Dritter Vorgang

[41] In der Ferne hohe Schneegebirge. Es ist in einem tieferen Waldtal eine Lichtung. Felsen zur Rechten. Eine Felsschlucht tiefer links. Darunter steht eine Hütte aus Astwerk, umblüht von Schlinggewächsen. Ein paar hohe Bäume vereinzelt vorn.

Auf einem Stein vor einem Loderfeuer, sich Kerne röstend, sitzt Ginyo im grauen Kleide der Siedlerinnen. Tozi, die Mutter, ebenfalls als Siedlerin gekleidet, sitzt auf einem Baumstumpf vor der Hütte, ein altes Pergamentbuch auf den Knieen aufgeschlagen.


GINYO.

Es wird jetzt kühl. – Die blauen Fröschlein preisen

in Blumenkelchen ihren Abend ... Und

das Rauschen aus der Schlucht steigt voller auf ...

Und Bienen ziehn mit sanftem Summen heimwärts ...

TOZI versunken.

Nur lausche, Kind, dem Frieden!


Es bleibt eine Weile tiefe Stille, während sich Ginyo am Feuer betätigt.
[41]

GINYO.

Oh mein Gott!

Warum der Mensch wohl Bild an Bild erschaut,

und wie Verkündetes im Auge ansieht,

wenn er so für sich sinnt? ... Erklär, mir's, Mutter!

TOZI aus ihrem Buche aufblickend.

Wachend und schlafend, immer schafft die Seele

am Wunderwerk der Sehnsucht. Wesenlos

und unberührt sind ihre Traumgesichte,

gewirkt aus Leid und Leben, wie aus Licht.

GINYO.

Wahnspielen gleich – ein Nichts ...

TOZI ins Lesen vertieft, nebenbei.

Und doch die Macht,

die dir die Welt und dich der Welt verbindet.

Ein heiliger Bund webt so von Seele hin

zu Wesen, dass sie fest einander halten ...

trotz Bangigkeit ... Und nicht ein Stein – ein Blatt

ist aus der Einigkeit je ausgestossen.[42]

Was fällt, das klammert sich im Fallen gleich

an irgend etwas, das im Wege liegt.


Es bleibt wieder eine Weile tiefe Stille unter den Frauen.


GINYO.

Wo bleibt nur Giwau, Mutter?

TOZI.

Kind, du weisst,

sie braucht die Menschen nicht mehr ... geht für sich.

Sie wird schon wiederkehren ... eh die Nacht

im Wald die Stimmen weckt, die einsam rufen.


Es ist wieder eine tiefe Stille eingetreten.


GINYO.

Oh, Mutter, Leid kam viel. Das Leid hat Giwau

mit harter Krallenhand berührt ... so hart,

dass fast ihr Leben hinschwand ... als sie dort,

vom Kaiser vor Hotoken hingezwungen,

ihr Selbst vollends zerbrach ... nicht, liebe Mutter?

TOZI antwortet nicht.

GINYO.

Nein nein, es macht nur Müh, die Bitternisse[43]

noch alle zu erinnern ... Gütiger Himmel!

'ne Dienerin sein, dort wo man Herrin hiess,

und heiter sein, um Schwermut zu verscheuchen

der, die das Herz uns brach! ... Du heilige Göttin,

vergib Hotoken und vergib dem Kaiser

für solchen argen Frevel!

TOZI ist stumm ins Lesen vertieft, achtet gar nicht.

GINYO.

Mutter, sieh ..!

Ich schütte auch der Göttin jetzt ein paar

Röstbohnen aus ... wo doch der Abend kommt.

Sie hat das gern. Es ist ihr wohlgefällig,

wenn wir ihr opfern, was uns Leben ist –:

Speise und Trank ... und manches ...

TOZI.

Tu es, Kind!

GINYO.

Und Giwau bringt ihr wieder Blumen ... Blumen!

TOZI.

Ja, ganz gewiss bringt Giwau wieder Blumen!


Es bleibt wieder eine Weile tiefe Stille.
[44]

GINYO.

Weisst du es noch?

TOZI.

Was soll ich wissen, Kind?

GINYO.

Den Tag, wo die Erlösung kam?

