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[514] Die an Furcht grenzende Achtung des jungen Lanbek hieß ihn geduldig und ohne Murren dem Vater folgen, und langjährige Erfahrungen über den Charakter des Alten verboten ihm in diesem Augenblick, wo der Schein so auffallend gegen ihn war, sich zu entschuldigen. Der Landschaftskonsulent warf sich in seinem Zimmer in einen Armsessel und verhüllte sein Gesicht. Besorgt und ängstlich stand Gustav neben ihm und wagte nicht zu reden; aber die beiden schönen Schwestern des jungen Mannes flogen herbei, als sie die Schwäche des Vaters sahen, fragten zärtlich, was ihm fehle, suchten seine Hände vom Gesicht herabzuziehen und benetzten sie mit ihren Tränen. – »Das ist der Bube«, rief er nach einiger Zeit, indem sein Zorn über seine körperliche Schwäche siegte; »der ist es, der das Haus eures Vaters, unsern alten guten Namen, euch, ihr unschuldigen Kinder, mit Elend, Schmach und Schande bedeckt; der Judas, der Vatermörder – denn heute hat er den Nagel in meinen Sarg geschlagen.«

»Vater! um Gottes willen! Gustav!« riefen die Mädchen bebend, indem sie ihren bleichen Bruder scheu anblickten und sich an den alten Lanbek schmiegten.[514]

»Ich weiß«, sagte der unglückliche junge Mann, »ich weiß, daß der Schein gegen mich –«

»Willst du schweigen!« fuhr der Konsulent mit glühenden Augen und einer drohenden Gebärde auf. »Schein? meinst du, du könnest meine alten Augen auch wieder blenden wie damals nach dem Karneval? nicht wahr, es wäre weit bequemer, wenn sich diese beiden Augen schon ganz geschlossen, wenn sie den alten Lanbek so tief verscharrt hätten, daß keine Kunde von der Schande seines Namens mehr zu ihm dringt. Aber verrechnet hast du dich, Elender! Enterben will ich dich; hier stehen meine lieben Kinder, du aber sollst ausgestoßen sein, meines ehrlichen Namens beraubt, verflucht –«

»Vater!« riefen seine drei Kinder mit einer Stimme, die Töchter stürzten sich auf ihn, und zum ersten Mal wagte es Hedwig, ihre Lippen auf die geheiligten Lippen des Vaters zu legen, indem sie ihm den zum Fluch geöffneten Mund mit Küssen verschloß. Die jüngere hatte sich unwillkürlich vor Gustav gestellt, seine Hand ergriffen, als wolle sie ihn verteidigen, der junge Mann aber riß sich kräftig los; nie so als in diesem Augenblick glich sein Gesicht, sein drohendes Auge den Zügen seines Vaters, und die beengte Brust weit vorwerfend, sprach er: »Ich habe alles ertragen, was möglicherweise ein Sohn von seinem Vater ertragen darf, ich habe aber noch andere Pflichten, meine eigene Ehre muß ich wahren, und wäre es mein eigener Vater, der sie antastet. Es hätte Ihnen genügen können, wenn ich bei allem, was mir heilig ist, versichere, daß ich nicht das bin, wofür Sie mich halten. Wenn Sie keinen Glauben mehr an mich haben, wenn Sie mich aufgeben, dann bleibt nichts mehr übrig. Lebet wohl – ich will euch nur noch eine Schande machen.«

»Du bleibst!« rief ihm der Alte, mehr ängstlich und bebend als befehlend nach. »Meinst du, dies sei der Weg, einen gekränkten Vater zu versöhnen? hast du so sehr Eile mir voranzugehen, und einen Weg einzuschlagen, wo ich dich nie mehr träfe? Denn ich habe redlich und nach meinem Gewissen gelebt, dich aber und deine Absicht verstand ich wohl.«

»Aber Vater«, sprach seine jüngste Tochter mit sanfter Stimme, »wir hatten ja alle Gustav immer so lieb, und Sie selbst sagten so oft, wie tüchtig er sei; was kann er denn so Schreckliches verbrochen haben, daß Sie so hart mit ihm verfahren?«

»Das verstehst du nicht, oder ja, du kannst es verstehen: des Juden Schwester liebt er, und mit ihr und seinem Herrn Schwager[515] Süß hat er sich am Gartenzaun unterhalten. Jetzt sprich! kannst du dich entschuldigen? O ich Tor, der ich mir einbildete, man habe ihn, um mir eine Falle zu legen, erhoben und angestellt! seine jüdische Charmante hat ihn zum Expeditionsrat gemacht!«

»Der Vater will mich nicht verstehen«, sprach der junge Mann, mit Tränen in den Augen, »darum will ich zu euch sprechen. Euch, lieben Schwestern, will ich redlich erzählen, wie die Umstände sich verhalten, und ich glaube nicht, daß ihr mich verdammen werdet.« Die Mädchen setzten sich traurig nieder, der Alte stützte seine gefurchte Stirne auf die Hand und horchte aufmerksam zu. Gustav erzählte, anfangs errötend und dann oft von Wehmut unterbrochen, wie er Lea kennengelernt habe, wie gut und kindlich sie gewesen sei, wie gerne sie mit ihm gesprochen habe, weil sie sonst niemand hatte, mit dem sie sprechen konnte. Er wiederholte dann das Gespräch mit dem jüdischen Minister und dessen arglistige Anträge; er versicherte, daß er nie dem Gedanken an eine Verbindung mit Lea Raum gegeben habe, und daß er diesen Abend dem Minister es selbst gesagt haben würde, wäre nicht der Vater so plötzlich dazwischengekommen.

»Du hast sehr gefehlt, Gustav«, sagte Hedwig, seine ältere Schwester, ein ruhiges und vernünftiges Mädchen. »Da du nie, auch nur entfernt, an eine Verbindung mit diesem Mädchen denken konntest, so war es deine Pflicht als redlicher Mann, dich gar nicht mit ihr einzulassen. Auch darin hast du sehr gefehlt, daß du nicht gleich damals schon deinem Vater alles anvertraut hast; aber so hast du jetzt deine ganze Familie unglücklich und zum Gespött der Leute gemacht; denn meinst du, der Süß werde nicht halten, was er gedroht? ach! er wird sich an Papa, an dir, an uns allen rächen.«

»Geh, bitte den Vater um Verzeihung!« sprach das schöne Käthchen weinend. »Du mußt ihm nicht noch Vorwürfe machen, Hedwig, er ist unglücklich genug. Komm, Gustav«, fuhr sie fort, indem sie seine Hand ergriff und ihn zu dem Vater führte, »bitte, daß er dir vergibt; ja, wir werden recht unglücklich werden, der böse Mann wird uns verderben, wie er das Land verdorben hat, aber dann lasset doch wenigstens Frieden unter uns sein. Wenn wir uns nur noch haben, so haben wir viel, wenn er uns alles übrige nimmt.«

Der Alte blickte seinen Sohn lange, doch nicht unwillig an. »Du hast gehandelt wie ein eitler junger Mensch, und die Aufmerksamkeit,[516] die dir diese Jüdin schenkte, hat dich verblendet. Du hast, ich fühle es für dich, vielleicht schon seit geraumer Zeit, gewiß aber diesen Abend dafür gebüßt. Katharina hat recht; ich will dir nicht länger grollen; wir müssen uns jetzt gegen einen furchtbaren Feind waffnen. Glaubst du, daß er Wort halten wird mit den vierzehn Tagen Frist, die er dir nachrief?«

»Ich glaube und hoffe es«, antwortete der junge Mann. »Um jene Zeit muß sich mehr entscheiden als nur das Schicksal unseres Hauses«, fuhr der Alte fort; »Römchingen und Süß – oder wir; wer verliert, bezahlt die Zeche. Jetzt gelobe mir aber, Gustav, die Jüdin nie mehr, weder im Garten noch sonstwo aufzusuchen, und unter dieser Bedingung will ich deine Torheit verzeihen.«

Gustav versprach es mit bebenden Lippen und verließ dann das Zimmer, um seine Bewegung zu verbergen. Noch lange und mit unendlicher Wehmut dachte er dort über das unglückliche Geschöpf nach, dessen Herz ihm gehörte und das er nicht lieben durfte. Er teilte zwar alle strengen religiösen Ansichten seiner Zeit, aber er schauderte über dem Fluch, der einen heimatlosen Menschenstamm bis ins tausendste Glied verfolgte und jeden mit ins Verderben zu ziehen schien, der sich auch den Edelsten unter ihnen auf die natürlichste Weise näherte. Er fand zwar keine Entschuldigung für sich selbst und seine verbotene Neigung zu einem Mädchen, das nicht auch seinen Glauben teilte, aber er gewann einigen Trost, indem er sein eigenes Schicksal einer höheren Fügung unterordnete.

Sein Vater und die Schwestern unterhielten sich noch lange über ihn und diese Vorfälle, und die Erinnerung an so manche schöne Tugend des jungen Mannes versöhnte nach und nach den Alten, so daß er selbst das Geheimhalten jener Vorschläge des Ministers einigermaßen entschuldigte. Als aber spät abends die beiden Schwestern allein waren, sagte Käthchen: »Wahr ist es doch, Gustav hat zwar gefehlt, aber an seiner Stelle hätte jeder andere auch gefehlt. Ich habe sie einmal am Fenster und einmal im Garten gesehen; so schön und anmutig sah ich in meinem ganzen Leben nichts; was sind alle Gesichter in Stuttgart, was ist selbst die schöne Marie, von der man so viel Wunder macht, gegen dieses herrliche Gesicht! nein, Hedwig, ich hätte mich ganz in sie verlieben können.«

»Wie magst du nur so töricht schwatzen!« erwiderte Hedwig unwillig; »mag sie sein wie sie will, sie ist und bleibt doch nur eine Jüdin.«[517]

Quelle:
Wilhelm Hauff: Sämtliche Werke in drei Bänden. Band 2, München 1970, S. 514-518.
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