[57] Die Mittagssonne brannte auf den Plan. Ein paar hohe Pappeln gaben scharfe Schattenstümpfe gegen das Wasser. Der Seespiegel lag träge und schwül. Die ältere, kirschenäugige Zigeunermutter hantierte im Wagen. Die junge Frau noch mit demselben blauen Leinenkittel hing in der beschatteten Wagenkelle und schlief über dem Kinde, den Brustknopf offen, daß das Fleisch heraussah. Die beiden braunen, lumpigen Dirnen lagen an der Böschung unter Weidenschatten und hatten sich umschlungen. Einhart sah sich nach den Männern um. Sie waren nicht sichtbar. Dann, wie er näher trat und scheu äugte, fast nun auf Zehen tretend, um die schwüle Ruhe nicht zu stören, sah er, daß einer im zweiten Wagen über Lumpen ausgestreckt sich dehnte, den Blick aufwärts in die Wagenplane. Ein paar kleinere Kinder regten sich daneben. Die Pferde schliefen und die angepflöckten Ziegen schliefen. Dann sah er draußen im Weizenfelde über den im Lichte schwimmenden Sonnenhalmen den dunklen Kopf Pavos heraufragen. Den Hutrand im Nacken mußte Pavo dort etwas tun, wie die Katze vor einem Mauseloch. Er starrte[58] unverwandt auf die Erde nieder und rührte sich nicht.
Einhart war es ein wenig unangenehm. Die Lage der Dinge war am Abend vorher eine ganz andere gewesen. Es schien ihm jetzt eine unglaubliche Verwandlung. Als wenn auch hier niemand mehr den andern kennte und sich an nichts aus jenem vorigen Leben erinnerte. Es war eine ganz andere Welt. Er mußte an sich herabblicken und fürchtete fast, daß man vor ihm erschrecken würde. Er lief, nachdem er erst von ferne noch eine Weile zugesehen, jetzt doch wie absichtslos vorwärts. »Ich komme einfach zufällig hier an den See«, dachte er vor sich hin. So ging er zwischen den Wägen hindurch. Aber erschrecken tat niemand. Die alte Zigeunermutter sah sich nicht mit einem Blicke um. Der Zigeuner im Wagen erhob mit lässiger Bewegung nur ein wenig seinen Kopf, ohne mehr als die beiden Hände dann in den Nacken zu legen und gleich zurückzusinken mit geschlossenen, schweren Augen.
Einhart hatte den Hut in der Hand. Er hatte zu grüßen versucht. Aber keiner der Menschen hier, dem es eingefallen, seinen Gruß zu erwidern. Als wenn auch hier wieder alles gebunden wäre[59] von der Sonne und der Ruhe, und nur noch die Insekten auf dem Wasserspiegel ewig wippten und tanzten.
Übrigens ließ auch eine der Dirnen jetzt ihr eines Bein eine Weile sich in die Luft stellen und dann neu nieder fallen unter den Weidenbusch. Sie lag auf dem Bauche. Die andre Dirne hatte noch in deren Schatten sich gestreckt und ihr den ungekämmten Haarschwall ganz über den Rücken geworfen. Einhart konnte ein kaltes Staunen gar nicht loswerden. Wie er vom Wasserrande, von wo er immer nur wieder zu ihnen hingesehen, endlich näher an den Weidenhang trat, sah ihn auch die Dirne mit blinzelnden Augen an, die sich nur einen feinen Spalt öffneten. Ein verächtliches Lachen ging durch der Jungen achtlose Züge. »Ob sie mich denn nicht erkennen?« dachte Einhart. »Freche Dirnen die, was soll das heißen?« dachte er. Aber Lisa und Franziska dachten nicht daran, daß ein Abend gewesen, wo sie im Tanze mit Einhart gekreischt hatten und im Wirbel hingeflogen. Dachten nicht daran, daß es einen neuen Abend gäbe, wenn die Sonne erst in die ferne Welt hinabsank, einen neuen Abend und neue oder einstige[60] Gefühle, als die der süßen Traumschwere und des glühenden, schwebenden, flimmernden, unentrinnbaren Junimittagssonnennichts unter schattenkühlen Weiden. »Pa–a–a–a,« sagte Franziska nur wie gehässig, als Einhart näher gekommen. Und Einhart sah nur immer, wie das nackte Bein, eins ums andre sich in die Luft hob und fiel in lässigem Takte, und hörte, wie wenn ein Lied in dem ganzen lumpenarmen, schlanken Leibe verächtlich hinsummte.
