[233] Gunther tritt ein.
GUNTHER zu den Brüdern.
Wie stehts?
KRIEMHILD kniet vor ihm nieder.
Mein Herr, mein Bruder und mein König,
Ich bitte dich in Demut um Gehör.
GUNTHER.
Was soll das heißen?
KRIEMHILD.
Wenn du wirklich heut,
Wie man mir sagte, dich zum ersten Mal
Als Herrn erwiesen hast –
GUNTHER.
Zum ersten Mal!
KRIEMHILD.
Wenn du die Krone und den Purpur nicht
Zum bloßen Staat mehr trägst und Schwert und Szepter
Zum Spott –
GUNTHER.
Du redest scharf.
KRIEMHILD.
Das wollt ich nicht!
Doch wenns so ist, und wenn auf deine Krönung
Die Thronbesteigung endlich folgen soll –
GUNTHER.
Nimms immer an.
KRIEMHILD.
Dann ist ein großer Tag
Für die gekommen, welche schweres Unrecht
Erlitten haben, und als Königin
Von allen, welche Leid im Lande tragen,
Bin ich die erste, die vor dir erscheint
Und Klage über Hagen Tronje ruft.
GUNTHER stampft.
Noch immer fort!
KRIEMHILD erhebt sich langsam.
Der Rabe, der im Wald
Den öden Platz umflattert, wos geschah,
Hört nimmer auf, zu kreisen und zu krächzen,
Bis er den Rächer aus dem Schlaf geweckt.
Wenn er das Blut der Unschuld fließen sah,
So findet er die Ruh nicht eher wieder,
Bis das des Mörders auch geflossen ist.
Soll mich ein Tier beschämen, das nicht weiß,
Warum es schreit, und dennoch lieber hungert,
Als seine Pflicht versäumt? Mein Herr und König,[233]
Ich rufe Klage über Hagen Tronje,
Und Klage werd ich rufen bis zum Tod.
GUNTHER.
Das ist umsonst!
KRIEMHILD.
Entscheide nicht so rasch!
Wenn du denn auch mit deiner armen Schwester
Und ihrem Jammer schneller fertig wirst,
Wie sie in beßrer Zeit mit deiner Hand,
Als sie der wütge Hirsch dir aufgeschlitzt;
Wenn du dem Schmerz, der ruhig sagen kann:
Ist meinesgleichen irgend noch auf Erden,
So will ich lachen und mich selbst verspotten,
Und alle segnen, die ich sonst verflucht!
Wenn du ihm kalt den kleinsten Trost verweigerst
Und ihn von hinnen schreckst mit finstern Brauen:
Erwäg es doch und nimm dein Wort zurück.
Ich bins ja nicht allein, die Klage ruft,
Es ruft das ganze Land mit mir, das Kind
Braucht seinen ersten Odemzug dazu,
Der Greis den letzten, Bräutigam und Braut
Den köstlichsten, du wirst es schaudernd sehn,
Wenns dir gefällt, sie vor den Thron zu laden,
Daß jedes Alter, jeder Stand erscheint.
Denn, wie die brechend-schwere Donnerwolke,
Hängt diese Blutschuld über ihnen allen
Und dräut mit jedem Augenblicke mehr.
Die schwangern Weiber zittern, zu gebären,
Weil sie nicht wissen, ob kein Ungeheuer
In ihrem Mutterschoß heran gereift,
Und daß uns Sonn und Mond noch immer leuchten,
Gilt manchem schon als Wunder der Natur.
Wenn du dein königliches Amt versäumst,
So könnten sie zur Eigenhülfe greifen,
Wie's einst geschah, bevors noch Kön'ge gab,
Und wenn sich alle wild zusammenrotten,
So dürften sie, da du nun einmal fürchtest,
Noch fürchterlicher, als der Tronjer, sein!
GUNTHER.
Sie mögens tun.
KRIEMHILD.
Du sprichst, als zeigt ich dir[234]
Einen Rock mit trocknem Blut, als hättest du
Den Helden nie gesehn, in dessen Adern
Es kreiste, seine Stimme nie gehört,
Noch seiner Hände warmen Druck gefühlt.
Kann das denn sein? So färbe du, o Erde,
Dich überall, wie dich der grause Mord
Bei den Burgunden färbte! Tauche dich
In dunkles Rot! Wirfs ab, das grüne Kleid
Der Hoffnung und der Freude! Mahne alles,
Was lebt, an diese namenlose Tat,
Und bringe, da man mir die Sühne weigert,
Sie vor das ganze menschliche Geschlecht.
GUNTHER.
Genug! Ich kam in einer Absicht her,
Die Dank verdient.
Zu Ute.
Hast du mit ihr gesprochen?
Auf ein bejahendes Zeichen Utes.
Gut! Gut! – Ich will dich nicht um Antwort fragen,
Der Bote mag sie selbst entgegen nehmen,
Damit er sieht, daß du dich frei bestimmst.
Ich hoffe, du gestattest ihm Gehör,
Es ist der alte Markgraf Rüdeger,
Die Sitte will es, und er bittet drum.
KRIEMHILD.
Der Markgraf Rüdeger ist mir willkommen.
GUNTHER.
So send ich ihn.
Zu Ute und den Brüdern.
Laßt ihr sie auch allein!
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