Friedrich Hebbel

Das deutsche Theater

Wer über das deutsche Theater ein ernstes Wort zu sprechen unternimmt, der kommt den meisten so vor, als ob er über eine Kinderklapper philosophische Betrachtungen anstellen oder, wie Swift, über einen Besenstiel predigen wolle. Die Zeiten sind vorüber, wo man mit Schiller übereinstimmte, wenn er in jugendlichem Enthusiasmus die Schaubühne für eine moralische Bildungsanstalt erklärte, und den Histrio, nachdem man ihm lange genug den Zutritt in anständige Gesellschaft verweigert, ja das ehrliche Grab auf dem Kirchhof bestritten hatte, als den Hohenpriester der Humanität zu ehren anfing, von dem man die ästhetische Läuterung der Menschheit erwartete, da die ethische, trotz Mosen und den Propheten, mißglückt war. Auch die Zeiten sind vorüber, wo das Theater, wenn man ihm auch nicht mehr einen erhöhten Mittelplatz zwischen Kanzel und Katheder anwies, doch noch für die illuminierte Uhr gehalten wurde, auf die man nur zu schauen brauchte, um genau zu erfahren, wie es mit der dramatischen National-Produktion stand, und wo man es besuchte, um sich an dem geistigen Ringkampf der hervorragendsten Dichterkräfte zu erfreuen. Ja sogar die Zeiten sind vorüber, wo das Theater doch wenigstens noch für die beste Unterhaltung galt, und wo ein neues Stück ein Stadt- und ein Familien-Ereignis war, dem man mit Spannung entgegensah und das man mit Behagen genoß oder mit Resignation hinnahm. Keiner sucht in den Hallen noch Bildung, wo, so stolz sie auch dastehen und so prahlerisch die Inschriften auch lauten mögen, die Bilder sinn- und planloser durcheinanderfliegen, wie die Karten, mit denen die Kinder spielen; jedermann weiß, daß der Dichter überall eher anzutreffen ist, als auf den Brettern, die bloß seinetwegen zusammengezimmert sein sollen, und das muß ein ganz verlorener Abend sein, den jemand noch ans Theater wendet, wenn ihn anders nicht ein Virtuos oder ein sonstiger Nebenreiz hineinlockt.[689]

Daß es so steht, ist gewiß. In Berlin gehen, wie die Zeitungen melden, die Klassiker nur dann noch etwas häufiger in Szene, wenn die Tantièmen-Summe für die Novitäten zu hoch aufläuft, d.h. wenn sie etwa den hundertsten Teil dessen zu betragen droht, was für Toiletten und Dekorationen mit Vergnügen und im Gefühl unabweislicher Notwendigkeit verausgabt wird. Und in Wien werden Ausstattungsstücke gegeben, über welche die allerdevotesten Tagesblätter mutig genug sind zu bemerken, daß die Direktion, wenn sie eine Modenausstellung veranstalte, doch auch die Kleiderkünstler zur Beurteilung einladen möge, statt der Ästhetiker. Berlin und Wien bilden aber in ihrer reichen Dotierung die Pole des deutschen Theaterlebens; München und Dresden entscheiden nicht, selbst wenn sie sich einmal zu einem selbständigen Schritt versucht fühlen, und Weimar, Stuttgart usw. können nur experimentieren. Daraus folgt denn, daß eine Kontrolle, die nicht darauf ausgeht, die sämtlichen Schnupfenfieber und Heiserkeiten der Schauspieler zu Buch zu bringen, um allenfalls Schlüsse über die klimatischen Verschiedenheiten der deutschen Länder daraus abzuleiten, sich auf Wien und Berlin beschränken darf und dennoch genau erfährt, wie es bei uns mit dem Musendienst steht. Darnach also wollen wir uns verhalten, die ganze Angelegenheit aber einer sehr ernsten und unausgesetzten Aufmerksamkeit unterziehen.

Denn es ist ein ebenso wunderlicher, als gewöhnlicher und weit verbreiteter Irrtum, daß derjenige, der das deutsche Theater für schlecht erklärt, sich auch nicht mit demselben befassen dürfe. Im Gegenteil, das Theater ist zu allen Zeiten, namentlich aber in der unsrigen, ein so wichtiges Institut, daß man es mit allen Mitteln wieder zu heben suchen muß, wenn es tief gesunken ist. Mag man über die ästhetische Erziehung des Menschen denken, wie man will, so viel ist gewiß, daß das Moment der Erhebung, dessen wir so nötig bedürfen, wie der Selbstvergessenheit, die der Schlaf gewährt, uns in unserer Zeit nur noch durch die Kunst kommen kann. Die Religion bietet es nicht mehr dar, und der Patriotismus bietet es noch nicht dar; die Kirche, an der einst auch ein Zweifler, wie Faust, nur zitternd und zähneklappernd vorbeischlich, wenn Orgelton und Glockenklang zum Eintritt luden, vereinigt die verschiedenen Stände des Volks nicht[690] mehr in ihrem Schoß, und der Staat ruft sie noch nicht zusammen. Dies ist eine Tatsache, die man beklagen oder preisen, die man aber sicher nicht in Abrede stellen kann. Wir erinnern bloß an sie und lassen es ununtersucht, ob die Kirche durch Zwangsmaßregeln, wie es in evangelischen Ländern z.B. die gebotenen Sonntagsfeiern sind, die ungeheure Kluft, die sich zwischen Glauben und Wissen aufgetan hat, wieder ausfüllen wird, und ob der Staat wohl tut, wenn er auf die Begeisterung seiner Bürger Verzicht leistet, um ihrem Vorwitz zu entgehen; sie beweist aufs unwidersprechlichste, daß das höchste Bedürfnis des Menschen nur noch in der Kunst seine Befriedigung findet, ja, daß Staat und Kirche selbst erst in ihr zur Verklärung gelangen, da nur sie in beiden das von allen Parteizerklüftungen und konfessionellen Streitigkeiten unberührbare Ideal erfaßt. Die Spitze der Kunst aber ist das Drama, und das Drama kommt freilich nicht erst durch das Theater zur Entfaltung, wie man gern behauptet, obgleich scholl Aristoteles das Gegenteil sagt, wohl aber nur mittelst desselben zur ganzen und vollen Wirkung. Es kann daher nie gleichgültig sein, wie es beschaffen ist, denn wenn es, wie in unseren Tagen, Charakter und Würde bis auf den Grad einbüßt, daß die Bildung sich mit Ekel und Widerwillen von ihm abwenden muß, so ist eben auch der letzte Tempel zertrümmert worden, in dem man sich noch in schöner Gemeinschaft zusammenfand, um das zu verehren, was »die Welt im Innersten zusammenhält«, und man hat nur noch die Wahl zwischen dem trivialen Spaß, dem denn auch so viele nachrennen, und der tiefsten Einsamkeit.

Wir sind, um einen Ausdruck von dem alten Tieck zu entlehnen, endlich ganz unten im Keller, wo die Ratten hausen, die faulen Dünste ziehen und das schmutzige Wasser sickert, an der Hand unserer Musageten angelangt und müssen nach dem allgemeinen Naturgesetz, das den Stillstand ausschließt, wieder hinauf. Dies wird selbst von der Seite zugegeben, die es gewiß bis zum letzten Augenblick verhehlt und verheimlicht hat. Die Theaterdirektoren haben in Dresden getagt und die Unhaltbarkeit des jetzigen Zustandes offen vor ganz Deutschland bekannt. Nur ist es ihnen dabei gegangen, wie es in der Beichte öfter gehen soll. Sie haben sich länger bei den fremden, als bei den eignen Sünden aufgehalten,[691] sie haben uns erstaunlich viel von den Umtrieben der Theateragenten erzählt, aber sehr wenig von dem eigenen Schlendrian, durch den diese allein möglich wurden, und sie schrieen doch in Wahrheit nur über das Schwert, das sie sich selbst in die Brust gestoßen hatten. Nichtsdestoweniger trafen sie den rechten Punkt, denn gerade diese Unterhändler mit ihren schmutzigen Winkelblättern sind schuld daran, daß die Kluft zwischen dem Dichter, der sie verachtete und verschmähte, und den Bühnenvorständen, die ihrer nicht entbehren zu können glaubten, allmählig so groß geworden ist. Die Faiseure, die Rollen schreibenden Schauspieler sowohl, wie die »bearbeitenden« Übersetzer und die vom Roman und der Reisenovelle zum Theaterstück herüberspringenden Literaten, erkannten sie willig als Patrone an, und nun war das Kind des Hauses bald verdrängt, um dem Bastard Platz zu machen. Denn nicht allein, daß die plattesten Machwerke den poetischen Produktionen den Zutritt versperrten, das Publikum verlor auch die Empfänglichkeit für sie, und wenn sie sich einmal bis zu den Lampen hindurcharbeiteten, so wurden sie angestarrt, wie der steinerne Gast, der auf der Maskerade erscheint, und dienten nur dazu, den Triumph der Gemeinheit zu erhöhen und in gewisser Art als einen wohlberechtigten zu bestätigen. Man braucht die Kirche nur in einen Ballsaal zu verwandeln, so will jedermann auch auf der Kanzel statt des Predigers den Spielmann sehen, und man braucht nur funfzig Mal die »Grille« zu geben, um sicher zu sein, daß der »Prinz von Homburg« nicht gefällt, wenn man ihn folgen läßt. Sobald das ideale Drama aber auf dem Theater keinen Boden mehr findet, hat dieses auch aufgehört zu existieren, und es ist ganz einerlei, ob der Hund des Aubry, dem Goethe einst weichen mußte, seine Künste darauf treibt, oder ob die Menschen-Daguerrotypie in Schröders oder Ifflands Sinn darauf gepflegt wird. Man traf in Dresden daher allerdings den rechten Punkt; ob man sich aber auch über die rechten Mittel verständigt hat und ob man diese energisch zur Anwendung bringt, werden wir sehen, wem wir zur Prüfung der beiden großen Theater übergehen, die wir, indem wir zunächst einen kurzen historischen Überblick des letzten Dezenniums voranschicken, auf Schritt und Tritt zu begleiten gedenken. Wir zweifeln stark daran, denn wir werden[692] nichts von einer Hebung und Läuterung des Repertoirs gewahr, von der man doch ausgehn müßte, wir sind auch weit davon entfernt, uns der Hoffnung zu ergeben, daß unsere Bemühungen viel zur Verbesserung des miserablen Zustandes im ganzen beitragen werden, aber wir glauben doch zur Abstellung manches Detailunfuges, der in der Stille betrieben wird, durch schonungslose Aufdeckung desselben das Unsrige tun zu können, und wir wollen, nun wir nachgewiesen haben, daß die Bühne zuweilen zwar sehr schlecht, aber nie gleichgültig ist, nicht ermüden, an das zu mahnen, was der Nation früher oder später wieder zu einer verhelfen kann.[693]

Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 3, München 1963, S. 689-694.
Erstdruck in: Stimmen der Zeit. Monatsschrift für Politik und Literatur, 1859 (anonym).
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon