IV

[136] Wenn ein Stolberger Pastor nach Magdeburg fährt, so ist das ungefähr eine Begebenheit, als wenn unsereins Venezuela besucht. Schon vierzehn Tage vor dem Beginn der Provinzialversammlung des Vereins für Innere Mission unterhielt uns Pastor Viemeyer von nichts anderem als von seinen Vorbereitungen zur Reise. Das erste, was er sagte, wenn er abends an den Stammtisch trat, war etwa: – Wissen Sie, ich hab es mir überlegt: ich werde doch keinen Koffer nehmen, sondern meine große gestickte Reisetasche von meiner Mutter; wissen Sie, es ist so'n Adler drauf, d.h. eigentlich ist es kein Adler.. es sieht mehr so aus wie eine Wildsau ...

Wir kannten die Tasche.

Mit ihr bestieg er denn auch schließlich eines schönen Tages die Postkutsche und fuhr nach Nordhausen. Jetzt kann man schon von Rottleberode an mit der Bahn fahren.

– – – –

Schon nach drei Tagen war er wieder da. Bleich und verstört trat er an den Stammtisch. Er setzte sich still in eine Ecke und gab auf alle Fragen nur kurze, ausweichende Antworten. Dabei trank er ziemlich schnell einen Schoppen nach dem andern und zwischendurch, was sonst gar nicht seine Art war, mehrere Schnäpse. Doornkat.

Schließlich, ziemlich spät in der Nacht, als[137] alle andern gegangen und wir drei Säulen des Stammtisches mit ihm allein waren, faßte er sich ein Herz und erzählte:

– Ach, meine Herren! Wir Stolberger sollten wirklich unsre schöne Vaterstadt nicht verlassen. Ich bin nun kaum hinausgekommen, und schon ist ein fürchterliches Unglück über mich hereingebrochen. Und was das Schlimmste ist, ich verstehe es gar nicht.. ich kann es mir nicht erklären.. ich weiß gar nicht, was mir eigentlich passiert ist. Also bitte hören Sie mich an: ich werde ganz ruhig erzählen. Bevor ich fortfuhr, hatte ich zwei Tage früher einen Brief an die Frau Oberförster geschrieben, daß ich dann und dann ankäme. So fand ich denn alles zu meinem Empfange bereit. Es war nachmittags so gegen fünf Uhr, als ich ankam. In einem Salon, eine Treppe hoch, fand ich das ganze Pensionat beim Kaffee versammelt. Ich wurde wie ein alter Freund begrüßt, mit einer ungenierten Herzlichkeit.. wirklich sehr nett. Überhaupt herrschte in der Pension, wie ich gleich von Anfang an bemerkte, ein viel freierer und ungenierterer Ton, als wir ihn hier gewohnt sind. Hier bei meinem Amtsbruder Pfitzner zum Beispiel geht alles unendlich viel steifer zu. Da merkt man eben die Großstadt. – Also ich mußte nun mit ihnen Kaffee trinken. Die jungen Mädchen, es waren so gegen zehn, alle sehr hübsch und riesig geschmackvoll angezogen.. allerdings: unsere Damen würden da nun wieder aus Prüderie manches auszusetzen[138] gehabt haben.. na, Sie wissen ja, wie das ist. – Wir amüsierten uns sehr gut; ich plauderte, erzählte ihnen von Stolberg, und die Mädchen lachten darüber in einem fort, ich habe noch nie so viel lachen gehört.

Schließlich kam Besuch. Sie meinten alle, das wäre nichts für mich, und ich war auch wirklich zu abgespannt von der Sache. Lilith führte mich eine Treppe höher in ein kleineres Zimmer, wo ich dann zu Abend aß. Die Zimmer waren übrigens alle riesig gemütlich und anheimelnd. Nur standen überall Betten. Daran merkte man, daß man in einer Pension war.