TOZI.

O Preis!

Den Tag vergisst kein Mutterherz.

GINYO.

Da war's –: –

Wie ganz versiegt der Seele Brunnen schien,

ganz liebeleer, ganz ausgeschöpft vom Kummer,

ganz nur ein Bett aus Stein, eiskalt geworden,

und Giwau dachte, dass sie keines Dinges

sich mehr erfreute in der Welt der Trübsal ...

da war's, dass einer Amsel Laut so brünstig

und sanft aus Wipfeln niederträufelte ...

ein Lied, vom schwarzen Vogel unermüdlich

tiefer Vereinsamung zum Trost gesungen: –

bis sie es hörte –: – unermüdlich klang es –: –

bis sie es voll gewahrte ... zärtlich lachte ...

sehr sanft für sich nur ... wie zum ersten Male ...[45]

TOZI.

Und so ihr Herz auf einmal ganz gesundet ...

GINYO heiter.

Ein neues Herz ward ... Herze ohn Erinnern ...

das unbegreiflich selig hinlebt.

TOZI.

Oh,

dem Himmelsvater Preis und Dank für Giwaus

neu-fröhliches Aufblühn aus dem bittren Tode.

GINYO.

Nun ist sie frei ... der Lüfte Waldgespielin ...

mit Kranze schmückt sie sich ... ihr Haar weht hin ...

sie kommt mit Blumen an den Bach ... und wirft

verträumt in Wassersturz und eilige Schäume

Blüte um Blüte, dass sie ewig kreisen ...

Und lächelnd kniet sie vor dem Waldtier ... kichernd

lockt sie den Häher aus den Zweigen nieder

ins Waldgras ... und ihr leises Stimmlein ist,

als hätte Wind ganz weit, weit hergeweht

ein seliges Lied aus himmelblauer Ferne.


[46] Giwau in ärmlichem Gewande, einen Kranz im verwehten Haar, Kränze und Blumen über Armen und im Schoss des Kleides, kommt unter den Worten der Mutter achtlos heran, ganz mit sich beschäftigt, auf halbem Wege zurücklauschend und dann, wie irgend etwas Entferntem kindlich zulachend.


TOZI die ihr Buch in die Hütte getragen, geht Giwau einige Schritte entgegen.

Nun? ... heilige Einsame ... bring nur die Kränze ...

und leg sie Ginyo und auch dir zu Häupten

auf deine Lagerstatt! ... Geliebtes Kind,

bist du nicht endlich müde?

GIWAU schüttelt den Kopf.

TOZI.

Gar nicht müde?

und hast doch Hand und Fuss mit Dorn geritzt?

Oh, was für Wunderblumen du nur findest

in unsern Schluchten! Solche sah ich nie,

wie hier in diesem Kranze! ... Möchtest du nicht

den schönsten unserm Himmelsvater weihen,

der jetzt sein Auge zuschliesst ... und doch wacht ...[47]

ein ewiger Täter und ein ewiger Schläfer ...

des Milde wir vertrauen, wenn wir jetzt

neu in die Nacht einsinken ... wie der Keim

der in der Erde stumm zum Frühling hinschläft ...

Denn immer ist aus jedem Schlafe noch

das selige Schauen neu erwacht. – Kommt, Kinder!

wie alle Dinge sich die Hände reichen,

so tun auch wir es, unsern Gott zu preisen.

DIE DREI FRAUEN haben sich an der Hand ergriffen und singen in kindlichem Dreiklang, mit aufgerichteten Blicken.

Abend, der selige Abend kam,

hinschwebend mit Flügeln über die Flur.

Die Blumen neigen sich nieder –.

Die Wasser steigen in Schleiern empor

und hüllen die strahlende Weite,

und hüllen das strahlende, goldene Tor.

Abend, du selige fromme Stunde!

Abend, dich preisen wir!

Abend, dich preisen mit frommem Munde

deine seligen Bräute.


Nach dem Gesange gehen alle Drei hintereinander in die kleine Hütte und schliessen die Tür hinter sich.

