Caput I

[435] Im traurigen Monat November war's,

Die Tage wurden trüber,

Der Wind riß von den Bäumen das Laub,

Da reist ich nach Deutschland hinüber.


Und als ich an die Grenze kam,

Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen

In meiner Brust, ich glaube sogar

Die Augen begunnen zu tropfen.


Und als ich die deutsche Sprache vernahm,

Da ward mir seltsam zumute;

Ich meinte nicht anders, als ob das Herz

Recht angenehm verblute.


Ein kleines Harfenmädchen sang.

Sie sang mit wahrem Gefühle

Und falscher Stimme, doch ward ich sehr

Gerühret von ihrem Spiele.


Sie sang von Liebe und Liebesgram,

Aufopfrung und Wiederfinden

Dort oben, in jener besseren Welt,

Wo alle Leiden schwinden.


Sie sang vom irdischen Jammertal,

Von Freuden, die bald zerronnen,

Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt

Verklärt in ew'gen Wonnen.
[435]

Sie sang das alte Entsagungslied,

Das Eiapopeia vom Himmel,

Womit man einlullt, wenn es greint,

Das Volk, den großen Lümmel.


Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,

Ich kenn auch die Herren Verfasser;

Ich weiß, sie tranken heimlich Wein

Und predigten öffentlich Wasser.


Ein neues Lied, ein besseres Lied,

O Freunde, will ich euch dichten!

Wir wollen hier auf Erden schon

Das Himmelreich errichten.


Wir wollen auf Erden glücklich sein,

Und wollen nicht mehr darben;

Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,

Was fleißige Hände erwarben.


Es wächst hienieden Brot genug

Für alle Menschenkinder,

Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,

Und Zuckererbsen nicht minder.


Ja, Zuckererbsen für jedermann,

Sobald die Schoten platzen!

Den Himmel überlassen wir

Den Engeln und den Spatzen.


Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,

So wollen wir euch besuchen

Dort oben, und wir, wir essen mit euch

Die seligsten Torten und Kuchen.
[436]

Ein neues Lied, ein besseres Lied!

Es klingt wie Flöten und Geigen!

Das Miserere ist vorbei,

Die Sterbeglocken schweigen.


Die Jungfer Europa ist verlobt

Mit dem schönen Geniusse

Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,

Sie schwelgen im ersten Kusse.


Und fehlt der Pfaffensegen dabei,

Die Ehe wird gültig nicht minder –

Es lebe Bräutigam und Braut,

Und ihre zukünftigen Kinder!


Ein Hochzeitkarmen ist mein Lied,

Das bessere, das neue!

In meiner Seele gehen auf

Die Sterne der höchsten Weihe –


Begeisterte Sterne, sie lodern wild,

Zerfließen in Flammenbächen –

Ich fühle mich wunderbar erstarkt,

Ich könnte Eichen zerbrechen!


Seit ich auf deutsche Erde trat,

Durchströmen mich Zaubersäfte –

Der Riese hat wieder die Mutter berührt,

Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 435-437.
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