Die Frau Oberförster sah ich den Abend nicht mehr, sie blieb unten bei ihrem Besuch.. ebenso die andern Mädchen. Nur Lilith leistete mir noch Gesellschaft, und da ich, wie gesagt, müde von der Reise war, brachte sie mich schon früh zu Bett – noch eine Treppe höher. Sie sagte mir, daß sie in dem Zimmer nebenan schliefe, und wenn ich noch was brauchte, sollt ich nur klopfen. –

Ich schlief wie ein Stein bis zum andern Morgen, wo ich wie gewöhnlich Punkt sieben Uhr aufwachte. Da noch alles ganz still im Hause war, mocht ich nicht stören, sondern nahm aus meiner Reisetasche meine Patentpfeife, schraubte sie mir zusammen und rauchte. Und zwar – wie das hier jeder Mensch tut – indem ich mich ans offene Fenster setzte und die Pfeife zum Fenster hinaushängen ließ.[139]

Es war ein wunderschöner Morgen. Ich träumte so recht behaglich und blies den Rauch in den Wind. –

Da auf einmal: wer biegt um die Ecke? Mein alter Freund und Studiengenosse Friedrich Spüleboom aus Halberstadt, mit dem ich vier Semester lang in Göttingen jeden Tag zusammen gegessen hatte. Ich wußte: er war inzwischen Pastor in der Nähe von Halberstadt geworden, aber wir hatten uns seit der Zeit nicht mehr gesehn.

Ich rufe also in der Freude meines Herzens herunter: »Spüleboom, Bruder, bist du's denn wirklich?«

Was glauben Sie, meine Herren, was tut Spüleboom? Wie er mich sieht, starrt er mich erst einen Augenblick wie entsetzt, wie entgeistert an und dann – läuft er davon. Was sagen Sie?! Läuft wie ein Dieb, so schnell ihn seine Beine tragen! –

Wissen Sie: er war ja immer schon ein bißchen verrückt, schon auf der Universität – machte Gedichte und alles mögliche, aber – dies konnt ich mir denn doch nicht erklären. Ich schimpfte laut vor mich hin.

Da fühle ich plötzlich eine weiche Hand auf meiner Schulter. Ich drehe mich um – wars Lilith.

Ich muß sagen, daß ich mich ordentlich genierte. Sie war noch nicht angezogen, ihr schönes rotes Haar war noch nicht gemacht, und sie lächelte mich so freundlich an ...[140]

Ich war verlegen und wußte nicht recht, was ich sagen sollte..

Sie schloß zunächst die Fensterläden. Die Morgenluft war auch wirklich recht frisch. Dann fragte sie leise:

– Darf ich Ihnen den Kaffee hier in Ihr Zimmer bringen?

– Ja gewiß, sagt ich, gern, wenn Sie so freundlich sein wollen ...

– Und darf ich auch mit Ihnen trinken, Herr Pastor?

Das gute Kind war so zutraulich.. wirklich reizend!

Na also: sie kam dann mit dem Kaffee wieder, und wir setzten uns zusammen aufs Sofa und tranken ihn. Auch sehr schöner Kuchen war da, von dem ich ziemlich viel aß – wie meinen die Herren? –

– Nichts, nichts, Herr Pastor. Also –: Sie aßen ziemlich viel Kuchen? –

– Ja, na und dann war die Stunde herangekommen, wo ich in die Versammlung mußte. Und nun kommt das Unglaubliche: der erste, den ich erkenne, ist wiederum mein alter Freund Fritz Spüleboom. Wie ich aber auf ihn zugehen will, zieht er sich schleunigst zurück in das Gedränge der andern. Und nun dauert es gar nicht lange, da bemerk ich, wie mich bald der eine, bald der andere so scheu und finster von der Seite ansieht.. Und wenn ich einen anrede, antwortet er nicht, sondern tut, als wenn er nichts gehört hätte, und wendet mir[141] in auffälliger Weise den Rücken ... Ganz scheußliche Situation! Ich besehe mich von oben bis unten, ob ich was an mir habe.. ich prüfe meine Stiefelsohlen.. spüre nichts, absolut nichts.

Die Verhandlungen nehmen ihren Verlauf. Obgleich ich mich für den Verein für Innere Mission stets lebhaft interessiert habe, höre ich nur mit halbem Ohr zu, denn ich bin viel zu sehr mit mir selber beschäftigt. Als dann endlich die Sache zu Ende ist, und ich gehen will, werde ich zum Präsidenten des Landeskonsistoriums gerufen.

Ich komme hin: »Herr Pastor Viemeyer! Es scheint mir doch, daß Ihnen eine würdige Auffassung der ernsten Aufgaben des Vereins für Innere Mission abgeht. Ich will keine langen Worte machen. Die Sache widert mich an. Was zuviel ist, ist zuviel. Einstweilen werden Sie sich unverzüglich nach Stolberg zurückbegeben. Dort werden Sie das Weitere von mir hören.« Damit dreht er sich um und ging ... ließ mich stehn.

Und nun frag ich Sie, meine Herren! Beschwöre Sie: sagen Sie mir, ich bitte Sie: was kann das sein? Was kann dem zugrunde liegen? Daß man sich am frühen Morgen mit der langen Pfeife zum Fenster hinauslegt, du lieber Gott, das mag ja kleinstädtisch sein, meinetwegen auch ungehörig, wenigstens für einen Geistlichen. Aber unmöglich kann das doch ein solches Verbrechen sein ... Wie? –

Wir verharrten nach Schluß dieser Rede eine[142] Zeitlang in tiefem Schweigen. Die Situation war doch prekär geworden ...

Schließlich ergriff der Oberstabsarzt das Wort:

– Sagen Sie, Herr Pastor, haben Sie die Sache mit der.. der Frau Oberförster besprochen?

– O doch, gewiß! Die gute Frau war ganz unglücklich, ganz unglücklich, – sie hat sogar geweint.

– So. – –

– Ja, und hat immer versucht, mich zu trösten. Und ganz zum Abschied sagte sie: Ich möchte mich nur beruhigen: sie würde die Sache schon ins Reine bringen.

– Sie. – –

– Ja. – Sie war ganz erregt. Sie versprach mir, sie würde persönlich zu dem Herrn Präsidenten gehen. Sie würde ihm bezeugen, daß wir das hier alle so machen. Ich meine mit der Pfeife morgens. So zum Fenster hinaus. – Sie hätte Beziehungen zu dem Herrn Präsidenten. Sein Sohn, der Landrat, wäre öfter bei ihr gewesen, und ein Bruder von ihm, dem Präsidenten, hätte sogar mal ein Mädchen bei ihr gehabt. – Auch kenne sie eine ganze Anzahl von meinen Amtsbrüdern persönlich. Sie würd es schon machen! – –

Wir atmeten erleichtert auf.

Nachdenklich sprach der Amtsanwalt:

– Wissen Sie, Herr Pastor, wie ich hiernach die Verhältnisse beurteile – Sie wissen: ich war früher Lazarettinspektor in Magdeburg und[143] weiß also dort Bescheid – nach meiner Überzeugung können Sie hiernach – voll und ganz beruhigt sein. Wenn sich die Frau Oberförster bei ihren sicherlich sehr weitgehenden Verbindungen in dieser energischen Weise Ihrer annimmt – dann kann Ihnen nie und nimmer was geschehn. –

Ich pflichtete dem Amtsanwalt eifrig bei und fügte hinzu:

– Aber da sehen Sies nun mal wieder, Herr Pastor: die eigentlichen Kleinstädter leben doch nur in der Großstadt. Denn sagen Sie selbst: gibt es etwas Kleinlicheres, als sich an eine solche Äußerlichkeit, wie dieses zum Fenster Hinausrauchen, zu stoßen?

– Nein, das muß ich auch sagen: das haben wir doch als Studenten in Göttingen ganz ruhig getan.

– Ja Göttingen – rief der Oberstabsarzt – Göttingen ist eine Weltstadt im Vergleich mit Magdeburg! – – – –

Nun wurde es sehr fidel.

Wir tranken auf das Wohl des Vereins für Innere Mission.

Der Pastor, von seinen Sorgen befreit, geriet schnell außer Rand und Band – wir mußten ihn von Friedrich in seines Vaters Haus geleiten lassen. –

Wir drei aber knobelten wiederum zur Feier des Tages drei Flaschen Sekt aus, und ich fing sie wiederum alle drei.[144]

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Berlin 1913, S. 136-145.
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