[48] Es ist bald tiefe Ruhe eingetreten. Sterne beginnen am Himmel zu blinken. Die Nacht ist ganz hell. Von rechts erscheint, müde mit einem Wanderstecken tastend, eine zarte Frau in Bettlerkleidern.


DIE BETTLERIN.

Hier ist ein Quell. Hier will ich trinken ... Durst

hat mich den weiten Weg gequält ... Gott! Gott!

Der Frieden dieser Nacht ist grenzenlos.

Hier will ich mir zum Lager Blätter, sammeln

und schichten ... Da ... ist eine Siedelei!

Dort ist die Hütte ... Doch die Siedelei

ist ganz verschlafen ... Lied nicht, fröhliches Lachen

noch Flüsterlaut der Beterin ist hörbar.

Die Heilige, die das Volk weit preist, schläft still

auf ihrer Matte hingestreckt. – O Gott!

Nun seh ich einmal alle Sterne scheinen

und möchte nicht zurück ins Sorgenland.

Wie still der Wald rauscht! – Ob ich hier wohl klopfe?


Sie hat an der Hütte angeklopft und lauscht eine Weile.


Es bleibt ganz still. Und nur ein Dämmerfalter

surrt durch die Nacht gespensterhaft. – Nun gut!


Sie hat sich auf einem der Baumstümpfe vorn rechts niedergelassen.
[49]

Wie ferne Ahnung kommt es .... Das Erinnern

wacht wie ein Schemen auf, als hörte ich

verklungene Worte neu verwehn ... Ich bin

geflohen von der ersten Frühe, eh

die Diener wachten, bis in Nacht ... bin müde ...

bin matt geworden ... will die Augen zutun

unter den hellen Sternen ... Nein, mir bangt nicht.


Während ihrer Worte, die sie sinnend vor sich hinspricht ist Giwau völlig lautlos lauschend aus der Hütte getreten und nähert sich Schritt um Schritt ungesehen der im Selbstgespräch gebundenen Bettlerin.


DIE BETTLERIN.

Und doch flieht mich der Schlaf noch. – Allzu seltsam

erscheint der eigene Herzschlag ... allzu flüchtig,

der sich von allen Wünschen schied ... O Gott!

Nicht kenntlich bin ich mehr. Mein Kleid von Seide

ist abgetan. Ich floh. Die Seele sehnte

sich nach der Dauer ... nach dem Festgefügten ...

einmal für ewig ... sehnte sich nach dem,

was unverbrüchlich Ankergrund und Halt.[50]

Und meine Seele sehnte sich und ward

immer geängstigt von der Flucht der Dinge,

als hörte sie den Erdball rastlos kreisen.

Und ewig quälte mich und drohte immer

der Liebe letzte Qual ... ihr Tod. So floh ich ...

floh ohne Ziel ... floh hungrig nach dem Frieden ...

so wie der Wasservogel sich aus Dunkel

der Nacht erhebt, dem Schein des Leuchtturms zudrängt.

Niemand, auch der Geliebte konnte nicht

die Qual bemeistern, die im Herzen wuchs ...

was sie auch taten, mich zurückzuhalten

von jenem Wege, der nicht wiederkehrt!


Ginyo war während dieser Worte hinter Tozi aus der Hütte getreten. Beide Frauen stehen von ferne.


DIE BETTLERIN.

Nun bin ich unter Sternen, einsam ... neu

in mich zurück geborgen alle Triebe

und atme Frieden ... Oh, wer weint? Mich dünkt,

ich kenn den süssen Laut der Tränen! –


Sie erhebt sich plötzlich und sieht Giwau. Beide erkennen einander.[51]


HOTOKE.

Ach! –


Sie geht demütig zu Giwau.


Unwürdig ganz, ich habe keinen Namen.

Wer, weiss noch, wer er ist? des Wünsche starben.

Ganz ferne rauscht das wilde, tiefe Meer

der Sehnsucht, wie ein niebegriffnes Lied.

Ich bin der Flucht der Dinge allzu müd ...

und komme Frieden suchen zu dir her.


Sie ist vor Giwau niedergesunken, und Giwau nimmt ihren Kopf lächelnd schluchzend an ihre Brust.[52]


Quelle:
Carl Hauptmann: Panspiele. München 1909, S. 41-53.
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