der »regierenden« Grafen von Stolberg-Stolberg, ein Geschlecht, so alt und vornehm, wie der liebe Gott kaum selber. Eine schier unendliche Reihe edler und großer Herren hat hier gesessen und – geherrscht.
Jeden Nachmittag, punkt zwei Uhr, fährt, so lange es eine Geschichte gibt und eine Überlieferung unter den Menschen, der jeweilig Regierende mit seiner Gemahlin im offenen Wagen oder Schlitten, von zwei feurigen, schwarzen Rossen gezogen, den Berg herab durch die Stadt. Es geschieht dies einerseits der Gesundheit wegen,[121] hauptsächlich aber, um die ehrfürchtigen Begrüßungen der oben geschilderten »Untertanen« erwidern zu können und das freundliche Verhältnis zu diesen dadurch aufrechtzuerhalten.
Ganz erstaunlich ist es und nahezu unglaublich, wie vornehm die Grafen von Stolberg-Stolberg sind! Und wie vornehm sie zu allen Zeiten gedacht und gefühlt haben. Man erzählt sich davon viele und herrliche Beispiele. Waren sie doch beispielsweise die einzigen unter dem hohen Adel Deutschlands, die damals, als der streberhafte »regierende Graf von Habsburg«, der nachmalige König Rudolf, sich soweit vergessen hatte, einen ganz gewöhnlichen Priester auf sein Pferd zu setzen – eine Begebenheit, die durch Friedrich von Schiller dann in weitere demokratische Kreise getragen wurde – den Mut besaßen, mit jenem wegen dieser unerhörten Taktlosigkeit jeden offiziellen Verkehr abzubrechen.
Ein Stolberg-Stolberg soll auch zur Zeit der Bauernkriege, als sich eines Tages, kurz vor zwei Uhr nachmittags, ein wütender, blutdürstiger Haufe hungernder Bauern zum Schlosse gewälzt hatte, ruhig das Fenster geöffnet, seinen Schnurrbart gedreht und ihnen erklärt haben, daß es ein für allemal nicht zu seinen Gewohnheiten gehöre, mit Leuten ihres Standes persönlich zu verhandeln; außerdem müsse er gleich spazierenfahren – worauf dann die Bauern natürlich tief beschämt und begossen wieder abzogen.[122]
Der zurzeit »regierende« Graf heißt, wenn ich mich recht entsinne, Adolf XXIV. Denn – so unwahrscheinlich es klingt – auch in dieser erlauchten Familie gehen immer zwölf auf ein Dutzend, also vierundzwanzig auf zwei Dutzend.
Adolf XXIV. ist ein seelensguter alter Herr, wohltätig und sparsam, edel und milde. Er reiht sich würdig den hehren Gestalten seiner Vorfahren an und ist in keiner Beziehung ein Neuerer. Seine Grundstimmung ist eine tiefe, aber harmonisch abgetönte Melancholie; er hat auch wahrlich Grund genug, sich über die Zeit, in der zu leben er gezwungen ist, zu beklagen. Zwar hat er selber ja das Schreckliche nicht mehr erlebt, nämlich daß die durch Gottes Gnade seinem Stamme verliehene Souveränität diesem im Verlaufe schnöder, profaner Zeitereignisse plötzlich abhanden kam; er hat es selber nicht erlebt, aber er hat den ganzen ungeheuren Schmerz über dieses unerforschlich-furchtbar-tief-geheimnisvolle Geschehnis gleichsam vererbt bekommen. Wie versteinert liegt auf seinen offenen, sanften Zügen die erstaunte Frage: wie ist es möglich, daß Stolberg-Stolberg nicht mehr mitgezählt wird unter den deutschen Staaten – Wie ist es möglich, daß ich, Adolf XXIV., nicht mehr mitgelernt werde von den deutschen Schulbuben – wie ist es möglich? Sein hochseliger Vater, dessen Namen und Nummer ich vergessen habe, war wenigstens im Anfang seiner Regierung noch[123] mitgelernt worden: später, als er mediatisiert war, pflegte er sich dann mit dem Gedanken zu trösten, daß ihn wenigstens die gute, die alte Generation noch – auf der Schule »gehabt« habe.
Auch Adolf XXIV. sucht sich in seiner Weise zu trösten. Er macht das so. Wo er auch immer in der Umgebung seines Schlosses einen Pfahl oder aufrechtstehenden Balken findet, der zu irgendwelchen Verkehrszwecken dient – zum Beispiel eine Tafel zu tragen, auf der geschrieben steht: »Verbotener, herrschaftlicher Weg« – da läßt er ihn flugs mit den »Landesfarben« – gelb und schwarz – bemalen!
Das ist doch immer etwas, und der Preußische Staat in seiner bekannten liebenswürdigen Jovialität läßt sich das ruhig lächelnd gefallen und gönnt dem guten Adolf dies »landesherrliche« Vergnügen.
Die Salamander sind in der Grafschaft Stolberg-Stolberg ebenfalls gelb und schwarz, doch ist es eine böswillige Verleumdung, wenn erzählt wird, der Graf ließe auch sie anstreichen. Vielmehr tut man gut, diesen Umstand einfach auf eine besonders devote Gesinnung der fraglichen Bestien zurückzuführen. – –
Mit mir ist Adolf böse. Und im Grunde kann ich es ihm nicht verdenken. Ich war nämlich, solange die Welt steht, der erste Referendar, der nach Stolberg kam und ihm keinen Besuch machte. Das heißt, Pardon: Besuch ... es handelte sich eben nicht um einen Besuch, sondern[124] um eine Audienz, um die man schriftlich einkommen mußte. Man wurde dann auf eine bestimmte Stunde befohlen, und nachdem man diese bestimmte Stunde lang im Frack gewartet hatte, wurde einem durch eine gelb-schwarze Hofschranze mitgeteilt, daß Illustrissimus von den heutigen Audienzen schon zu ermüdet sei und.. nun ja: man möchte ein andermal wiederkommen.
Solche Vergnügungen haben für mich nun immer verflucht wenig Reiz gehabt, und ich verzichtete daher leichten Herzens darauf. Die Folge war, daß man alsbald bei Hofe von mir als von einem revolutionären Verbrecher sprach und die Frage in ernstliche Erwägung zog, ob man nicht durch eine diplomatische Intervention beim Königlichen Hofe zu Berlin die gestörte Ordnung wiederherstellen, beziehungsweise Genugtuung fordern solle. Man kam jedoch von diesem Gedanken wieder ab, weil man sich überlegte, daß die Hohenzollern doch noch ein zu junges Geschlecht seien, als daß man sich mit ihnen in einen standesgemäßen Konnex setzen könnte.
Statt dessen wußte man es durchzusetzen, daß die »guten« Stoiberger Familien mich nach und nach boykottierten, das heißt, auf meinen Besuch hin nicht mehr einluden. Wer mich kennt, wird nun denken, hierauf hätte ich es eigentlich abgesehen gehabt, aber ich kann auf Ehrenwort versichern, daß ich auf eine solche Wirkung ursprünglich nicht zu hoffen gewagt[125] hatte, sondern sie später als reine, unverdiente Gnade empfand.
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Aber was red ich denn so viel von Stolberg-Stolberg; ich will ja eine Geschichte erzählen, die Geschichte vom gastfreien Pastor.
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