Vorwort

[79] Von mehr, als einer Seite bin ich aufgefordert worden, dies mein zweites Drama mit einem einleitenden Vorwort zu begleiten. Ich kann mich nicht dazu entschließen, denn ich müßte zu weit ausholen, wenn ich auch nur darlegen wollte, in welcher tiefen Beziehung dasselbe zu meiner individuellen Lebens-Entwickelung steht. Einen Fingerzeig glaube ich mir jedoch erlauben zu dürfen.

Wer die Idee des Stückes aufgefaßt hat, dem wird nicht entgehen, daß hier eine Handlung dargestellt wurde, die vieler Träger bedurfte, weil sie zwischen Tat und Begebenheit in der Mitte schwebt und schweben muß; ihn wird daher die schärfere Entfaltung der Nebencharaktere, wozu indes die alte Margaretha keineswegs gehört, überhaupt der architektonische Zuschnitt des Ganzen, nicht befremden. Noch weniger wird er fragen: was soll der Jude? was soll Fatime? oder gar: was soll der Tolle? Daß Golos Selbstverstümmelung am Schluß, dies einfache Ergebnis seines Charakters und der ungeheuren Situation, so wenig den tragischen Donner verstärken, als der poetischen Gerechtigkeit genug tun soll, versteht sich wohl von selbst.

Übrigens ist ein jedes Drama nur so weit lebendig, als es der Zeit, in der es entspringt, d.h. ihren höchsten und wahrsten Interessen, zum Ausdruck dient, und auch ich hoffe, trotz der aus dem Mythen- und Sagenkreise entlehnten Stoffe, in meiner Genoveva, wie in meiner Judith, der Zeit, wie ich sie in Bedürfnis, Richtung und Bewegung auffasse, ein künstlerisches Opfer dargebracht zu haben.


Hamburg, den 7. Oktober 1842.


Friedrich Hebbel


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 1, München 1963, S. 79.
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