Er hatte ewig gestanden. Er hatte es um sich wie ein Gewebe von feinen Fäden allmählich, die ihn einwoben. Wie er so hinträumte, daß eine Spinne eine Fliege einfange, um sie zu töten. Er mußte jetzt lächelnd auch an den grausigen Laokoon denken, der daheim unter mancherlei Kleinkram irgendwo auf einem Schranke stand, und der ihm immer ein wenig mißfallen, weil er sich so laut und aufdringlich, so klagend nur im Kampfe mit den Schlangen gebärdet. So etwas kann man nicht mit Klage und Mundverziehen lösen, mußte er jetzt wieder flüchtig denken. Wie er sich einen Sprung weiter ebenfalls unter ein Weidengebüsch niederließ, weil die beiden Zigeunerdirnen die verächtlichen[61] Augen längst vollends geschlossen hatten, ohne ihn noch groß anzusehen, gingen die Schlangenbilder wieder nur in der sanften Gebundenheit unter.
Es waren wirklich schwüle Zwänge, langsam. Wie eine Fliege im Netz däuchte es neu. Das kam auch, weil seine blinzelnden Augen, die immer noch einmal sehnsüchtig über die grünen Grashalme hin nach den jungen Körpern und den wippenden Beinen sahen, über tausend blinke Fäden nun wirklich blickten, die auch im Blattwerk und unter den Ästen des Weidenbusches hingen und überall zitterten. Die rauhe, junge Stimme der einen Dirne sang und summte ohn Unterlaß verächtlich vor sich hin. Man hörte keine Worte, lange. Nur das dumpfe Gesumm. Ein Fisch schnalzte im Wasser. Einhart sah, daß am Ufer die Wellen sich in feinen Linien belebten. Ein großer Karpfen versuchte ein paarmal ins Licht zu springen. Und von unter Wasser her schienen die Rückenflossen in Phalanx geordnet und vorwärts ziehend sich in die Oberfläche des Spiegels sanft einzuritzen. Goldene Stäubchen und Flitter rieselten und rannen in seltsamen Kreisen und Garben unaufhörlich lautlos hin.[62] Die leiseste Bewegung gab ein ewiges Erzittern. Wer begreift das schweigende Lichtleben, der es geblendet so hinträumt. Es war nur Wonne und Frieden. Die trägen Dirnen lagen und schliefen. Immer klang nur die feine, schwermütige, rauhe Weise, die hinpsalmodierte. Worte waren es nicht. Einhart hatte die Augen geschlossen. Zuerst geblendet, dann im Einsinken. Aber er lauschte tief auf den Sinn. Er hörte jetzt noch feiner. Er lag gar nicht mehr er, nur eine müde, süße, schlaftrunkene, rauhe Weise. Auch die Flüsterlaute vom See waren ganz scharf hörbar geworden. Die Wellen schienen sich zuzulächeln. Die Fische begannen in Einharts Augen zu spielen und einen Zirkus zu machen im Sommerwasser. Der große Karpfen, der Akrobat, hatte eine Korona von Fischaugen um sich. Alle sahen ihm zu. Er war einfach viele Meter in die Luft gesprungen. Und wie sie alle, die Fische, mit ihren Leibern aneinander schnellten und schlugen und lachten wie von metallenen Becken! Und immer klang auch der rauhe, träge Sang, und immer fiel jetzt das nackte Bein nieder, eintönig genau, in die weichen Gräser. Auch die Worte formten sich jetzt:
[63]
Die Sonne blinkt.
Die Stille klingt.
Was geht's mich an?
Die Sonne blinkt,
und mein totes Herz
kaum träumen kann – –
kaum träumen kann.
Geh fort, du Tor!
Ein Bienlein zuckt.
Was Hab ich dir getan?
Die Sonne blinkt.
Mein Herz ist tot – oder schläft's?
Was geht's mich an?
Franziska hatte die Worte wirklich gesungen. Und Einhart war fest und immer fester eingeschlafen. Und er erwachte nicht. Erst am Abend hatte er ein lautes Geplätscher in seinem Traum gehört und wie ein freches Hohnlachen. Aber er hatte es lange nicht erklären können. Er hatte im Traume vor seinem Vater gestanden. Und sah, wie er die Augen endlich auftat, noch immer nicht die Welt, nur das Wasser im Abendglühlicht und den glühen Himmel. Aber dann erkannte er doch gleich, daß er allein war und der Plan völlig leer.
Buchempfehlung
Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.
112 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro