Fünfte Szene.

[62] DIE WIRTIN greift, wie sie bei Rapunzel vorübergeht, von hinten nach deren Schultertuch. Nanu ... was ist denn das? ... was ist denn das für ein Tüchel?


Rapunzel steht da und hält das Tuch, was sie um die Schultern hat, mit beiden Händen fest.


DIE WIRTIN. Was hat denn dieses nichtsnutzige Frauvolk um die Schultern?

EIN BAUERNBURSCHE ruft. Was wird denn die anderes haben?

EIN ANDERER BURSCHE. Gestohlen hat die sicher das Tüchel ...

DIE WIRTIN. Weise ... komm' doch einmal rasch ... sag' du's[62] einmal dem Diebsvolk ins Gesichte ... und sag's auch vor allen Leuten dem Wachtmeister ins Gesichte 'nein ... daß er endlich einmal die Augen aufreißt ...

DER WIRT. Ach, Minna ... zuerst läßt du das Mädel los ...

DIE WIRTIN. Aber das Tüchel laß ich nicht los ... denn das ist mein Seidentüchel ...

RAPUNZEL plötzlich gehässig, bleckt der Wirtin die Zunge. Wessen sollte das Seidentüchel sein ... häh?


Der Fremde blinzelt achtlos vor sich hin.


DIE WIRTIN. Nun haben Sie's endlich, Herr Gendarm ... nun werden Sie's wohl schließlich doch glauben, daß kein anderer Mensch hier in der Schenke jemals den Einbruch verübt hat ...

RAPUNZEL. Anspucken thu' ich Euch, wenn Ihr mir noch einmal nahe kommt!


Der Fremde richtet jetzt seinen Kopf hoch und sieht Rapunzel blinzelnd an, während der Diener ein kostbares Kästchen herzuschiebt.


DER WIRT. Sie müssen nämlich wissen, gnädiger Herr ...[63] wenn ich's Ihnen genau erzählen soll ... ich kann's Ihnen gerade 'naus sagen ... es handelt sich um Gesindel, um Spitzbuben und Halunken ... mein Gott ... böse sind die Leute gar nicht ... aber es ist schlechtes Zeug ... und der Winter ... dieser Winter war auch schlecht ... und die Arbeit ... Gott ja ... was man mit Besenbinden so verdienen kann ... hauptsächlich müssen sie im Bette liegen, weil doch das Licht und die Kohle zu viel Geld kosten ... und da stehlen sie eben, wenn's Nacht ist ... da haben wir schon das Blendlaternel gefunden ... der Friedrich behauptet steif und feste, er hätte genau gesehen, wie's dem jungen Kerle unterm Rocke wegrutschte und in den tiefen Schnee fiel ... man weiß ja nicht ganz genau ... aber hier nämlich ... deshalb ist der Auflauf ... entschuldigen Sie nur freundlich, daß die Leute Sie stören ... aber das Tüchel ... das Tüchel ... hat noch vorigen Sonnabend hier im Schenksims am Haken gehangen ... und in der Sonnabendnacht hat eine Herde Weinflaschen und Würste und Rollschinken ... und alles mögliche ... und auch das Tüchel hat mitten im Schneesturm, wo man keine Scheibe klirren hört ... hat das alles Füße gekriegt ... Sie verstehen schon ...


Rapunzel bedeckt sich mit dem Tuche das Gesicht.


DER GENDARM. 'runter mit dem Tuch ... das Tuch gibst du überhaupt her ...[64]

RAPUNZEL kämpft darum. Nein ... nein ... um keinen Preis geb' ich das Tüchel her ... mein Tüchel brauch' ich nicht herzugeben ... mein Tüchel brauch' ich nicht herzugeben! ...

DER GENDARM. Da ...'runter mit dem Tuch endlich ... her damit ...

RAPUNZEL. Pfui ... grober Kerl! ... Sie spuckt.

EIN MÄDCHEN. Die spuckt und kratzt, wie's ihr paßt ...

RAPUNZEL. Und du schmeißt lieber dein Kind in den Dorfbach ... und mußt zwei Jahre brummen ... ich hab' mich wohl gehütet, ins Halseisen zu geraten ...


Die Bauern lachen.


DER GENDARM greift Rapunzel. Nun vorwärts, Rapunzel ... ich will die Sache gleich auf der Fährte weiter verfolgen ... diese Raschkeleute verstehen es nämlich ausgezeichnet, noch den wachsamsten Beamten hinter die Fichte zu führen ... wenn du jetzt nicht gutwillig mitkommen willst ...


Quelle:
Carl Hauptmann: Die armseligen Besenbinder. Leipzig 1913, S. 62-65.
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