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[38] In Nordberlin, im Hinterhaus, vier Treppen,

wohnt ein Student. Er war nicht reich; doch arm,

blutarm war seine Wirthin, eine Wittwe.

Die sass in ihrem düsteren Hinterstübchen,

und vor ihr stand bekümmert ihre Tochter,

das bleiche, hübsche, vierzehnjährge Gretchen.

Sie stand vor ihr, als wär sie schuldbewusst,

und liess das Köpfchen hängen; ihre Mutter

schalt auf sie ein mit ihrer harten Stimme:


Ein neues Kleid? Zur Confirmation!

Fürn lieben Gott! Was? Frag doch mal den Pastor,

wieso denn die, die nicht mal so viel Geld

bekamen, um in einem ganzen Kleide

des Sonntags in die Kirche gehn zu können,

wieso denn die an Gott noch glauben müssten!
[38]

Geh, frag ihn, aber bitt mich nicht um Geld

und Kleider .. freu dich, wenn du nicht verhungerst ...

Und weinend wendet Gretchen sich zur Thür.

Da kommt ihr ein Gedanke. Mutter! ruft sie,

ich will den Herren Doctor bitten – Mutter!

Was lachst du? – Das ist recht! Nur zu! Nur zu!

Es muss ja doch mal kommen. Geh nur hin! –

Ich glaube, Mutter, dass ers thut. – Gewiss!

Er wäre ja ein Narr, wenn er sich zierte!

Und wieder lacht sie bitter höhnisch auf.


Ein Bangen vor der Mutter fasst das Kind.

Es geht hinaus und leise, schüchtern klopft es

an des Studenten Thür. Herein! Und zagend,

erröthend überschreitet sie die Schwelle.

Sie hat noch nicht gebettelt. –


Gretchen! Du? –

So komm doch näher, Kind .. was giebt es denn?

Was hast du denn? O sieh, du hast geweint!

Gieb mir die Hand: wer hat dir was gethan? –

Und freundlich fasst er ihre Hand und schaut

in ihre grossen braunen Augen. Flehend,

doch ohne Scheu sind sie auf ihn gerichtet.

Und langsam sagt sie: Nächsten Sonntag schon,

am Ostersonntag .. werd ich eingesegnet ..

und alle kommen sie in schwarzen Kleidern ..[39]

in neuen schwarzen Kleidern .. aber ich ..

ich bat die Mutter ... Ach, wir sind so arm!

Von jähem Mitleid mit sich selbst bewältigt,

bricht sie aufs neu in heisse Thränen aus,

und, wie nach Tröstung suchend, fasst sie fester

die Hand des jungen Mannes.


Gretchen! Komm:

sei still! Und ihre linke Hand, mit der

sie ihre Thränen trocknet, zieht er sanft

herab. – Ich schenk es dir, das schwarze Kleid!


Dann aber stösst er sie fast rauh von sich:

Ich habe noch zu thun. Komm! Sei gescheit!

Lass meine Hand! Ich habe noch zu thun.

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Meine Verse. Berlin 1905, S. 38-40.
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