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Ich saß zu Neapel im Herbst des Jahres 1845 eines Abends in dem Café di Europa. Dieses Café, am Toledo gelegen und die Aussicht auf die Piazza reale darbietend, bildet den Sammelplatz der feinen Welt und namentlich der ab- und zuströmenden Fremden. Schon darum hat es aber auch eine magische Anziehungskraft für das Proletariat; zu Dutzenden lugen die Lazzaroni mit ihren gierigen, hungerbleichen Gesichtern durch die blinkenden Fensterscheiben hinein, um zu sehen, wie der Glückliche drinnen genießt, und sicher haben sie dort einen guten Teil des unversöhnlichen Hasses eingesogen, den sie brauchten, um später so ingrimmig-kaltblütig morden und würgen zu können. Nirgends tritt die Kluft, die zwischen den besitzenden und den nichtbesitzenden Klassen der Gesellschaft besteht, so schneidend scharf hervor, wie an diesem Ort, selbst in Paris nicht; denn ins Palais royal wagt das Elend sich erst hinein, nachdem es sich mit Flittern behängt hat, und dann täuscht es sich über sich selbst und fängt zu lächeln an; hier aber steht es in nackter Blöße da. Ich brachte nie im Cafe di Europa eine Stunde zu, ohne mir die Zukunft, die sich aus einer so zerklüfteten Gegenwart früher oder später mit Notwendigkeit entwickeln mußte, auszumalen; auch mogten wenige imstande sein, die ungeheuern, wenn auch unbestimmten Bilder, die sich der Phantasie dort gewaltsam aufdrängten, so leicht, wie lästige Fliegen, zu verscheuchen. An dem Abend, von dem ich rede, setzte sich ein sizilianischer Kaufmann zu mir, der eben aus Palermo zurückgekommen und von einem entsetzlichen Vorfall, der sich dort kürzlich ereignet hatte, noch ganz voll war. Ein Mädchen flieht aus dem Hause ihres Vaters, um sich durch einen schon gewonnenen Geistlichen mit ihrem Geliebten verbinden zu lassen und so einer Zwangsehe zu entgehen. Sie erscheint zu früh auf dem für die Zusammenkunft bestimmten Platz und fällt zwei Gensdarmen in die Hände, die ihr erst den mitgenommenen Schmuck rauben und sie dann ermorden. Als der Geliebte nun kommt, werfen sie sich über ihn her, bestreichen[387] ihn mit Blut, schleppen ihn vor den Podesta und klagen ihn der Mordtat an. Natürlich finden sie Glauben, und was am Beweise fehlt, das ersetzt ihr Schwur. Aber ein Bauer, der sich vor ihnen mit gestohlenen Früchten auf einen Baum geflüchtet und alles mit angesehen hat, ist ihnen gefolgt und entlarvt sie. Ich fand diesen Vorfall so symbolisch, er schien mir die sittlichen und selbst die politischen Zustände des Landes und Volks so grauenhaft treu widerzuspiegeln und meine durch Forschen und Beobachten längst erworbenen Anschauungen so schrecklich zu bestätigen, daß er mir augenblicklich, wie er mir erzählt wurde, mit allen handelnden und leidenden Personen zum dramatischen Bilde zusammenrann. Aber allerdings gab es keine Form dafür, wie die der Tragikomödie, in deren Wesen es durchaus nicht liegt, daß sie zur Parodie verflacht werden muß, was freilich meistens geschieht. Wenn sich die Diener der Gerechtigkeit in Mörder verwandeln und der Verbrecher, der sich zitternd vor ihnen verkroch, ihr Ankläger wird, so ist das ebenso furchtbar als barock, aber auch ebenso barock als furchtbar. Man mögte vor Grausen erstarren, doch die Lachmuskeln zucken zugleich; man mögte sich durch ein Gelächter von dem ganzen unheimlichen Eindruck befreien, doch ein Frösteln beschleicht uns wieder, ehe uns das gelingt. Nun verträgt sich die Komödie nicht mit Wunden und Blut, und die Tragödie kann das Barocke nicht in sich aufnehmen. Da stellt sich die Tragikomödie ein, denn eine solche ergibt sich überall, wo ein tragisches Geschick in untragischer Form auftritt, wo auf der einen Seite wohl der kämpfende und untergehende Mensch, auf der anderen jedoch nicht die berechtigte sittliche Macht, sondern ein Sumpf von faulen Verhältnissen vorhanden ist, der Tausende von Opfern hinunterwürgt, ohne ein einziges zu verdienen. Ich fürchte sehr, manche Prozesse der Gegenwart können, so wichtig sie sind, nur noch in dieser Form dramatisch vorgeführt werden. Tragisch zu sein, hörten selbst die bedeutendsten auf, seit die Überzeugung der einen Partei nicht mehr mit der Überzeugung der anderen, sondern nur noch mit ihren Interessen zu kämpfen hat. Aber die Träger und Verfechter dieser Interessen, wie nichtig und erbärmlich sie auch, als Persönlichkeiten betrachtet, seien, sind der Komödie desungeachtet noch nicht verfallen, denn es gehen fürchterliche Wirkungen von ihnen[388] aus. Da bleibt dem Künstler, der sich nicht begnügen will, die Rosen und Lilien auf dem Felde zu malen, nichts übrig, als zu der Form der Tragikomödie zu greifen. Daß diese Form keine reine ist, wird er darum nicht vergessen.
So entstand das »Trauerspiel in Sizilien«. Wenn ich Ihnen, hochverehrter Freund, das Werk jetzt zuschreibe, so geschieht es natürlich vor allem, um Ihnen einen öffentlichen Beweis meiner unveränderlichen Hochachtung zu geben. Ich hoffe aber auch, daß es Ihnen vielleicht Gelegenheit bietet, die Theorie der Gattung, der es angehört, festzustellen und die Wissenschaft der Kunst mit einer neuen Abhandlung zu bereichern. Als es vor einigen Jahren in der Novellenzeitung zum ersten Mal erschien, wurde es, vermutlich des Titels wegen, fast überall für eine Tragödie genommen, obgleich jeder Vers, vom ersten bis zum letzten, in Ton und Färbung widersprach, und nun höchst seltsam beurteilt. Das beweist, daß es hier für den Kunstphilosophen etwas zu tun gibt.
Friedrich Hebbel[389]